Fünfte Fortsetzung

Obgleich wir durch unsere Exkursion einen Tag versäumt hatten, und auf den Kurierzug des nächsten Morgens uns angewiesen sahen, durften wir es nicht bedauern, weil damit auch Zeit gewonnen war, die riesige Gitterbrücke über die Weichsel, welche das bei hohem Wasserstande über 700 Meter breite Flussbett auf sechs Bogen überspannt, zu besichtigen. Vor deren Erbauung soll die Übersetzung mittelst Booten bei starkem Eisgang oft mehrere Tage unmöglich gewesen sein, und jeder Verkehr auf der belebten Route nach Königsberg und der russischen Grenze, im Winter und Frühjahr häufigen Störungen unterlegen haben.

Wie von Dirschau ab die Eisenbahnfahrt in den Gitterbrücken über Weichsel und Nogat zwei moderne Bauwerke uns vorführt, welche mit Recht als Triumphe der Wissenschaft über die rohe Gewalt der Natur betrachtet werden können, so bringt die erste halbe Stunde uns bald darauf ein architektonisches Meisterwerk des Mittelalters vor Augen, wie eines zu bewundern nur selten Gelegenheit gegeben ist. Leider hält unser Zug nur wenige Minuten im Vorhofe der Marienburg, des berühmten Schlosses des ehemaligen Deutschherrn Ordens, dessen imposante nördliche Fronte dem Stationsgebäude gegenüber sich erhebt.


Die oben bei der Marienkirche Danzigs erwähnte Autorität stellt in ihrer Kunstgeschichte den wundervollen Bau dieser Residenz, Kloster und Festung in sich verschmelzenden Ritterburg mit folgenden Worten an den ihm zukommenden Platz:

„Den höchsten Triumph feiert die Architektur der Profanbauten gotischer Epoche in dem großartigen Hauptschlosse des deutschen Ordens, der stolzen Marienburg, die in ihrem Mittelschloss die Hofmeister-Wohnung mit ihrem prachtvollen Remter, den schönen Ordensremter und andere vielfach gestaltete Anlagen zu einem ebenso großartigen wie „künstlerisch vollendeten Ganzen verbindet."

Die aufmerksame Besichtigung der einzelnen Räume, an welche sich eine reiche Geschichte von genau sechs Jahrhunderten knüpft — der Bau wurde 1274 begonnen — würde einen halben Tag mindestens in Anspruch nehmen. Der Passagier des Courierzuges muss sich mit einem flüchtigen Anblicke von Außen begnügen, wie es auf weiteren Reisen zum Öfteren unvermeidlich ist.

Die Bahn nähert sich nun mehr und mehr der baltischen See, sofern man geneigt ist, die über der fruchtbaren Marienburger und Elbinger Niederung herüberblickende graue Linie, den Wasserspiegel des Frischen Haffs, als solche zu nehmen.

Königsberg, Preußens zweite Hauptstadt, an Einwohnerzahl jedoch von Breslau weit überflügelt, liegt bald vor, nach kurzer Zeit auch schon hinter uns, und mit Sturmeseile saust der Courierzug durch die. wohlbestellten Fluren Ostpreußens dahin.

Als in der Nähe Trakehnens, dem berühmtesten Gestüte der preußischen Monarchie, und dem Mekka des deutschen Pferdezüchters und Pferdefreundes, über den Stand der Feldfrüchte und der üppig grünen Fluren und Weiden im Coupé sich eine Unterhaltung entspann, erwiderte ein mir gegenüber sitzender, anscheinend großer Gutsbesitzer aus Ostpreußen etwa wie folgt: „Sie wundern sich, mein geehrter Herr aus dem Süden, dass in dem Lande der Hungersnot, wie man sich zweifelsohne unsere Provinz in Ihrer Heimat vorstellt, doch mehr wächst, als Sie sich erwarteten. Nun, wir gestehen Ihnen gerne und offen, dass es damals nicht gar so arg war, und eine mögliche Not und Mangel an Sommergetreide von Seite unserer fürsorgenden Provinzial-Regierung wohl etwas zu ängstlich in das Auge gefasst worden. Wenn wir auch wahrscheinlich die schwere Zeit ohne die auswärtige Unterstützung selbst zu überwinden, befähigt gewesen wären, so danken wir ihr doch den Beweis, dass im Falle der Not wir in jeder Richtung auf die Hilfe unserer deutschen Landsleute bis zu den äußersten Marken rechnen dürfen, eine Erfahrung, welche wir ihnen nie vergessen werden!"

Außer Insterburg berühren wir auf deutschem Gebiete nur mehr unbedeutende Orte. Auf der Station Eydtkuhnen sagen wir dem deutschen Elemente und den deutschen Farben Lebewohl. Wer es versäumt hat, seine Thaler und Zwanzig-Markstücke in russische Banknoten vorher umzusetzen, dem bietet sich in der Wechselbude des Bahnhofes noch die Gelegenheit, — wer es jedoch nicht auf diesen letzten Moment ankommen Hess, — ist unbedingt besser daran!

Kaum hat sich der Zug von Eydtkuhnen aus in Bewegung gesetzt erfolgt auch schon wieder das Signal zum Langsamfahren, ein Gotteshaus mit Kuppel und vier Türmen ragt vor uns auf, zur Linken präsentiert sich ein stattliches Bahnhofsgebäude, schwarz-weiß-orangefarbene Barrieren, fremde Uniformen — — „Wirballen, Alles aussteigen!" — Wir sind im russischen Kaiserreiche.

Längs des Perrons stehen in gleichen Abständen und mit militärischer Unbeweglichkeit acht bis zehn Gendarmen in blanken Helmen. Das ganze Reisepublikum wird in den großen Saal zur Pass- und Zollvisitation dirigiert, alle Coupé's werden genau durchsucht, hinter dem letzten Eintretenden wird die Tür geschlossen und von zwei Gendarmen besetzt. An einem Tische in Mitte des Saales haben vier Beamte vom Zoll- und Polizeifache, ein Offizier der Gendarmerie und drei Skribenten Platz genommen.

Obgleich das im Saale nun anwesende niedere Personal sicher gleich zahlreich, wie jenes der angekommenen Reisenden war, mithin mindestens siebzig bis achtzig Köpfe zählte, währte die Abfertigung bis zum letzten doch volle fünf Viertelstunden. Im weiten Vierecke läuft ein niederer Tisch, auf welchem Mann neben Mann seine Habe niederzulegen hatte, obenan den Reisepass. Erst nach Prüfung und erfolgter Zurückstellung des zum Eintritte gestempelten Passes erfolgte die einzelne, ziemlich genaue Untersuchung des Gepäckes, eine Prozedur, welche jedoch im Ganzen mehr ein feierliches Aussehen trägt, als eine beängstigende Stimmung des Reisenden rechtfertigt.

Alles geht mit großem Ernste, aber in aller Höflichkeit vor sich. Nachsicht und Protektion scheint auch gegen den Inländer nicht geübt zu werden, da wir Zeuge waren, wie neben uns sogar einem russischen Offizier in Uniform, welcher aus einem deutschen Badeorte kam, das Schloss des Reisekoffers mit Hammer und Stemmeisen aufgeschlagen wurde, weil er den Schlüssel verloren hatte. Ich war zufällig der vorletzte unter Allen, und erwartete, ergeben in den Willen der Vorsehung, fünf und siebzig Minuten auf einem Platze stehend, meine Abfertigung.

Wenn diese erfolgt ist, verlässt man aber auch, nach solcher Stunde ernsten Gerichtes, den Saal mit dem erhebenden Bewusstsein, nun in einem Reiche sich zu befinden, wo man wie in keinem zweiten der Erde (in östlicher Richtung von Wirballen aus) die Kleinigkeit von 95 geographischen Längengraden oder über 5.800 Stunden wandern kann, ohne abermals einer Zollschranke zu begegnen, und seine Reisetasche erst wieder zu öffnen braucht, falls ein chinesischer Douanier an den Grenzen des Reiches der Mitte, mit geschlitzten Augen und dem malerischen Schöpfe am Hinterhaupte solches verlangen sollte. Wem der Stempel mit dem kaiserlichen Adler auf die Reisetasche geklebt und der Pass eingehändigt worden, vor dem hebt sich einzeln die eiserne Fallstange, welche den Ausgang zum Büffet unpassierbar macht. Nach einer weiteren halben Stunde fährt der russische Zug an dem Perron vor.

Schmucke Conducteurs im altrussischen National-Kostüme springen behende von Wagen zu Wagen. Sie tragen den dunkelblauen, langen Leibrock ohne Kragen, eine Schärpe von carmoisinroter Seide, weite Pumphosen in zierlichen Wadenstiefeln, dazu die Pelzmütze ohne Schirm, — der Zugführer auf beiden Schultern ein silbernes Schnurgeflecht. Es ist etwa sechs Uhr des Abends, und mit dem Besteigen des Waggons, welcher sehr bequem, und in Folge der bekanntlich größeren russischen Spurweite auch die übrigen europäischen Eisenbahnwagen an Räumlichkeit übertrifft, ist man nun auf 26 Stunden bis Petersburg bestens aufgehoben.

Wir befinden uns jetzt in West- oder Weiß-Russland, und zwar zuerst im Gouvernement Kowno, dem alten Samogitien, dessen Areal Flachsfelder, aber in noch weit größerer Ausdehnung Wälder bedecken, und gelangen aus diesem in jenes von Wilna (Wilno), welches mitunter am Niemen etwas freundlichere Gegenden zeigt. Es neigt sich die Zeit Mitternacht zu, auch gewahrt man nicht viel von der bedeutenden Stadt, (über 79.000 E.), aber der Name ruft uns denkwürdige Tage der Geschichte zurück, indem er verflochten ist mit dem Anfange und Ende des Krieges von 1812.

Napoleons Feldherrnblick hatte nicht sofort erkannt, dass der Teil der russischen Grenze, welche er, gestützt auf den Besitz der unteren Weichselfestungen und des Pregels, zunächst bedrohen konnte, längs des Niemens die verwundbarste Stelle biete, als er auch diesen zu seiner Operationsfront bestimmte, und Wilna, der Kreuzungspunkt der Straßen von Königsberg und Warschau nach Petersburg und Moskau, dadurch das Centrum der französischen Disposition wurde.

Bei den ersten Truppenbewegungen der Franzosen hatte Barklay de Tolly dies voraussetzend, sein Hauptquartier hierher verlegt, und zog es gegen die Düna zurück, als Napoleon bei Kowno über den Niemen gegangen war, worauf er sich Wilnas, der Hauptstadt Litthauens, bemächtigen konnte. So denkwürdig mithin diese Stadt durch die Besitzergreifung der Franzosen und einflussreich auf den weiteren Feldzug ist, da ihm von hier aus die Straße nach Smolensk offen geworden, erinnert ihr Name andrerseits an die rasche Erfüllung seines traurigen Verhängnisses. Von hier aus übertrug Napoleon, nachdem er noch am 5. Dezember 1812 in dem nahen Smorgon seinen Kriegsrat versammelt hatte, das Kommando der zersprengten Armeen an den König von Neapel, befahl das Heer am Niemen zu sammeln; und verließ dasselbe bei Anbruch der Nacht, um vierzehn Tage später in den Tuilerien die Formation eines neuen zu beginnen.

Den gleich einförmigen Charakter wie die beiden obengenannten Gouvernements trägt auch jenes von Witebsk, wo Heideland und weitreichende Birkenwaldungen mit Feldbau wechseln. Beim Tagesgrauen fährt der Zug in den Bahnhof der starken Festung Dünaburg (über 29.000 E.) ein, über dessen weit hinausgeschobenen Werken unzählige kleine, weiße Nebel wölken kämpfen, und wie im Kaleidoskop jeden Moment das Bild verändern. Das Abhängen und Anstoßen von Wagen gönnt uns hier einen halbstündigen Aufenthalt in dem ausgedehnten, von der Stadt weit abliegenden Bahnhofe, wo sich die Bahnen Riga-Smolensk mit Warschau-Petersburg kreuzen. Eine Tasse heißen Tees erfreut den übernächtigen Magen.

Mit dem Eintritte in das Gouvernement Pskow kommen wir erst in das eigentliche Groß Russland, und können unser Auge daran gewöhnen, Stunden und Stunden in grader Linie durch Wälder zu fahren, aus denen nur äußerst selten ein acht russisches Dorf — Holzhütten mit Brettern gedeckt, aus deren Dachrücken sich der Rauch beliebigen Ausgang sucht, — auftaucht. Diese unwirtsamen Gegenden , in deren endlosen Urwaldungen Freund Petz, der Wolf und das Elen unbehelligt hausen und der Auerochse nach Belieben sich im Sumpfe wälzen kann, reichen unverändert hinein bis ins Ingermannland, das jetzige Gouvernement Petersburg. Wie bekannt, hat in der Nähe von Gatschina, dem etwa fünf Meilen diesseits der Residenzstadt gelegenen kaiserlichen Lustschlosse, der Kaiser von Österreich bei seiner Anwesenheit sich der Erlegung eines Bären auf der Treibjagd erfreut.

Wenige Meilen von der nordischen Metropole bereitet uns noch nichts auf die Annäherung vor, die Stationen sind noch immer selten und wenig bedeutend. Zur Linken steigt ein entfernter Höhenzug auf, welcher sich am Finnischen Meerbusen gegen Petersburg verläuft und auf dessen einer Kuppe die kaiserliche Sternwarte Pulkowa liegt, von wo aus auf elektrischem Wege der Eintritt der Mittagszeit in der Hauptstadt mittelst eines Kanonenschusses verkündigt wird.

Es wird sechs Uhr Abends, in der Ferne ragen hohe Dampfkamine auf, zur Linken fliegen wir an einigen reinlich aussehenden Ortschaften mit, wie in Schweden, rot angestrichenen netten Häusern vorüber, — es sind die Niederlassungen deutscher Kolonisten — da flimmert eine goldene Nadel am Horizonte, es ist das spitze Dach des Admiralitätsturmes, rechts und links mehren sich die Geleise, unabsehbare Züge momentan unbeschäftigter Eisenbahnwagen reihen sich vor- und nebeneinander, endlich halten wir im weiten Warschauer Bahnhofe, wir sind in Petersburg!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland