Abschnitt. 2 - Was ist das für ein Weg, der oft genannte Rennsteig?

„Was ist das für ein Weg, der oft genannte Rennsteig?“ fragte Lenz, und Otto erwiederte erzählend, indem sie auf denselben vorwärtsschritten: „Der Rennsteig, Rennweg, schon in alten Urkunden unter dem Namen Reniweg, Rinnestiegk, vorkommend, ist eine ganz besondere Eigenthümlichkeit des Thüringerwaldes, ein seit uralten Zeiten gebräuchlicher, fast immer auf dem Gebirgsrücken fortlaufender, auf dem Walde nur wenige Orte berührender, einsamer Weg, meistens fahrbar, an mehren Stellen chaussirt, den man für die alte Landesgrenze zwischen Thüringen und Franken hält. Noch jetzt bildet er oft weite Strecken entlang die Grenze thüringischer Nachbarstaaten, und diente vielleicht in den alten Zeiten als Strasse für königliche und kaiserliche Eilboten. Wir werden ihn auf unsrer Tour noch oft berühren, verfolgen oder durchkreuzen, dann will ich euch jedesmal auf sein Begegnen aufmerksam machen; seine ganze Länge beträgt dreiundvierzig Wegstunden.*) Er läuft über den ganzen Gebirgskamm, so, dass wer ihn seiner ganzen Länge nach von Südosten nach Nordwesten verfolgt, die Grenzen von neun bis zehn deutschen Bundesstaaten betritt und überschreitet, deren früher noch mehre waren, bevor Eisenach an Weimar, Hildburghausen und Saalfeld an Meiningen kam. Eine alte Sage lässt den jedesmaligen thüringischen Landgrafen beim Antritt seines Regiments zunächst zum Zeichen der Besitznahme, im Gefolge seiner Hofritterschaft, den Rennsteig entlang reiten.“ –

Die Freunde schritten wohlgemuth durch die Waldung des Bergrückens, als sich ihnen auf einmal und ganz unerwartet ein schönes Rundel darstellte, in dessen Mitte ein gothischer Hochpfeiler von einem Eisengitter umgeben, aufragte, welcher als stattlichste Grenzsäule die Löwen von Thüringen, Meissen und Hessen nebst dem sächsischen Rautenwappen trägt, und auf seiner Spitze die Richtung der vier Himmelsgegenden bezeichnet. Zugleich war die neue Landstrasse, welche von Mehlis und Zella heraufführt, erreicht, und nach dem kurzen Marsch einer Viertelstunde zeigten sich die schindelbedeckten, breterbekleideten Häuser Oberhofs. „Hier seht ihr das am höchsten gelegene gothaische Dorf,“ sprach Otto zu den Freunden: „und seht es den hellen Wiesen, dem grünenden Kartoffelland, den wogenden Saaten nicht an, dass hier oft zur Winterzeit der Schnee bis an und über die Dächer mancher Häuser liegt, dass die Schlitten über jene hohen Wildzäune hingleiten, und die Kinder mit ihren kleinen Rennschlitten, in Ermangelung anderer Hügel, von den Dächern lustig herabfahren. Jetzt blickt dort hin, nach Norden! „Dort öffnete sich zwischen hohen Bergen hindurch eine reizende Fernsicht in das nördliche Thüringen, in die fruchtbaren Gefilde des Herzogthums Gotha, der Hörseelberg zeigte sich, und über ihn zog in blauer Ferne der Harz seine Bergkette hin. Der Raum vor dem gut eingerichteten Gasthaus und dem freundlich die Höhe beherrschenden herrschaftlichen Jagdschloss, war äusserst belebt. Dort lustwandelte eine Gesellschaft aus Gotha, die den oft zum Ausflug gewählten Oberhof besuchte, um sich an der Aussicht und der frischen Bergluft zu erlaben, und ging dem Walde zu, gefolgt von einer Trägerin, um an geeigneter Stelle im Freien zu schmausen. Dort zog eine Schaar junger Schüler mit rothen Wangen und grünen Ränzchen neu zum Weitermarsch gestärkt aus dem Gasthof, vor welchem die Eilpost hielt und das Horn des Postillons schmetterte, um vom kaum begonnenen Genuss köstlicher Waldforellen die Passagiere abzurufen. Hoch beladene Fuhrmannskarren und ein ganzer Kohlenwagenzug hielten ebenfalls vor dem geräumigen Haus, während die Hochstrasse von Fuhrwerken und Wanderern mannichfach belebt war. Otto schilderte deren romantische Schönheit. An Anlagen, gefassten Brunnen, Ruhebänken und freundlichen Forst- und Chausseehäuschen vorüber zieht sie tief, tief hinab in das Thal der Ohre, immer fallend, an schönen Felsparthien vorüber, und erreicht die malerisch gelegenen Dörfer Schwarzwald mit seinem Ruinenthurm, Stutzhaus und Luisenthal, wo ein Eisenwerk mit Blauofen und Hammer sich befindet; von da aus zieht die Strasse über das nahe freundliche Ohrdruf weiter gen Gotha fort.“ –


Das Gasthaus hatte Ruhe und Erquickung gewährt, die Freunde brachen auf, eben als ein eleganter Reisewagen vor der Thüre hielt, und drei Damen ausstiegen, von welchen die beiden jüngern die Blicke der jungen Gefährten Otto's magnetisch fesselten, und dadurch auch ihre Schritte hemmten. Es war mehr als gewöhnliche Neugier, die unter jeden fremden Schleier blicken möchte, welche auch Otto abhielt, zu gehen; die Damen kamen ihm bekannt vor, nur vollendeter entwickelt glaubte er die jugendlichen Schönheiten wieder zu sehen, die er irgendwo schon einmal erblickt haben musste. Ein wohlwollendes Verweilenlassen des Blicks der ältern Dame auf ihn überhob ihn schnell des langen Nachsinnens; es war eine begüterte unabhängige Frau aus dem Hannöverschen, die mit ihren Töchtern zum Vergnügen reiste, und deren Bekanntschaft er vor wenigen Jahren im Bade Liebenstein gemacht. Bald war Gruss und Gegengruss getauscht, Erinnerungen wurden aufgefrischt, die lieblichen Töchter traten näher heran, Otto stellte seine Freunde vor und es kam ein unterhaltendes Gespräch über die Reise, über Thüringen, den Wald und das Flachland, in vollen lebhaften Gang. Frau Arenstein, diess war der Name der Reisenden, sagte zu Otto: „Wundern Sie sich nicht, uns schon wieder in Ihrem schönen Thüringen zu sehen! Es zieht uns in der That der Reiz des Landes an, doch haben wir diesesmal einen noch weitern Ausflug vor; wir gehen nach Kissingen.“ „So verschmähen Sie die freundliche Najade Liebensteins?“ fragte der Angeredete. „O nein,“ erwiederte die Dame: „Wir gedenken auf dem Rückweg dort einige Tage einzusprechen. Finden wir Sie dann dort, wo Sie uns beim ersten Begegnen ein so bereitwilliger Cicerone waren?“ – „Niemals war ich es Jemand lieber,“ erwiederte Otto verbindlich: „und da ich jetzt in gleicher Eigenschaft einigen jungen Freunden aus Süddeutschland diene, mit denen ich im Zickzack das Thüringerland durchstreife, so würde es vollkommen mit meinem lebhaften Wunsch übereinstimmen, Sie und Ihre liebenswürdigen Fräulein Töchter dort wieder begrüssen zu dürfen.“ Als Otto dabei nach den Genannten blickte, sah er beide im Gespräch mit Lenz und Wagner dauernd begriffen, die nun nicht an Fortgehen denken zu wollen schienen, während ein mahnender bittender Blick des vierten Gefährten dessen Ungeduld bescheiden andeutete.
„Verwöhnen Sie mir die Mädchen nicht durch Schmeichelei,“ bat lächelnd Frau Arenstein; ich habe sie bisher sorglich vor diesem Gift bewahrt, „sie blicken unbefangen in die Welt und arglos, und ihre offnen Herzen haben mir das schwere Geschäft der Erziehung erleichtert. Sie werden meine Töchter wohl etwas verändert finden?“ – „Ich habe die Überzeugung,“ entgegnete Otto: „dass mit der körperlichen Entfaltung die geistige unter Ihrer vortrefflichen Leitung gleichen Schritt hielt, und freue mich auf das hoffentlich baldige Wiedersehen und längere Beisammensein.“

Die Reisenden trennten sich; wie es schien, wurde Wagner und Lenz der Abschied nach der kaum angeknüpften Bekanntschaft etwas schwer, dem ersten hatte die schlank aufgeschossene Blondine Rosabella ganz besonders wohlgefallen, die in der That eine reizende Erscheinung zu nennen war, während Lenz mit unverhaltenem Entzücken die zarter gebaute jüngere Arenstein, die dunkellockige Engelbertha priess. Beide konnten gar nicht aufhören, das Wohlgefallen gegenseitig und gegen die Begleiter auszusprechen, das diese holden Mädchen in ihnen erregt, während Otto im Weiterschreiten ihnen mittheilte, was er von den nähern Verhältnissen der Familie wusste. So langten sie bald an der Stelle wieder an, wo der Rennsteig am Beerberg hinzieht, und ein dem kundigen Führer wohlbekannter, übrigens schwer aufzufindender Fusspfad sie dem ersehnten Ziel immer näher brachte.



*)Auf der Karte zum Werk des Dr. Herzog, ist der Rennsteig am besten gekennzeichnet: in F. v. Plänckners Werk: Der Thüringerwald, (mit einem Panorama der Nordseite desselben). Gotha 1830, am ausführlichsten beschrieben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen