Der Personen-Verkehr

Es wird zugegeben werden müssen, dass es noch schwerer sei über den Personen-Verkehr als über den Güter-Transport einer beabsichtigten Eisenbahn eine Wahrscheinlichkeits-Berechnung zu entwerfen. Die genaueste Erforschung des schon bestehenden Verkehrs ist freilich für ein Minimum unbedingt zulässig, allein damit kann man grade von der richtigen Mitte, worauf es bei solchen Untersuchungen ja eigentlich ankommt, am weitesten entfernt sein.
Für die beabsichtigte Berlin-Stralsunder Bahn mögen folgende Momente zur Feststellung einer Meinung wohl anwendbar erscheinen. Die benachbarte Stettiner Bahn Länge: 18 Meilen, 6 Städte mit 466.000 Ew., verglichen mit der Berlin-Stralsunder Bahn Länge: 28 3/4 Meilen, 11 Städte mit 482.000 Ew. (dass eine längere Bahn eine größere Frequenz habe, ist begreifliche Tatsache)
Man muss wohl einräumen, dass bei dieser Vergleichung die Berlin-Stralsunder Bahn keineswegs zurückgestellt werden könne.
Wenn nun die Stettiner Bahn 1843 im August bis Oktober für 3 Monate 74.583 Thlr. oder, mit einiger Rücksicht auf August, monatlich 25.000 Thaler Passagier-Geld erhob, auf einer Strecke von 18 Meilen, so wird, für die Berlin-Stralsunder Bahn, auf einer Länge von 28 3/4 Meilen, die Erwartung auf 25.000 Thaler monatlich nicht zu hoch gespannt erscheinen. Dieser Erwartung kommt noch die gewisse Aussicht zu Gute, dass, nach Eröffnung der Berlin-Hamburger Bahn, der Personen-Verkehr, sowohl für die Stettiner Bahn, als insbesondere auch für die Stralsunder Bahn, sehr zunehmen werde. Denn, bildet man das Gebiet der Stralsunder Bahn für die Richtung von Süden nach Norden — wobei denn ganz Neu-Vorpommern mit der Insel Rügen, Dänemark und Norwegen über Kopenhagen und Schweden über Ystadt als ohnstreitig wichtige Ziel-Punkte zu betrachten sind, so wird man finden, dass eine Linie von Hamburg aus nach Parchim und von hier nach Grimmen in Neu-Vorpommern gezogen, ziemlich genau die Gebiets-Grenze der Stralsunder Bahn für die Richtung von Süden nach Norden bezeichnet. Alles, was vom Süden und Osten dieser Grenzlinie nach Neu-Vorpommern usw. will, ist an die Stralsunder Bahn gewiesen. So z. B. als ein Äußerstes: Wer von Hamburg nach Kopenhagen oder Ysadt will, kann über Lübeck in 24 Stunden, mit 18 Stunden See-Reise, dahin kommen; wünscht derselbe die See-Fahrt möglichst abzukürzen, so kann er auf der Eisenbahn über Berlin nach Stralsund, Kopenhagen auch in 24 Stunden, mit 11 Stunden See-Reise, Ystadt aber in 22 Stunden mit 8 1/2 Stunden See-Reise erreichen. Parchim würde per Bahn über Stralsund, Kopenhagen als auch Ystadt schneller und wohlfeiler zu erreichen sein, wie über Lübeck oder Rostock.
Von Stettin kann man per Dampfschiff in 24 Stunden nach Kopenhagen kommen; wer aber von Stettin über Pasewalk nach Neubrandenburg an die Stralsunder Bahn geht, wird über Stralsund schon in 23 Stunden, mit 11 Stunden See-Reise, in Kopenhagen anlangen.
Diese Beispiele werden genügen die große Ausdehnung des Gebietes der Stralsunder Bahn für die Richtung nordwärts zu bezeichnen und wenn man hier noch erinnert, dass nicht bloß alle Reisenden nach Skandinavien, sondern auch die Besucher der lieblichen Insel Rügen und des See-Bades Putbus von Hamburg, Berlin und Stettin her, der Stralsunder Bahn zufallen, so wird deutlich genug erkannt werden: dass hier eine größere Personen-Frequenz, als auf der Stettiner Bahn, zu erwarten sei.
Die angemessene Verteilung der für Personen-Verkehr in den Anschlag gestellten Jahres-Summe von 300.000 Thaler auf die einzelnen Stationen und die hiernach sich herausstellende Personen-Zahl für tägliche Fahrt, macht es noch deutlicher, dass der Anschlag nur eine geringe Vermehrung des schon bestehenden Personen-Verkehrs voraussetzt. Es ergeben sich für die Station von Stralsund bis Greifswald, 60 Personen abgehend und 60 zurückkehrend; Posten und Omnibus werden schon jetzt von etwa 40 benutzt und die Privat-Fuhrwerke mögen wohl oft mehr als 20 befördern; eine fast gleiche Frequenz ist in Neu-Strelitz ohne den Zufluss aus Neu-Vorpommern.
Die verhältnismäßig zahlreichen Städte an der Bahn, die Produktivität des Landes und die Bevölkerung des Bahngebietes überhaupt, mit Städten angefüllt, in welchen alle Momente der geistigen und materiellen Bewegung lebendig sind: außer Berlin noch eine Residenzstadt, eine Festung mit Garnison, zwei Universitäten, (Greifswald, Rostock) eine landwirtschaftliche Lehranstalt, (Eldena) mehrere Pädagogien (Neustrelitz, Putbus) und Gymnasien, zwei Seebade-Orte, (Putbus, Doberan, Heiligendamm) neun Seehäfen, Dampfschifffahrt, mehrere höchste Landesgerichte, (Greifswald, Neustrelitz, Güstrow) die Haupthandelsstraße für einen fruchtbaren Landstrich, Durchgangsstraße für Skandinavien; dies Alles sind wohl Elemente, von denen hier eine gleiche Vermehrung des Personen-Verkehrs mit Recht erwartet werden kann, wie irgendwo die Erfahrung schon herausgestellt hat, und diese gewiss gut begründete Erwartung mag hier nur noch als eine zweite Reserve für den allgemeinen Anschlag angesehen werden.