Vierte Fortsetzung

Vor zwölf Stunden kaum bewunderten wir im Tiergarten der deutschen Kaiserstadt noch das Siegesdenkmal, vom Glänze der sinkenden Junisonne beschienen, in Mitte Tausender von eleganten Damen und Flaneurs, wie sie die Zelten-Allee und Charlottenburger Landstraße an heiteren Abenden, zu Fuß und zu Wagen anzulocken weiß; heute sehen wir uns in der Morgenstunde auf dem Dirschauer Bahnhofe von einem Hundert polnischer Floßknechte umringt, welche in ungebleichten Leinenkitteln, die Füße mit Bast und Stricken umwickelt, in zottigen Bärten und struppigen Haaren, auf dem Perron umherliegen, dem ohrenzerreißenden Gefiedel einiger elenden Geigen zu hören, und bei Schwarzbrot, rohen Zwiebeln und Branntwein bis zur Abfahrt des Zuges nach der Heimat sich die Zeit verkürzen. Eine trotz ihres fürchterlichen Aussehens und ihrer wuchtigen Prügel harmlose Bande, sofern sie nicht, wie im vergangenen Jahre behauptet wurde, in ihren leeren Mägen die Cholera einschleppt.

Umsonst suchen die Bahnhofs-Portiers die unsaubere Gesellschaft, welche überall im Wege, vor die Türe zu setzen und Platz zu schaffen: sie stehen bald ab von der vergeblichen Mühe, an diese halbwilde Kameraderie noch ferner Worte zu verschwenden. Das bleibt auf dem Pflaster liegen und rührt sich nicht.


Die Reisenden betrachten mit Interesse, wohl auch mit geteilten Empfindungen diese Söhne des einst so stolzen Polenreiches, Mancher mag davon enttäuscht sein, wenn er sich in ihnen die Repräsentanten der Völker des Ostens zu sehen, einbildet. Wenn schon im Lande der Masuren und Kassuben solche Gäste einen Vorgeschmack geben, wie wird es erst aussehen jenseits vom Niemen und Dnijepr, an der Moskwa und den Quellen der Wolga?

Und doch wird er, wenn zurückgekehrt aus jenen Gegenden, die Erfahrung gemacht haben, dass diese wildaussehenden Slaven gutmütige und ungefährliche Menschen sind, vielleicht nur in einer Beziehung gefährlich, sofern man mit ihnen in allzu nahe körperliche Berührung zu treten gezwungen wäre, was jedoch bei der jetzigen Art des Reisens, zumal auf den Hauptrouten, sich leicht ganz vermeiden lässt.

Die Nachtfahrt von Berlin nach Dirschau lässt uns keinen Verlust an reizvollen Ansichten bedauern.

Die Gegend ist monoton, niedrige Tannenwaldungen wechseln mit kleinen, dem Nordosten der Tiefebene des nördlichen Deutschlands eigentümlichen Teichen und Seen. Bei der Festung Küstrin überschreitet die Bahn die Oder, nachdem sich diese mit der Warthe vereinigt hat, und bleibt fortan im Gebiete dieses letzteren Flusses, einer fruchtbaren Niederung mit üppigen Weiden.

Über Landsberg wird der Knotenpunkt Kreuz erreicht, wo sich die preußische Ostbahn mit der Posen-Stettiner Bahn schneidet. In Schneidemühl gehen in neuerer Zeit die Züge auf die direkte Bahn nach Dirschau über, wodurch der frühere Umweg über Bromberg vermieden und die Fahrzeit um etwas abgekürzt wird.

In Dirschau, Stadt an der schon sehr bedeutenden Weichsel, in dem säubern Ziegelbau der norddeutschen (mecklenburgischen, pommerischen und altpreußischen) Städte aufgeführt, verspricht man einen viertelstündigen Aufenthalt. Bei dem Rufe des Schaffners: Danzig steigt hier aus! konnten wir der Versuchung; die altberühmte Handelsstadt der Ostsee flüchtig zu schauen, nicht widerstehen, und entschieden uns rasch, ein Billet dahin zu nehmen. Zudem hatten wir kurz vor unserer Abreise in einem Werkchen über das Weichsel-Delta, von Danzig als dem „nordischen Venedig" gelesen , ebenso von einem Höhenzuge, welcher von Dirschau bis zur See, in seiner landschaftlichen Schönheit nur vergleichbar der berühmten Bergstraße des Odenwaldes, das linke Weichselufer schmücke, Gründe genug, unsern raschen Entschluss zu unterstützen.

In einer Stunde lag auch die massige Marienkirche, weit über die Häusermasse Danzigs heraustretend, vor uns. Unstreitig ist Danzig eine der norddeutschen größeren Städte, welche in ihrer äußeren Erscheinung das Gepräge einer bedeutenden Vergangenheit an sich tragen, wie solches auch in Lübeck vorzugsweise sich erhalten hat. Reichtum und solider Wohlstand tritt allenthalben zu Tage , und macht es leicht, sich in den Straßen, wie an den weiten Reihen von Lagerhäusern, um fünf Jahrhunderte in t die Zeit der Hansa zurückzuversetzen, unter deren 85 Städten Danzig weitaus eine der bedeutendsten war. Wenn auch die Zeit vorüber, wo, wie damals geschehen, ein Bürgermeister Danzigs der Krone Dänemark den Krieg erklären konnte, so ist der Handelsverkehr daselbst nicht minder ausgedehnt als jemals, und von keinem Platze Europas, mit Ausnahme von Odessa, findet ein so umfangreicher Getreide-Export statt.

Leider war es Sonntag, der unglücklichste Tag, an welchem man eine See- und Handelsstadt besuchen kann. An den Mottau-Kanälen und auf der Speicherinsel herrschte tiefe Stille, somit blieb nur die Besteigung des sogenannten Bischofsberges vor dem hohen Tore übrig, von wo aus sich allerdings ein weiter Überblick über die altertümliche Stadt, und die flachen Gelände jenseits der Weichsel bietet, ohne damit die vorher gelesene Schilderung der landschaftlichen Schönheit zu rechtfertigen.

Was jedoch nicht hinter der Erwartung zurückblieb, war Artushof und Memlings heiliger Michael, von welchem letzteren Lübke sagt, dass das Gemälde eine der ausführlichsten und gedankenvollsten Darstellungen enthalte, welche die Kunst des Nordens vom jüngsten Gerichte, dem Paradiese und der Hölle gegeben hat, — endlich die Marienkirche selbst, welche durch edle Einfachheit bei imposanten Dimensionen wirkt, ein mächtiger Backsteinbau gleich den ihr verwandten Marienkirchen in Lübeck und Stralsund. Im Artushof tritt uns (wenn auch von bescheidenen Dimensionen in der Fronte) eines der vorzüglichsten Bauwerke seiner Zeit (16. Jahrhundert) entgegen. Die Gewölbe ruhen auf schlanken Granitsäulen, deren Rippen wie Palmblätter nach allen Seiten sich schwingend, dem Gewölbe eine elegante Fächerform geben. Der Saal war der Versammlungsort der reichen Danziger Kaufherren und wird seit dem vorigen Jahrhundert als Börse benutzt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland