Dritte Fortsetzung

Obgleich das russische Kaisertum vornehmlich reich an Metallen — auch den edelsten — ist (wir erinnern nur an den Gewinn des Platina), so treffen doch auf die nichteuropäischen Gebiete die hauptsächlichsten Ausbeuten, während andrerseits deren Verarbeitung zum größten Teil dem europäischen Russland zufällt.

Im letzteren liefern Polen und Finnland Eisen, das Moskauer Bassin Steinkohlen, wenn auch weniger ausgiebig als die Bassins in den donischen und neurussischen Distrikten. Steinsalzlager finden sich im Gouvernement Orenburg, Salzseen in der Krim.


Die Hauptmetall-Industrie konzentriert sich in den östlichen Gouvernements, in ihr bildet jene von Messern und kurzen Handwaffen im Gebiete von Tula eine Spezialität. In Petersburg und Gatschina werden Spiegel- und Kristallwaren, im letzteren Orte besonders Porzellan und Fayence verfertigt. Talg-, Tran-, Seife- und Leimsiederei ist eben so allgemein verbreitet, wie die Gewinnung von Öl und die Fabrikation von Talg-, Stearin- und Wachslichtern. Die Erzeugung von Runkelrüben Zucker beschäftigte über 400 Etablissements, indessen soll dieser Zweig einen Rückgang erfahren haben. Kolonial-Zucker wird besonders in Petersburg und Moskau raffiniert. An chemischen Fabriken steht Moskau oben an. Die Branntwein-Destillation geht ins Ungeheure, und warf an Steuern im Jahre 1866 nach offiziellen Angaben, in den 49 europäischen Gouvernements mit Einschluss des Gebietes der donischen Kosaken, die Summe von 100.675.740 Rubeln ab!

Bei dem ungezählten Holzreichtum Russlands ist der Handel mit dem Rohmaterial, dem zugerichteten Bau-, Brenn- und Werkholz selbstverständlich von der weitesten Ausdehnung, nicht minder jener, welcher sich mit den Nebennutzungen, als Teer, Pech und Lindenbastmatten befasst.

Hauptfabrikations-Zweige sind ferner die Verarbeitung der Baumwolle (Moskau allein hat 93 Fabriken dieser Branche), Wollenweberei, Tuchmanufaktur, ebenso die Verwandlung des Flachses und Hanfes, welcher viel gebaut wird, in Leinengespinnste, Taue und Segeltuch. Nicht minder beträchtlich ist die Zubereitung roher Schaffelle, des notwendigsten Kleidungsstückes jedes gemeinen Russen, dessen Bedarf jährlich 14 Millionen Stück beträgt.

Bedeutend ist auch die russische Seidenfabrikation, deren Sitz hauptsächlich Moskau mit 22 Etablissements ist. Einen hervorragenden Rang unter allen Fabriken nimmt jedoch die weit verbreitete Lederproduktion ein, welche durch die große Menge von Roh- und Gerbestoffen, welche das Land bietet, begünstigt wird; die Fabrikation der Juchten (Juften), eine russische Spezialität, fällt vorzüglich den nördlichen und mittleren Gouvernements, jene von Saffian und Glanzleder den südlichen, endlich die Bearbeitung von Schaf-, Ziegen- und Renntierfellen den diese erzeugenden Gebieten zu.

Als eines der größten Etablissements auf russischem Gebiete, und in seiner Branche das bedeutendste auf dem Kontinent, wird die Baumwollspinnerei zu Narwa, per Bahn 147 Werste westlich von Petersburg, angegeben.

Das Eisenbahnnetz Russlands ist in einer erstaunlichen Zunahme begriffen. Im Jahre 1838 wurde die erste Bahn, nämlich Petersburg Zarskoje Sselo mit einer Länge von 25 Wersten in Betrieb gesetzt, während die Bahnlänge des ganzen Netzes Ende 1870 schon 10.531 Werste betrug.

(Die geographische Meile ist = 6,953, die deutsche Reichsmeile = 7,031, der Kilometer = 0,937 russischen Wersten.)

Mit Schluss des Jahres 1870 waren 5 Staatsbahnen und 40 Privatbahnen im Betrieb.

Indem wir uns auf diese allgemeinen Angaben beschränken, werden wir auf die uns zunächst betreffenden Bahnstrecken an Ort und Stelle zu sprechen kommen.

Einige Daten aus der Landesgeschichte dürften hier noch ihre Stelle finden. Dem Reisenden werden zwar auf dem Gebiete der westlichen Provinzen verhältnismäßig wenige sichtbare Anhaltspunkte in dieser Richtung vor das Auge treten; das graue Altertum bleibt gänzlich ausgeschlossen, Moskau repräsentiert noch gewissermaßen das Mittelalter, während Petersburg in vollstem Maße das Gepräge der neuen Zeit trägt.

Eine der ältesten historischen Erinnerungen findet sich durch das große Gemälde im Winterpalaste verewigt, die 1862 stattgehabte Feier der „tausendjährigen Gründung Nowgorods" (nicht zu verwechseln mit Nischnei-Nowgorod) als ersten Herrschersitzes des russischen Reiches. Rurik, der Fürst der Waräger, wird als dessen Schöpfer betrachtet; sein Nachfolger Olaf verlegte indessen die Residenz 882, mithin nach zwanzig Jahren, nach Kiew.

Im Jahre 1172 wurde Moskau durch Wladimir den Zweiten gegründet, und im ersten Jahrhundert seines Bestehens zur Hauptstadt des russischen Reiches erhoben. Als Erbauungsjahr des Kremls gilt das Jahr 1300.

Die Einführung des Christentums fällt etwa mit der Mitte des zehnten Jahrhunderts zusammen, nachdem Olga, die Gemahlin des Großfürsten Iwan von Nowgorod 957 in Konstantinopel die Taufe empfangen hatte und durch byzantinische Baumeister die ersten christlichen Kirchen in Nowgorod erbauen Hess. Die Trennung der russisch-griechischen Kirche vom Supremate des Papstes datiert aus dem elften Jahrhunderte, und wurde unter dem Pontifikate Gregor des Siebenten — (1073 bis 1085) — in Vollzug gesetzt.

Das Glaubensbekenntnis derselben basiert auf den vom Konzil zu Jerusalem 1672 bestätigten Satzungen und wurde in unveränderter Reinheit bis heute festgehalten. Der Kaiser ist das höchste Oberhaupt in geistlichen Angelegenheiten. Die heilige Synode zu Petersburg (der oberste Kirchenrat für alle russischen Gebietsteile) wurde von Peter dem Großen 1711 als eine permanente geistliche Behörde an die Stelle des aufgehobenen Moskauer Patriarchats gesetzt. Die höchsten kirchlichen Würdenträger sind die vier Metropolitana zu Petersburg, Moskau, Kiew und Kasan.

Für einzelne Einschaltungen aus der neuesten Geschichte Russlands, dem wichtigen Zeitalter Peters des Großen (mit der Geschichte Petersburgs auf das innigste verwebt) wird sich bei dem Besuche dieser Residenzstadt vorübergehend reichliche Gelegenheit bieten.

Zu unserer Fahrt nach Petersburg wählten wir unter den oben erwähnten Routen die zur Zeit gewöhnlichste, nämlich jene von Berlin über Wirballen, als Reisezeit die Mitte Juni , und hatten keinen Anlass, es zu bereuen. Die langen Tage; der geringe Unterschied zwischen der Temperatur des Tages und der Nacht, die konstante Witterung (welche 1874 vorzugsweise dem Sommer des Nordens eigen war), machen diesen Monat und den Juli besonders empfehlenswert.

Den Wagenwechsel an der deutsch-russischen Grenze abgerechnet, ist der Berlin-Petersburger Courierzug ein durchgehender und möglichst beschleunigter, so dass wir in einer Nacht unvermerkt — wir wollen sagen, ohne vorherige Zählung der Meilen im Kursbuche, — Strecken zurücklegen, weit genug, dass wir des andern Morgens nicht ohne Erstaunen an dem veränderten Aussehen von Menschen und Wohnungen wahrnehmen, welcher erhebliche Weg zwischen Nieder- und Aufgang. der Sonne hinter uns geblieben. Dieser Überzeugung wird aus eigener Erfahrung auch der Fahrgast huldigen müssen, welcher an einem schönen Sommer-Abende auf dem Berliner Ostbahnhofe verfrachtet wurde, und des andern Tages im Weichselgebiete sich seiner Existenz wieder bewusst wird.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland