Drittes Capitel. - Glaubenssache, Halbbildung, Charakterstärke, Eigensinn des Herzens, Wüstling, gewöhnlicher Lebemann, herzloser Aristokrat, schwärmender Phantast, Herzensgüte und Verstand, Eitelkeit, Prachtliebe, Ehre und Ruhm, Landleben, Staatsdienst.

Drittes Capitel. Die Hälfte der Zeit, welche der Baron für seine Abwesenheit angesetzt hatte, war bereits verflossen, ohne daß der Caplan zu einem befriedigenden Abschlusse mit Pauline hätte gelangen können. Denn mit dem Eigensinn des Herzens, welchen die Halbbildung sich als Charakterstärke auslegt, wies sie Alles von sich, was ihrem Empfinden widersprach, hielt sie an ihren Vorstellungen fest, und alle diese Vorstellungen kamen ihr von dem Baron; nur daß in seiner Geliebten sich zu einem Ganzen gestaltet hatte, was in ihm unverbunden neben einander herging, und daß in ihr zur Glaubenssache geworden, was in ihm stets mehr oder weniger ein Spiel und die Wirkung zufälliger Stimmungen geblieben war.

Der Baron war kein Wüstling, kein gewöhnlicher Lebemann, kein herzloser Aristokrat, kein schwärmender Phantast. Er hatte aber von allen diesen Arten einzelne Züge in seinem Charakter, und dabei eine Eitelkeit, welche seine Herzensgüte, seinen Verstand beeinflußte und es ihm zu einem Bedürfnisse machte, immerdar Etwas vorzustellen und dafür mindestens von sich selbst Bewunderung einzuernten.


In der großen Welt hatte er früher durch seine Prachtliebe und durch seine Abenteuer geglänzt, im Felde oder im Staatsdienste würde seine Eitelkeit ihn vielleicht zu Anstrengungen getrieben haben, die ihm Ehre gebracht und Ruhm erworben hätten. In der Stille des Landlebens konnte es ihm geschehen, daß er sich, wenn es sich eben so fügte, aus der Erziehung eines schönen Waisenkindes ein Bewußtsein machte, daß die Anbetung, welche dasselbe ihm zollte, ihm für eine Zeit lang genügte, und daß er sich von einem solchen Mädchen ganz und gar gefesselt fühlte, weil er es gänzlich als sein Geschöpf betrachten durfte. Er hatte mit voller Wahrheit gegen den Caplan behaupten können, Pauline sei das einzige Frauenzimmer, neben welchem er nie Langeweile gefühlt habe, denn Alles, was sie wußte und sprach, kam ihr von ihm oder durch ihn, und war daher sicher, ihm immer zu gefallen.

Einige Jahre hindurch hatte er Pauline gegenüber die Wirkung seiner Großmuth oder seines Geistes genossen, wenn sie sich verständig und immer fortschreitend bewies, und sich daneben lächelnd ihrer Einfalt und seiner Ueberlegenheit gefreut, so oft die Schranke ihrer Natur und ihres Wesens ihm bemerklich wurde. Diese Zeit jedoch war jetzt vorüber. Pauline hatte sich an ihren Platz neben dem Baron gewöhnt, sie hatte seine Schwächen kennen und, um ihn in guter Stimmung zu erhalten, dieselben benutzen und ihn dadurch beherrschen lernen. Sie hing an ihm noch immer mit leidenschaftlicher Liebe, sie vergaß es auch niemals, was sie ihm schuldete; aber weil sie die geistige Kluft nicht ermessen konnte, welche den Freiherrn von ihr trennte, hatte sie sich mehr und mehr in seinem Besitze sicher gefühlt, und die von ihm oft wiederholte Aeußerung, daß ihr Leben dem seinigen in räthselhafter Weise verbunden sei, hatte sie in dem Glauben bestärkt, daß der Baron sie nie verlassen könne, daß sie nothwendig zu seinem Leben, zu seinem Glücke gehöre.

Sie war daher wie vernichtet gewesen, als sie die Nachricht von seiner bevorstehenden Verheirathung erhalten hatte. Der Baron selbst hatte sie ihr mitgetheilt, ohne deshalb, nach den leichten Grundsätzen seiner Zeit, gleich Anfangs an die Nothwendigkeit ihrer Entfernung zu denken. Erst ihr leidenschaftlicher Schmerz und die heftigen Ausbrüche ihres Zornes, erst ihre Drohung, daß sie seine Heirath zu hintertreiben wissen werde, hatten ihm gezeigt, daß er sie nicht in Rothenfeld behalten könne, und hatten ihn gegen sie verstimmt. Indeß schwach und nachgiebig gegen sie wie gegen sich selbst, hatte er mit der Entscheidung gezögert, bis der Tag seiner Hochzeit heran nahte, bis er sich der Aussicht auf die schöne junge Gattin zu erfreuen, und sich über den Verlust seiner Geliebten mit dem ihm schmeichelnden Gedanken fortzuhelfen begann, daß er seinem Gewissen und seiner Verlobten ein großes Opfer bringe, und daß er als Edelmann die Pflicht habe, für sein edles Geschlecht ein würdiges Familienleben in seinem Hause aufzubauen.

Er war mit sich auf diese Weise leicht genug fertig geworden. Der Caplan hatte dafür mit Pauline einen um so schwereren Stand. Sie mißtraute ihm als katholischem Geistlichen, als Abgesandten des Barons, und verlangte doch nach seiner Nähe, weil sie sich verlassen fühlte und weil sie mit ihm von demjenigen sprechen konnte, was ihr allein am Herzen lag.

So oft er zu ihr kam, mußte er sich von ihr die einfache Geschichte ihres Lebens erzählen lassen. Sie wiederholte ihm jene Grundsätze eines Naturrechts, auf das der Baron sie verwiesen, als er sie durch die Ermahnungen des Pfarrers beunruhigt gesehen hatte. Sie gab ihm ihre Eifersucht und Verzweiflung zu erkennen, und der Gedanke an die baldige Anwesenheit der künftigen Baronin, den der Caplan ihr so eindringlich vorgehalten hatte, wirkte nun unablässig in ihr nach. Sie verlangte Rath von ihm und verwarf denselben; sie verlangte Trost und Hülfe, aber sie wendete sich ab, sobald er sie auf einen Trost verweisen wollte, den sie in ihrem eigenen Innern sich zu bereiten habe. Sie wollte weder von kirchlichen noch von staatlichen Geboten reden hören, aus Furcht, daran erinnert zu werden, daß sie dieselben übertreten habe, und daß sie diese Uebertretung sühnen und büßen müsse. Mehr oder weniger gebildet und aufgeklärt, würde sie leichter zu bestimmen gewesen sein, als jetzt; und es waren schließlich nicht die Vorstellungen ihres Berathers, nicht seine Moral und seine Vernunftgründe, welche Eindruck auf Pauline machten. Es waren seine Geduld mit ihr und seine Milde, die ihr das Gemüth bewegten und sie allmählig dahin brachten, daß ihr Zorn und ihre Verzweiflung dem reinen Schmerze wichen, der nicht mehr sich zu rächen, sondern nur noch sich selbst zu helfen trachtet.

Eines Morgens, als der Caplan wieder zu ihr kam, fand er sie vor ihrer großen Nußbaum-Commode sitzen. Um sie her lagen verschiedene Kleidungsstücke ausgebreitet, daneben Bänder, Zierathen, Nähbestecke und viele jener Kleinigkeiten, mit denen man die Frauen zu beschenken pflegt, deren eigentliche Bedürfnisse ohnehin befriedigt werden. Sie schien Musterung zu halten, und der Caplan fragte sie, weshalb sie dieses thue.

Weshalb ich das thue? wiederholte sie. Ja! wenn ich das wüßte, Hochwürden! Ich kann nicht sagen, wie ich darauf verfiel, die Schubladen aufzumachen und die Sachen zu besehen. – Die Commode ist mein Lieblingsstück! bemerkte sie nach einer Weile, während sie die Sachen forträumte, die auf derselben gelegen hatten. Sehen Sie einmal das Geäder in dem Nußbaume. Es sieht wie Bäume aus; und dann der schwere Messingbeschlag und die großen Griffe! Ich weiß den Tag, an welchem ich die Commode bekommen habe. Die alte Margarethe gönnte sie mir gar nicht, und ich habe zuerst viel bittere Worte darüber hören müssen und manche Thräne darüber vergossen!

Sie erzählte darauf, wie schwer die Alte ihr bisweilen das Leben gemacht habe, und in die Art und Weise, mit welcher sie ihre Schätze wieder an Ort und Stelle brachte, mischte sich der Stolz auf den Besitz derselben mit einer unverkennbar wehmüthigen Erinnerung. Der Caplan ließ sie ruhig gewähren.

Wenn ich das Alles so vor mir sehe, sagte sie mit einem Male, ist’s mir grade, als ob ich die ganzen vergangenen Jahre wieder vor mir hätte. Von jedem Stücke kann ich sagen, wann er es mir geschenkt hat, wann ich es zuerst getragen und gebraucht, und wie Alles damals gewesen ist. Manches liegt noch ganz neu da, Manches ist nicht mehr zu gebrauchen, und ich könnte es doch nicht fortgeben. Sie bückte sich bei den letzten Worten, nahm aus der untersten Lade eine Jacke von Kattun hervor, hielt sie dem Caplan hin und sagte: Sehen Sie, Hochwürden, das war der erste Anzug, den er mir nach seiner Rückkehr kaufte. Ich war damals noch nicht ausgewachsen und so mager! Aber ich hätte es nicht mit ansehen können, daß ein Anderer mir nachgetragen, was er mir einmal gegeben hat.

Der Caplan warf einen Blick auf das bezeichnete Kleidungsstück und machte die Bemerkung, daß es ihr auch künftig an Nichts fehlen und der Baron für alle ihre Bedürfnisse auch künftig sorgen lassen werde.

Sie hörte nicht darauf, denn sie war viel zu sehr mit sich und der Vergangenheit beschäftigt. So oft er nach der Stadt fuhr, brachte er mir Etwas mit, nahm sie wieder das Wort. Zuletzt dieses große, rothe Umschlagetuch. Ich sollte mich darüber freuen, ich sollte sehen, wie schön es sei. Schön genug war es, aber freuen konnte ich mich nicht mehr darüber. Ich wußte ja schon, was hier bevorstand.

Die Freude an Deinem Hab und Gut wird wiederkommen, sagte der Caplan, wenn Du erst wieder in Ruhe und unter Menschen sein wirst, denen Du Deine Sachen zeigen kannst.

Sie schüttelte verneinend das Haupt. Wer so unglücklich gemacht werden soll, wie ich, den freut Nichts mehr, und aus dem Unglück darf man nicht zurückdenken an die guten Tage, wenn’s einem das Herz nicht brechen soll. Ich wollte, ich hätte die Commode gar nicht aufgemacht!

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, schloß die sämmtlichen vier Schubladen zu und steckte die Schlüssel in die Tasche von weißem Piqué, die sie unter ihrem Kattunrocke trug.

Der Caplan stand auf; das schien sie zuerst auf den Gedanken zu bringen, daß sie mit dem Aufräumen in seiner Gegenwart etwas Ungehöriges gethan hätte. Sie bat ihn deßhalb um Entschuldigung. Aber, fügte sie hinzu, wenn Sie nur ein einziges Mal erfahren hätten, wie einem Menschen zu Muthe ist, dem so wie mir der Todesstoß gegeben wird, so würden Sie wissen, auf was man da Alles verfällt. Elend muß man kennen, damit man’s versteht!

Die Worte kamen ihr von Herzensgrund und rührten den Caplan durch den Ausdruck, mit welchem sie gesprochen wurden. Er seufzte unwillkürlich, sah Pauline an, zögerte einen Augenblick und sagte dann mit ganz verändertem Tone: Und wenn ich es nun verstände, was Elend ist, wenn ich es wüßte, wie Dir Armen zu Muthe ist?

Sie richtete ihre dunkeln Augen forschend auf seine Miene. Hochwürden, was soll das sagen? fragte sie danach. Sie sollten wissen, wie mir zu Muthe ist? So wie Sie, Hochwürden, sieht man nicht aus, so still und ruhig nicht, wenn man so zerschmettert worden ist und sein Alles verloren hat, wie ich.

So still und ruhig wird man, kann man werden, wenn man sich vorhält, daß Alles, was wir leiden, uns von Gott kommt, und daß der Heiland selbst sein Kreuz getragen, daß Christus selbst den Kelch des Leidens ausgekostet hat bis auf den letzten Tropfen! entgegnete er ihr.

Pauline schwieg, als stände sie an geweihter Stätte, als sei ein Vorhang vor ihr aufgezogen, der ihr ein Allerheiligstes offenbarte. Sie faltete die Hände, ihr Blick hing mit einer ganz neuen, liebevollen Empfindung an dem milden Antlitze des geistlichen Herrn, und näher zu ihm tretend, während sich ihre Wangen rötheten von der Scheu, mit welcher sie die Frage an ihn richtete, sprach sie leise: Hochwürden, sind Sie denn auch verlassen und verstoßen worden?

Nein! entgegnete er.

Was ist Ihnen denn geschehen? forschte sie weiter, und ihre Stimme wurde weicher, ihr Blick von Theilnahme gesänftigt.

Er nahm sie bei der Hand, setzte sich und nöthigte sie damit, sich ebenfalls niederzulassen; dann sagte er ruhig: Ich habe mich überwunden!

Freiwillig? rief sie aus.

Freiwillig! wiederholte er, und sie schwiegen Beide. Pauline war wie umgewandelt, sie vergaß sich selbst in diesem Augenblicke. Das Vertrauen des Caplans hatte sie erhoben. Ihn aber hatte es eine neue, große Ueberwindung gekostet, vor Pauline von seinem eigenen Geschicke zu sprechen; indeß er hatte richtig erkannt, daß man auf diese Frau nur wirken könne, indem man ihre Theilnahme auf einen Anderen richte und ihr ein Beispiel aus dem Bereiche vorhielt, den sie kannte und übersah. Das Verlangen, mehr von dem Schicksale des Geistlichen zu hören, ließ ihr nun keine Ruhe. Sie wollte vergleichen können, und doch band die Ehrfurcht ihr die Zunge, bis sie endlich die Frage wagte: Und jetzt, Hochwürden, sind Sie denn jetzt nicht mehr unglücklich, haben Sie verschmerzt, was Sie gelitten, was Sie geopfert haben?

Ja, ich habe es verschmerzt! Ich habe wieder Freude an dem Leben, ich habe Menschen, deren Wohl und Wehe mir sehr am Herzen liegt ....

Und Sie können also wirklich wieder glücklich sein? fragte sie noch einmal.

Ich bin freudig in meiner Arbeit, in der Erfüllung meiner Pflicht! Mit einem Worte, ich lebe gern, versetzte er – und ich habe doch keinen Sohn, für den ich leben könnte!

Sie faßte den Gedanken offenbar bereitwillig auf. Ja, sagte sie, es ist ein gutes Kind, und Sie glauben nicht, wie klug er ist. Weit über seine Jahre klug! Er merkt Alles und weiß Alles, ohne daß man es ihm sagt. Wenn er mich traurig findet, sieht er mich an, daß man denkt, es sei eine Sünde, ihn merken zu lassen, was man aussteht. Er läßt dann keinen Blick von mir, und seine Augen sind ganz wie die des Vaters. Sie sprach darauf von der Absicht des Barons, den Knaben früh einer männlichen Leitung zu übergeben, und klagte sich an, daß sie denselben bisher nicht genug geliebt habe. – Ich habe immer und immer nur an den Vater gedacht, sagte sie; der Knabe würde mich bald vergessen, nähme man ihn fort von mir, und der Vater wird mich noch schneller vergessen! setzte sie mit erneuter Klage hinzu.

Der Caplan mochte es ihr nicht bemerken, daß sie damit zum ersten Male ihre indirecte Zustimmung zu den Absichten des Barons kundgegeben hatte, aber die Thatsache war ihm wichtig, und obschon er bei Paulinen’s schnell wechselnden Stimmungen auf diese plötzliche Sinnesänderung nicht allzu viel vertraute, fing er doch an, mit ihr von einem der nächstgelegenen Städtchen und von dem Leben in demselben zu sprechen. Pauline wußte es, daß der Baron sie dorthin senden wollte. Sie fragte, wie weit der Ort von Richten entfernt sei und wie viel Zeit man brauche, um von dort nach der Hauptstadt der Provinz zu kommen, in welcher nach dem oftmals ausgesprochenen Plane seines Vaters der Knabe später erzogen werden sollte. Dann erkundigte sie sich, ob ihrem Sohne seine Geburt bei der Aufnahme in eine Erziehungsanstalt keine Hindernisse in den Weg stellen würde, wie sie einmal gehört zu haben glaubte, und sie blieb überhaupt nur mit der Zukunft des Knaben beschäftigt, bis der Caplan sich entfernte. Es war aber ersichtlich daß ihr Etwas auf dem Herzen lag, für das sie den Ausdruck oder den Moment nicht zu finden wußte, und der Geistliche hielt schon den Drücker der Thüre in der Hand, als sie sich ihm näherte und schüchterner, als es ihre Art war, die Frage aufwarf: Sie haben sich überwunden, sich aufgeopfert, Hochwürden, hat Ihnen das gute Frucht gebracht? Haben sie es Ihnen gedankt, diejenigen, für welche Sie sich geopfert haben?

Ein Opfer, für das man Lohn erwartet, ist kein Opfer mehr! entgegnete er ihr.

Sie verstummte darauf und ließ ihn gehen. Aber er war ihr menschlich näher getreten, seit sie wußte, daß auch er gelitten und verzichtet habe; und es gelang ihm nach einigen Tagen endlich, ihre Einwilligung zu der Uebersiedelung nach der Stadt zu erhalten. Sie erklärte jedoch, daß sie den Baron noch einmal sehen wolle, ehe sie Richten verlasse. Sie müsse aus seinem eigenen Munde das Versprechen erhalten, daß er sie besuchen werde, wenn er nach ihrem künftigen Wohnorte komme; daß er selbst über den Lebensweg ihres Sohnes wachen wolle, und der Caplan ging, so weit er es vermochte, auf alle ihre Wünsche ein.

Neben diesen Stunden voll ruhiger Ueberlegung gab es aber auch viele andere, in welchen sie sich nur mit der Hochzeit des Barons und der künftigen Baronin beschäftigte, und in denen sie völlig wieder in ihren Schmerz versank. Sie betheuerte dann unaufhörlich, daß sie ja verzichten möchte, daß sie es aber nicht könne, und daß es über ihre Kräfte gehe. Es war ein Auf und Nieder in ihren Empfindungen, dem schwer zu folgen, dessen Ursachen oft nicht zu erspähen waren; und oftmals, wenn die Vorstellungen und Gespräche des Caplans sie so weit gebracht hatten, daß ein Schuldbewußtsein und der Gedanke, daß man ein Verschulden büßen müsse, in ihr rege wurden, warf sie mit der ihr eigenthümlichen Plötzlichkeit gewisse Aeußerungen über die ihr einzig angemessene Art von Buße hin, welche er aufs Neue zu bekämpfen hatte.

Am Freitag Abend ging er nochmals zu ihr. Man erwartete in der Nacht die Ankunft des Barons, der sich am Sonntag in aller Frühe zu seiner Braut begeben wollte. Der Caplan wünschte ihm bei seiner Heimkehr sagen zu können, daß er Alles geordnet habe und daß Pauline in ihr Schicksal ergeben sei. Er war daher sehr zufrieden, als er Abends, da er zu ihr kam, sie damit beschäftigt fand, die Kleider und das Spielzeug ihres Sohnes in einen kleinen Koffer zusammen zu packen. Sie sprachen fortdauernd von der Reise und von der Stadt.

Als der Caplan sie fragte, für welche Zeit er ihr die Pferde bestellen solle, gab sie den Sonntagmorgen an, und wünschte, daß der alte Kämmerer bewogen werden möge, sie zu begleiten. Sie habe Richten nie verlassen und es bange ihr vor der Fremde. Der Caplan versprach ihr, dies zu vermitteln und Alles nach ihrem Wunsche einzurichten. Nur als sie auf die begehrte Unterredung mit dem Baron zurückkam und auf dieselbe bestand, erklärte er ihr, er zweifle, daß derselbe geneigt sein werde, sie in diesem Augenblicke wiederzusehen. Von ihrer Forderung zu Bitten übergehend, flehte sie zuletzt den Caplan mit Thränen, ihr diese einzige Gunst zu erwirken, und er sagte ihr zu, dem Baron ihren Wunsch mitzutheilen.

Indeß gleich die erste Begegnung mit demselben ließ ihn erkennen, daß er hier auf Widerstand stoßen werde und daß für die Erfüllung von Paulinen’s Bitte Nichts zu hoffen sei. Der Baron war sehr aufgeräumt und in der That auch viel beschäftigt. Er fragte Anfangs gar nicht nach Pauline, und da er es später that, geschah es in einer Weise, die kaum eine Antwort zu verlangen schien. Dennoch, und obschon der Caplan selbst eine Unterredung oder einen Abschied zwischen dem Baron und Pauline für zwecklos ansah, sprach er dem Ersteren davon, um seiner Zusage nachzukommen; indeß der Baron lehnte den Vorschlag entschieden ab.

Ich kenne des guten Geschöpfes Liebe und Leidenschaft, sagte er, und ich kenne auch meine Schwäche. Es ist nicht Fühllosigkeit oder Härte gegen das arme Weib, das ich meinen Verhältnissen und meiner sittlichen Ueberzeugung opfern muß, es ist die unerläßliche Nothwehr gegen mich selbst, wenn ich mir in dem Augenblicke der Abreise zu meiner Braut eine Scene erspare, die mir, sie mag ausfallen wie sie immer wolle, das Herz zerreißen wird, ohne nach der andern Seite hin irgend etwas zu nützen.

Es fiel dem Caplan auf, daß der Baron auch dieses Mal Paulinen’s Namen auszusprechen vermied und sich mit anderer Bezeichnung dafür behalf. Er kannte das an seinem Herrn und wußte, was es zu bedeuten habe. So kam er denn auch nicht mehr auf den Wunsch Paulinen’s zurück, aber der Baron erbot sich später aus freiem Antriebe, ihr noch einmal zu schreiben, was der Caplan für zweckmäßig erachtete. Auch schrieb er ihr noch in derselben Stunde und sandte den Brief sogleich durch einen Boten ab.

„Ich danke Dir“, lauteten die Zeilen, „daß Du Dich entschlossen hast, in die Stadt zu ziehen. Du kennst mich genugsam, um zu wissen, daß ich Dir dies lohnen werde. Es soll Dir dort, darauf kannst Du Dich verlassen, ein ganz sorgenfreies Leben bereitet werden, und Paul wird nicht aufhören, ein Gegenstand meiner treuen Sorgfalt zu sein. Der hochwürdige Herr Caplan, der sich in diesen Tagen Deiner so gütig und väterlich angenommen hat, wird auf meine Bitte Dir auch ferner mit seinem Rathe zur Seite stehen und dafür sorgen, daß Du Dich nach Deinem Ermessen einrichten kannst. Daß ich nicht zu Dir komme, geschieht aus Rücksicht für Dich sowohl als auch für mich. Wozu ein Wiedersehen, wenn man vergessen will? Und vergessen lernen mußt Du! Folge in Allem ganz dem Rathe und den Anordnungen des verehrten Herrn Caplans. Was Du in Zukunft etwa von mir wünschest, was ich von Dir erfahren soll, theile ihm mit. An mich selbst schreibe nicht. Meine Theilnahme und mein Schutz werden Dir und Paul nie entgehen, und ich werde mich Dir verpflichtet fühlen, wenn Du Dich mir in diesen Anordnungen pünktlich fügsam zeigst. Somit lebe denn wohl! Sei Gott mit Dir, und möge er uns Allen in seiner Gnade eine ruhige Zukunft verleihen!“

Pauline empfing den Brief gegen Mittag aus den Händen des damit beauftragten Reitknechtes. Sie hieß ihn warten und durchflog das Schreiben. Aber es schien, als könne sie den Inhalt nicht gleich fassen. Ihre Augen, ihr Herz suchten nach einem freundlichen Worte, suchten endlich nur nach der Anrede mit ihrem Namen, nach irgend einem Zeichen der Bewegung in der Seele dessen, der diesen Brief geschrieben hatte. Es war vergebens. Als sie das Blatt zum zweiten Male beendet hatte, ließen ihre bebenden Hände es zur Erde fallen.

Ihr Knabe, der dabei stand, glaubte, ein Zufall habe das Papier den Händen der Mutter entgleiten machen, und bückte sich, es ihr zu reichen. Sie hielt ihn davon zurück. Rühre das Blatt nicht an, sagte sie mit befehlendem Tone, rühre es nicht an!

Der Knabe war erschrocken; er lehnte sich auf den Schooß der Mutter, die sich niedergesetzt hatte, weil die Kniee ihr versagten. Sie küßte ihm den lockigen Kopf, ihre Thränen flossen auf ihn nieder. Er wollte bei dem Unbehagen, das ihn peinigte, gern Etwas thun, es los zu werden, wußte aber nicht, was, und fragte also, ob der Ludwig, der den Brief gebracht habe, fortgehen solle. Sie bejahte das, und der Knabe brachte dem Diener die Weisung.

Ist nichts zu bestellen, Mamsell? fragte der Reitknecht, die Thür öffnend.

Nichts! antwortete sie fest, und er ging davon. Der Knabe drängte sich an sie. Du weinst immer! sagte er, und da sie ihm nicht antwortete, setzte er nach einer Weile hinzu: Weine nicht, ich kann’s nicht leiden, wenn Du weinst! – Die Worte klangen herrisch in dem Munde eines Kindes, aber der Kleine schmiegte sich zärtlich an ihr Knie, während er sprach.

Dieses Mal indeß machte die Liebkosung des Sohnes keinen Eindruck auf die Mutter. Sie schob ihn leise von sich. Lehne Dich nicht immer an mich! Lerne allein stehen, Du wirst’s nöthig haben! sagte sie finster und streng.

Das verdroß den Knaben. Ich bin Dir nicht gut, Mutter! schmollte er.

Du hast auch keinen Grund dazu, entgegnete sie ihm. Ihre finstere Weise machte Paul bange. Es wurde ihm unheimlich bei der Mutter und in der Stube, und er lief zur Magd hinaus.

Als Pauline allein war, fing sie laut und heftig zu weinen an. Das währte eine geraume Zeit. Bisweilen war es, als wolle sie sich besänftigen, aber dann nahm sie den Brief wieder vor, den sie nach der Entfernung des Kindes von dem Boden aufgehoben hatte, und ihre Thränen flossen auf’s Neue.

Sie ließ beim Mittagessen die Speisen unberührt, war aber mit dem Knaben freundlich und legte ihm reichlich zu essen vor. Nach der Mahlzeit ging sie wieder daran, verschiedene Sachen einzupacken, indeß sie kam damit nur langsam vorwärts, denn sie setzte sich oftmals nieder, ihre Hände gegen die Stirn pressend, weil der Kopf sie schmerzte. Nach einer Weile stellte sie die Arbeit gänzlich ein und blieb wohl eine Stunde hindurch ruhig aufgestützt am Fenster sitzen. Dann stand sie auf, zog sich zum Ausgehen an, hieß den Knaben seine Mütze nehmen und verließ mit ihm das Haus.

Gleich am Eingange des Dorfes bog sie von der großen Fahrstraße ab und schlug einen Feldweg ein. Er führte durch den Wald in den Park des Schlosses. Durch eine Hecke trat sie in denselben ein. Es war hell unter den großen Bäumen, aber die Luft wehte stark und die Blätter rauschten mit leisem Klingen, sofern sie noch an den Bäumen hielten. Der ganze Boden war mit welkem, vielfarbigem Laube wie mit einem dichten Teppiche bedeckt, daß die Schritte bald unhörbar darüber hinglitten, bald es raschelnd nach sich zogen, je nachdem es trocken oder feucht war. Hier und da flog ein Vogel auf, hier und da kamen ein Hirsch oder ein paar Rehe aus dem Unterholze hervor und streckten zutraulich die feinen Köpfe mit den klaren, neugierigen Augen aus der leichten Umzäunung hervor. Die Mutter hatte dem Knaben oft von den schönen, schlanken Rehen und von den Hirschen mit ihren großen Geweihen erzählt, aber er hatte sie niemals gesehen, und seine Freude an den Thieren war sehr lebhaft. Er hatte den Rest seines Vesperbrodes in der Tasche und wollte sie füttern. Die Mutter gab es nicht zu.

Laß es gut sein, sagte sie, das ist Nichts für Dich; hier werden andere Kinder die Rehe füttern! – Sie hielt ihn an der Hand fest, um schneller mit ihm vorwärts zu kommen, und zeigte ihm im Vorübergehen die Statuen im Garten, welche große Blumenkörbe und schwere Füllhörner in den Armen trugen. Ein Ende weiter standen auf den Postamenten Knaben-und Mädchengestalten aus Stein gehauen, welche die Flöte bliesen und Guitarre spielten. Es war das Alles neu für Paul und machte ihm Freude; aber seine Freude konnte nicht aufkommen vor dem finstern Ernst der Mutter. Er fragte mehrmals: Wem gehören die Rehe? Wem gehören die Hirsche? Wem gehört das Alles? Sie antwortete ihm kurz: Dir nicht!

In der Nähe des Schlosses sah sie der Gärtner, der die Orangeriehäuser zur Nacht decken ließ. Er blickte ihr verwundert nach, weil sie seit Jahren nicht im Schloßgarten gewesen war, bot ihr den Guten Abend, sagte aber Nichts. So kam sie bis zu der Stelle, an welcher der kleine Fluß sich durch die Ausgrabungen zu einem großen Teiche verbreiterte und von wo sich das Schloß auf seiner Terrasse am stolzesten ausnahm. Die Sonne war schon zum Sinken geneigt, sie spiegelte sich in den Fenstern, daß sie leuchteten, als wäre Feuer dahinter. Auf den Terrassen standen, wie in Paulinen’s Garten, auch noch einige Stockrosen, die der Nachtfrost verschont hatte und die dem Knaben als etwas Bekanntes Vergnügen gewährten. Aber obschon die Terrasse durch das Schloß vor dem Winde geschützt war, waren auch hier die Bäume schon entlaubt. Die letzten acht Tage hatten sie sehr mitgenommen, ihre Blätter schwammen auf dem Wasser, von dem der Nebel aufzusteigen begann, denn die Luft war klar und kalt.

Die vielen Schornsteine des Schlosses, die sich, drei, vier aneinandergelehnt, emporhoben, fielen dem Knaben auf.

Zähle die Schornsteine und merke Dir Alles, denn hier wohnt Dein Vater! Das ist Deines Vaters Haus! sagte die Mutter mit dem kurzen, nachdrücklichen Tone, der alle ihre Worte auf diesem Wege dem Kinde auffallend und eindringlich machte, ohne daß es wußte, weshalb ihm Alles so besonders klang.

Zähle die Schornsteine, wiederholte sie, und zähle, wie viel blanke Fenster das Schloß hat, und wie viel große Thore und Thüren. Hinter den blanken Fenstern, in denen die Sonne sich so golden spiegelt, werden glückliche Kinder wohnen und spielen, aber Du wirst nicht hineinkommen in das Haus. Merke es Dir gut. Das ist Schloß Richten! Hörst Du, Paul! Das ist Schloß Richten, das gehört dem Baron von Arten, dem Onkel Baron, und der Onkel Baron ist Dein Vater! Der Baron von Arten ist Dein Vater, Paul!

Sie sah den Knaben an, sein ernstes Gesicht, in dem sich ein großer Scharfsinn kundgab, befriedigte sie. Weißt Du’s jetzt? fragte sie.

Ja; das ist Schloß Richten, das gehört dem Onkel Baron, und der Baron von Arten ist mein Vater! sprach der Kleine ihr halb verwundert und halb im Schrecken nach.

Merk’ Dir’s, Dein Vater heißt Herr Baron von Arten! wiederholte sie. Sage das noch einmal nach!

Mein Vater heißt Herr Baron von Arten! sprach das Kind; und ich komme nie hinein! setzte er aus freiem Antriebe hinzu, denn es that ihm leid, daß er nicht hinein sollte in das schöne Schloß zu den glücklichen Kindern, die einst hinter den goldenen Fenstern spielen würden.

Mache, daß Du hineinkommst! rief die Mutter mit unterdrückter Stimme, denn Dir kommt es zu, dort in dem Schlosse zu wohnen. Dir kommt es zu! Hörst Du, Dir! Du bist der älteste Sohn! Dir kommt es zu, dieses Schloß!

In dem Augenblicke hörte sie Schritte. Sie fuhr zusammen, faßte ihres Sohnes Hand, und als sie sich umwendete, stand der Caplan vor ihr. Er hatte sie aus dem Fenster seines Zimmers auf der Terrasse gesehen und kam besorgt herab, sie zu fragen, was sie hierher geführt habe.

Paul soll doch wenigstens einmal sehen, wo sein Vater wohnt, antwortete sie trocken. Da er den Park und das Schloß nie hat betreten dürfen, so lange wir hier lebten, soll er es sich genau betrachten, ehe wir von hier scheiden.

Der Caplan machte keine Einwendungen dagegen. Er sprach ihr und dem Kinde freundlich zu, aber er suchte sie, indem er vorwärts ging, von der Terrasse, auf welche auch die Fenster von dem Zimmer des Barons hinaussahen, fortzubringen, und weil die Achtsamkeit des Knaben sich auf die Schwäne unten im Flusse hinwendete, gelang es Jenem leicht, Mutter und Sohn dorthin zu leiten. Am Flusse blieb Pauline stehen. Die Sonne war herunter, das Wasser sah schon ganz finster und schwarz aus, die Schwäne zogen mit ihren weißen gehobenen Flügeln langsam darauf hin.

Sieh’, wie breit der Fluß hier ist! sagte Pauline, der geht durch das ganze Land, und ist tief, sehr tief. Noch ein paar Wochen, dann wird er gefroren sein. Vergiß das nicht, Paul! Oben liegt das große, helle Schloß und unten fließt das tiefe, finstere Wasser! Wirst Du das behalten?

Ja! versicherte der Knabe.

Nun, dann können wir gehen! rief die Mutter, blieb aber doch noch einmal stehen, um noch einen Blick auf das Schloß zu werfen, und sagte: Da oben ist auch Alles leer, all die Stuben von der seligen gnädigen Frau und von dem gnädigen Fräulein! Die haben auch Platz machen müssen!

Sie seufzte, wollte noch Etwas sagen, unterließ es jedoch und wünschte dem Caplan eine gute Nacht, wobei sie ihm dankte, daß er so viel Geduld und Nachsicht mit ihr gehabt habe und daß er sie und den Knaben hier nicht gestört. Er versuchte, mit ihr von ihrer Reise, von ihrer Einrichtung in der Stadt zu sprechen, und geleitete sie während dessen bis zum Parke hinaus. An der Pforte desselben bat er sie, sie möge das Wort halten, das sie ihm neulich gegeben, den Baron nicht weiter zu beunruhigen.

Was ich versprochen habe, das habe ich versprochen und das werde ich halten! Was der Herr Baron von mir noch hören soll, das erfährt er durch Sie, Hochwürden! betheuerte sie.

Der Caplan lobte das, sie boten sich nochmals gute Nacht, und Pauline schritt mit ihrem Sohne durch die hereinbrechende Dunkelheit gen Rothenfeld nach Hause.