Abschnitt 1

V. Unten durch.


„Was soll ich Dir von den großen Fällen erzählen,“ fuhr Onkel Oschen fort, nachdem er in einer wohl abgemessenen Kunstpause die Stimmung schön hatte ausklingen lassen. „Du wirst doch natürlich schon Abbildungen davon jesehen haben und wahrscheinlich auch Beschreibungen jelesen. Da jehört die schwungvolle Feder eines richtigen Dichters dazu, um von diesem grandiosen Naturschauspiel auch nur ’n annähernden Bejriff zu jeben. So’n einfacher Berichterstatter als wie ich, der mit zwei normale Augen im Koppe sich die Sache ansieht und denn einfach de schlichte Wahrheit darüber erzählt, der kommt da nich mit.


Ich habe übrigens die dollsten Anstrengungen gemacht, um die Fälle von neuen, orijinellen Standpunkten aus wenigstens zu photojraphieren. So bin ich z. B. mal auf einer riesigen Tanne, die umjestürzt schon seit Jahren jerade über den jroßen Fall rüberhängt, unjefähr dreißig, vierzig Fuß vom Ufer weg jeritten und habe denn auf dem Bauche liejend und den Stamm mit de Beene umklammernd aus der Vogelperspektive den Strudel abjeknipst. Der Moment wird mir unverjeßlich bleiben. So sechzig, achtzig Fuß tief unter mir der mächtig tosende Wurschtkessel, der himmelhoch spritzende Jischt, des wahnsinnige Zischen und Donnern - und ich mit meinem Kodak da oben drüber wie so ‘ne Padde auf der Wippe. Kannste Dir des vorstellen? - Und denk mal bloß, in den Verzweigungen des Wipfels dieser Tanne soll en Jahr vorher so’n verrückter Engländer sich ‘ne Bretterbude haben bauen lassen, von der aus er Studien malte.“

„Na, hör mal, das ist doch gewiß Schwindel.“

„Im Jejenteil,“ versicherte Onkel Oschen eifrig: „Ich kann Dir zum Beweise der Wahrheit noch meine Hose zeijen, die ich damals anhatte. Aus’m Rückweg blieb ich nämlich an nem Nagel hängen, der mir den janzen Spiejel aufriß. Wie soll wohl en Nagel in die Tanne jekommen sein, wenn keen Engländer keene Bretternbude drauf hätte aufrichten lassen? - Na also. - Im übrigen haste recht; den Schwindel kann man lernen da oben rum um die Jejend. Ich bin so wie so en bißchen anfällig. Auf der Suspensionbridge, die das kanadische und das Staatenufer verbindet, wurde mir schon janz schwummrich - aber nu erst unten - ei weih ! Natürlich hatte ich jleich am ersten Tage unseres Aufenthaltes die berühmte Partie unter den Fällen durch zu machen beschlossen. Mutterchen hatte ich rücksichtsvollerweise erst jar nich angefordert. Schon die Vorbereitungen waren mir ekelhaft. Man muß in ein besonderes Kautschukkostüm reinkriechen und denn wird einem ‘ne Schlinge um’n Hals und eine um’n Bauch jeworfen und so treibt einen der Führer vor sich her, wie so’n Stücke Vieh, des zur Schlachtbank jeführt wird. Wie mir aber des eiskalte Wasser so zwei-, dreimal übern Kopp klatschte und mich jejen de Feldwand schmiß, daß mir der Schädel brummte, da hatte ich jenug - ließ meinen Dollar schießen, den das Billet jekostet hatte und kehrte um zu Muttern. Die war ja doch bloß froh, daß se mich lebendig wieder hatte. „Sei nich so jeknickt, mein Oschen,“ sagte se; „Vorsicht is doch keine Schande. Kriegste denn davor bezahlt, daß de en Held bist?“ - Na also, ich meine, des war ja ooch der richtige Standpunkt.

Innerlich kränkte es mich aber doch; besonders wenn de Leute an der Table d’hote von der Höhle der Winde und all den jroßartigen,. schauerlich schönen Einzelheiten der Tour erzählten. Und wie nu vollends am dritten Tage en alter achtzigjähriger Prediger und seine zirka siebzigjährige Frau erzählten, daß je unten durch jejangen wären und daß es sowas Jroßartiges überhaupt in der janzen Welt nich wieder jäbe, da fühlte ich mich in meinem Ehrjeiz doch dermaßen jekränkt, daß ich zu Muttern sage; Mutter, wir sollten uns doch was schämen ! Heb mal zwee Finger hoch und schwöre mit mir jemeinsam, daß wir die Niagarafälle nicht verlassen wollen, ohne unten durch jegangen zu sein. Wir können uns doch weiß Jott in Berlin nich wieder sehen lassen, wenn wir die Kiste nich jedeichselt haben.

Also richtig. Mutterchen hebt janz artig zwee Finger hoch - ich ooch - und nu war’s jeschworen. Ein Mann, ein Weib, zwee Finger und ein Wort. Um vieren den andern Nachmittag hatten wir de Abreise festjesetzt. Bis um halb dreien beschäftigte ich mich mit der Beobachtung des Himmels und des Barometers. Es war nämlich ein niederträchtiges Unwetter, Sturm und kalter Regen. Um halb dreien klärt es sich en bißchen auf. De Zeit war man äußerst knapp, aber wenn wir uns beeilten, konnten wir’s jrade noch schaffen. - Mutterchen war natürlich viel ruhiger wie ich; sie hatte ja keine Ahnung von der Jefahr. Andererseits beruhigte mich wieder Mutterchens Jejenwart einigermaßen. Wir lösen also unsere Karlen, bezahlen unsere zwei Dollar, werden in die Ankleidekammern jeführt, kriegen den vorschriftsmäßigen Jummianzug und de Filzpantinen an - und nu ziehen wir los. Die Filzpantinen sind übrigens ‘ne jroßartige Erfindung und des wichtigste bei der janzen Sache. Die müssen jut nochmal so lang sein wie der Fuß, vorn an de Zehen klappen se beim Jehen um, was natürlich zunächst einigermaßen hinderlich is; aber wenn man runter kommt, merkt man bald wozu des jut is. Man würde sich nämlich ans den jlatten und nassen Felsen nich halten können, wenn nich de Filzklappen wie de Blutegel sich dran festsaugten. Natürlich is da von Laufen keine Rede; des jeht janz langsam; Schritt vor Schritt muß man sich erst ‘ne jewisse Technik aneignen, um de Filzlatschen beim Fußausheben wieder los zu kriegen. Wenn man des einigermaßen unjeschickt anstellt, kann’s einem passieren, daß man uff so’n jlatten Felsen kleben bleibt wie anjeleimt.

Ich mußte an de Rettungshose in Newyork denken wie ich Mutterchen aus der Ankleidekammer kommen sah. Des war auch so’n Hosenanzug, allens in eins, auf’m Rücken zujeknöppt; der jlänzende schwarze Kautschuk machte sich bloß elejanter wie des kaffeebraune Sejeltuch. - Mutterchen, Du siehst aus wie’n polierter Schornsteinfeger, sage ich. Und sie erwidert janz verjniejt; „Na, Du bist auch bildschön, Oschen. Ich hab mal en ausjestoppten Walfisch jesehen, der war janz ähnlich. - Nu ließ sich das jute Mutterchen janz ruhig de Schlinge umlegen und denn kriegte ich ooch meine Schlinge um. Ich mußte zur Sicherheit das Seil, an dem Mutter jing, mit anfassen und der Führer hinter uns hielt alle beide Enden in der Hand. - Na und nu mit Jott!

„Hör’n Se mal,“ sage ich zu dem Führer, wie wir de Treppe runtersteigen: „um viere jeht unser Zug, richten Se sich danach. Außerdem muß ich Ihnen bemerken, daß ich zum Schwindel neige, also jeben Se jut acht auf mich. Meine Schwiegermutter halte ich an der Strippe, für die is jesorgt.“ Ob der Kerl mich verstanden hat, weiß ich nich, ‘ne Antwort hab ich wenigstens nich jehört, denn der Spektakel von der Nähe des donnernden Wasserfalls war schon hier auf der Treppe doll jenug.

Wie wir nu unten ankamen, da jings wieder los, jrade wie neulich, - bloß nochmal so doll! Mutter fliegt an de Wand, - ich fliege an de Wand, - Mutter macht kehrt; will in meine Arme fliehen - ich winke energisch ab - brülle; vorwärts! Wie so’n Divisionskommandeur zu Pferde. Der Wind blies von hinten. Es war also auch kaum ‘ne Möglichkeit dajejen anzukommen. Also vorwärts, vorwärts in Jottes Namen! Von Muttern konnte ich bald nischt mehr sehen, denn alle Augenblick klatschte einem das Wasser ins Jesicht, daß man überhaupt nich wußte, wo man war und sich bloß blindlings am Jeländer weitertappen konnte. - Nu möchte ich bloß wissen, dachte ich bei mir, wie der olle achtzigjährige Quatschkopp des angefangen hat, hier die jroßartigsten Schönheiten der Welt zu sehen. Wenn ich in Berlin von der Potsdamer Brücke in den Kanal springe und unter Wasser de Augen aufreiße, denn is et jrade so schön. Ach du jrundjütiger Himmel, wenn ich doch man bloß erst wieder in Berlin am Stammtisch sitze - den Brüdern wer ich was erzählen! Aber noch mal hier runter - nich für ‘ne Villa in de Tierjartenstraße.

Inzwischen war’n wir nu an ne Stelle jekommen, wo des Jeländer aufhörte, und en Strudel, unjefähr een Meter breit, weiß wie steife Schlachsahne, zwängt sich zwischen den Felsen durch. Auf de andre Seite ne jlatte Steinplatte - und drüben jings wieder bergan. - Wie komm’n wir denn da rüber? Ich wollte mich an den Führer um Auskunft wenden, aber ich jetraute mich nich, mich umzusehen aus Furcht, der Sturm könnte mich zu fassen kriegen und hinterrücks in den Strudel schmeißen. Hier en Fehltritt und adje Welt! - natürlich war ich bei dieser Stelle wieder mit Mütterchen zusammenjekommen. Ich klammre mich mit einer Hand ans Jeländer, mit der andern saß ich Muttern um de Schulter und brülle ihr ins Ohr so doll ich kann; Spring, Mutterchen! Es hilft nischt; entweder oder!

Breit war ja der Spalt nich, da müßte ich lüjen. In der Stube oder mitten auf ner sanften Wiese hätte auch ne weniger rüstige Frau wie meine jute Schwiegermutter da noch rüberhoppen können; .aber hier bei dem Orkan, die senkrechte Felswand links und den zischenden Tod rechts - da war des doch ne brenzliche Sache! - Mutter mußte mich verstanden haben. Se verdrehte de Augen jen Himmel und denn nahm se ‘n kleenen Anlauf. - Aber nee, se hatte keene Traute. - Ich überlegte, ob ich vielleicht lieber erst springen sollte; aber des jing ja nich, weil ich se am Seile hielt. So, wenn se vorsprang, konnte ich se allenfalls wieder rausziehen, wenn die Sache schief jing. Ich brülle also noch mal: Spring, Mutter - eins, zwei, drei hopp! Kost ja nischt. - Und richtig, se wiegt sich in den Knien, ein-, zwei-, dreimal und denn . . . nee, des verjeß ich in meinem Leben nich und wenn ich hundert Jahre alt werde.“

„Na, was war denn, sag doch bloß!“ rief ich aufs äußerste gespannt; „natürlich ist sie reingefallen.“