Wanderungen im westlichen Russland

Vorwort.

Die im ersten Trimester des laufenden Jahres im „Auslande" (J. G. Cotta'sche Verlagshandlung zu Stuttgart) veröffentlichten Aufsätze „Aus dem Zarenreiche" haben sich einer so günstigen Aufnahme zu erfreuen gehabt, dass es nicht unangemessen erscheint, dieselben in erweiterter Form einem größeren Leserkreise zugänglich zu machen.

Nachdem dem vorliegenden Buche ausschließlich die persönlichen Wahrnehmungen während einer Reise von wenigen Wochen zu Grunde gelegt sind, wollte selbstredend auch nur die einzige Absicht im Auge behalten werden, die „wirkliche Gegenwart", wie sie namentlich das Leben der beiden Hauptstädte abspiegelt, offen darzulegen, zugleich vielseitigen irrigen Anschauungen, welche sich in veralteten Traditionen unberechtigt forterben, zu begegnen.

Wenn auch im Eingange den deutsch-russischen Reiserouten und praktischen Winken bezüglich der Orientierung u. s. w. einige Aufmerksamkeit zugewendet wurde, so wolle daraus nicht gefolgert werden, es sei im entferntesten die Abfassung eines Führers oder Reisehandbuch.es beabsichtigt gewesen. Zu einem solchen fehlte, neben dem unumgänglich nötigen reichen Material, vor Allem der Wille des Verfassers. Wer ein solches, an das die Anforderung einer systematischen Vollständigkeit gestellt wird, erwartet, wird sich getäuscht sehen. Was jedoch nicht abgesprochen werden kann, ist der Vorzug, dass die Schilderungen sich auf erst „jüngst Gesehenes und Erlebtes" gründen, mithin die rasch verrinnenden Jahre zwischen „Damals" und „Heute" noch keine merkbare Kluft zu reißen, im Stande waren.

Trotz ihrer Regeln für die Beurteilung des Schönen, hat die Ästhetik nicht vermocht, dieselbe Empfindung im einzelnen Individuum gleichmäßig festzustellen. — Dass sich die Strahlen auf jeder Netzhaut des menschlichen Auges anders brechen und andere Bilder hervorrufen, ist ebenso unbestritten. Aus diesen Gründen herrscht im Reiche der subjektiven Anschauungen die Freiheit im weitesten Sinne und kann die persönliche Auffassung des Einzelnen nicht unbedingt zur Richtschnur des Andern dienen.

Die Länder des Nordens sind überhaupt in vielseitigen Beziehungen anders geartet, als jene des Westens und noch mehr des Südens. Der Hauch der Romantik hat sie weniger angeweht. Die fast zweitausendjährige Ruine der Arena, der Wasserleitung, des Tempels aus der Römerzeit; sucht man dort vergebens.

In seinen endlosen, an Ausdehnung den Meerflächen ähnlichen Seen spiegeln sich keine efeuumwachsenen Ritterburgen, keine zehntausend Fuß hohen Alpenketten, deren felsige Zacken das Nordlicht erglühen lässt. An ihren Ufern strotzt nicht der Öl- und Mandelbaum, von der Last reicher Früchte zu Boden gedrückt!

Was wir im Norden finden, das hat der Bewohner mit harter Arbeit dem Boden, dem Klima, ja oft dem Meere — mühsam abgerungen. Die parteiische Natur hat dem Süden so reich gegeben, dass für ihn nur wenig übrig zu bleiben schien.

Desto mehr zwingen uns die Werke jener Völker Bewunderung ab, welche im fortgesetzten Kampfe mit der Natur, in dem verhältnismäßig kurzen Zeiträume von fünf Generationen, sich auf eine solche Stufe, wie sie die Gegenwart zeigt, zu schwingen vermochten!

          Augsburg, im April 1875.
                            Der Verfasser.

                            Inhalt.

                            Kapitel I.

Reise-Routen. — Orientierung. — Exemtionen auf geographisch-statistischem Gebiete. — Die Einteilung des europäischen Russlands. — Dessen Zonen und klimatische Verhältnisse. — Wald. — Getreidebau. — Tierwelt. — Die Bevölkerung nach Nationalitäten und Dichtigkeit. — Fabrikwesen. — Eisenbahnnetz. — Von der Weichsel zur Newa.

                            Kapitel II.

Petersburg von der Newa gesehen. — Bauart. — Sommergarten. — Winter-Palast. — Eremitage. — Peter-Paulskirche in der Festung. — Kasan'sche Kirche. — Isaakskirche. — Monumente. — Das Leben der Straße. — Fuhrwerk. — Kleinhandel — Läden und Kaufhaus. — Italienische Nächte an der Newa.

                            Kapitel III.

Ausflüge in die Umgebung von Petersburg. — Die Festung Kronstadt. — Peterhof. — Zarskoje-Sselo. — Babygone. — Paulowsk.

                            Kapitel IV.

Nach Moskau. — Total-Anblick. — Die Kathedralen und die Schätze des Kremls. — Die eroberten Geschütze vor dem Arsenale. — Restaurationen. — Kaufläden. — Teemagazine. — Auf der Straße.

                            Kapitel V.

Von Moskau über die Schlachtfelder von 1812. — Mosaisk. — Smolensk. — Im Eisenbahn-Coupé. — An der Beresina.

                            Kapitel VI.

Nach Polen. — Praga. — Warschau. — Polnische Juden. — Kosaken. — Allgemeine Rückblicke. — Schluss.