Von Geschlecht zu Geschlecht. Der Freiherr. Erstes Buch.

Autor: Lewald, Fanny (1811-1889), Erscheinungsjahr: 1871
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Erstes Capitel. - Adel, Geschlechter, Provinzen, Standesunterschiede, Vorrechte des Adels, Fürstenschlösser, Grundbesitz, Richter-Collegien, Verwaltung, Militär, Glücksgüter, Privilegien, Talente, Gerichtsbarkeit, Tyrannei, Leibeigenschaft.
  2. Zweites Capitel. - Caplan, Rothenfeld, Freiherrn, Baron, Stockrosen, Zinngeräthschaften, Canapé, Kaffeegeräth, Nähkästchen, Nußbaumholz, Dormeusenhaube, Baronin, Schloss, von Kindesbeinen an.
  3. Drittes Capitel. - Glaubenssache, Halbbildung, Charakterstärke, Eigensinn des Herzens, Wüstling, gewöhnlicher Lebemann, herzloser Aristokrat, schwärmender Phantast, Herzensgüte und Verstand, Eitelkeit, Prachtliebe, Ehre und Ruhm, Landleben, Staatsdienst.
  4. Viertes Capitel. - Schreib-Bureau, Briefschaften, Feuerflocken, Kirchhof - Mahnung an unsere Vergänglichkeit, Ruhestätte für manches Leiden, Lust am Leben, Zeugnisse der Vergangenheit, Bestreben der Selbstvollendung, Streben nach Wahrheit.
  5. Fünftes Capitel. - Berka, Halle, geschäftige Dienerschaft, Herzbeklemmung, Gemühtsbewegung, Toilette, Kammerdiener, Gräfin, trefflicher Gesellschafter, Berlin, Reisewagen.
  6. Sechstes Capitel. - Die Erfahrung, welche der Baron an dem ersten Tage seiner Ehe gemacht hatte, ward ihm eine Anmahnung zur Selbstbeherrschung, ...
  7. Siebentes Capitel. - Wären Aeußerungen wie diejenigen, welche Angelika bei Frau von Uttbrecht vernommen, in dem Hause ihrer Eltern, in den Tagen ihrer glücklichen Unbefangenheit an sie herangekommen, ...
  8. Achtes Capitel. - Es war eine eigenthümliche Lage, in welcher der Caplan sich jetzt gegenüber der freiherrlichen Familie befand. Er glich dem Manne, welchen man zu einem Gastmahle eingeladen hat, und der ...
  9. Neuntes Capitel. - Der Winter entschwand auf diese Weise, ohne daß der Baron an die Rückkehr auf das Land gedachte. Er fand Behagen an der Residenz, ...
  10. Zehntes Capitel. - Zu einer Wirksamkeit auf ihre Umgebung gehört für eine Frau ein besonderer Sinn. Gaben des Geistes und Güte des Herzens thun es nicht allein. ...
  11. Elftes Capitel. - Am folgenden Morgen, ganz in der Frühe, begrub man Pauline, fern von den anderen Todten in einer Ecke an der Mauer, auf dem Kirchhofe von Neudorf...
  12. Zwölftes Capitel. - Am Morgen des Hochzeitstages schien die Herbstsonne hell über das Thal und über Schloß Richten. Es waren viele Gäste im Hause. ..
  13. Dreizehntes Capitel. - Entschlüsse, welche man unter dem Einflusse einer augenblicklichen Gefühlserregung faßt, sind bei den meisten Menschen wie ein Rausch, ...
  14. Vierzehntes Capitel. - Mitternacht war vorüber, als Angelika selbst die Herzogin nach ihren Gemächern geleitete und von dieser mit einer Umarmung entlassen wurde...
  15. Fünfzehntes Capitel. - Neben diesen Befürchtungen und Hoffnungen für die Monarchien und den Adel im Allgemeinen war es der Kirchenbau, welcher bald ein Gegenstand ...
  16. Sechzehntes Capitel. - Die breite Stiege hinauf geleitete der voranschreitende Diener den jungen Baumeister über den weiten Flur und durch ein Vorgemach nach dem Zimmer der Baronin, ...
  17. Siebzehntes Capitel. - Mehrere Tage waren in Verhandlungen und Berathungen vergangen, ohne daß man zu einem Abschlusse gelangt wäre. Da saßen an einem Nachmittage, ...
  18. Achtzehntes Capitel. - In den Augenblicken, in welchen Angelika sich also mit ihrem Gewissen berieth und zweifelnd und bange auf ihr ganzes Dasein blickte, ...
Auszug aus dem ersten Kapitel

Die Herrschaft Richten war eine der reichsten Besitzungen in der Monarchie, und die Freiherren von Arten, denen sie gehörte, eines der ältesten Geschlechter des inländischen Adels. Sie waren am Hofe wohlgelitten, in der Provinz, in welcher ihre Besitzungen lagen, geachtet und beliebt, und jene ruhige Vornehmheit, welche die alten Geschlechter kennzeichnete, hatte in den Freiherren von Arten stets ihre würdigsten Vertreter gefunden.

Es war damals aber auch das goldene Zeitalter für den Adel. Die Standesunterschiede wurden in der Gesellschaft noch aufrecht erhalten, und hatten doch aufgehört, eine Schranke für den Edelmann zu sein, wenn er geneigt war, sich gelegentlich über dieselbe fortzusetzen. Sie schützten ihn, ohne ihn zu hindern. Die Vorrechte des Adels waren groß im Staate, seine Pflichten und Lasten für das Allgemeine sehr gering. Der Grundbesitz war fast ausschließlich in seinen Händen, und man hatte trotzdem bereits angefangen, die Güter gewerblich zu benutzen und ihren Ertrag dadurch zu erhöhen. In den Fürstenschlössern, in den Richter-Collegien, in der Verwaltung und im Militär, überall herrschte der Adel vor, und daneben hatte er sich vielfach eine Bildung erworben, die zu besitzen er stolz war. Er hatte sich den Gelehrten, den Schriftstellern, den Künstlern und Dichtern genähert und befreundet, da er selbst bedeutende Menschen und schöne Talente in seinen Reihen zählte, und während man sich auf diese Art völlige Freiheit für jedes Streben und Thun zu sichern verstand, wagten die bürgerlichen Klassen es noch nicht, dem Adel die Vorrechte streitig zu machen, welche er sich angeeignet hatte und nun seit Jahrhunderten besaß.

Kamen diese Glücksgüter und Privilegien rohen Naturen in die Hände, so boten die eigene Gerichtsbarkeit und die theilweise noch zu Recht bestehende Leibeigenschaft den Gutsherren die Mittel zu einer Tyrannei, unter welcher das Land und die Leute schwer zu leiden hatten; und Selbstsucht und Willkür auf der einen Seite erzeugten dann auf der anderen einen Haß und eine Aufsässigkeit, die um so erbitterter wurden und um so tiefer wurzelten, je weniger sie sich kund zu geben vermochten. Gelangten aber wohlwollende und gebildete Edelleute zu dem Gebrauch solcher aristokratischen Rechte und Macht, so bildete sich durch ihren vorsorglichen und mäßigen Gebrauch zwischen der Gutsherrschaft und ihren Hörigen ein Verhältniß des Schutzes und der anhänglichen Dankbarkeit heran, welches in den Edelleuten das Gefühl einer gewissen Souverainetät entstehen ließ und ihnen neben dem Bewußtsein ihrer großen persönlichen Freiheit eine würdevolle Herablassung verlieh, die sie beliebt und dadurch liebenswürdig machte.

Der Freiherr Franz von Arten, welcher die Herrschaft Richten zu Ende der achtziger Jahre im vorigen Jahrhundert besaß, war in diesem Sinne das Musterbild eines Edelmannes. Er hatte eine vortreffliche Erziehung genossen, hatte viele Jahre seiner Jugend auf Reisen zugebracht, lange und mit großem Erfolge an den verschiedenen Höfen von Europa verweilt, und sich dadurch jene weltmännische Gewandtheit zu eigen gemacht, welche ihm den Anspruch gab, unter seinen Standesgenossen für einen vollkommenen Cavalier zu gelten. Aber neben den leichten, gefälligen Formen hatte er, wie die Richtung jener Zeit es eben mit sich brachte, sich auch eine schönwissenschaftliche und künstlerische Bildung erworben, und Schloß Richten, das von seiner mäßigen Höhe weithin über das rundum flache Land bis zu den fernen Gebirgen hinabsah, zeigte in seinem Aeußern wie in seiner inneren Einrichtung, daß es von einem eben so prachtliebenden als gebildeten Edelmanne bewohnt werde.

So lange sein Vater lebte, hatte der Baron sich trotz aller Vorstellungen desselben nicht zur Ehe überreden lassen. Er fühlte sich nach den Erfahrungen, welche er bei den Frauen gemacht hatte, nicht geneigt, seine Zufriedenheit und seine Zukunft weiblichen Händen dauernd anzuvertrauen, und erst das Ableben seines Vaters, das den Baron als den letzten Arten von der Linie Richten antraf, brachte ihm mit der Pflicht, für das Fortbestehen seines Stammes zu sorgen, den Entschluß, sich zu vermählen.

Der Baron war damals in der Mitte seiner vierziger Jahre und ein schöner Mann. Hätte er bis dahin weniger Erfolg bei den Frauen gehabt, so würde er vielleicht in diesem Alter noch das Verlangen gefühlt haben, eine Heirath zu schließen, an welcher das Herz lebhaften Antheil genommen. Er hatte aber viel geliebt und zweifelte gar nicht daran, Neigung zu erwecken, wo er solche anzuregen und zu gewinnen wünschte. Er schritt daher sehr kaltblütig zu einer Wahl und hielt sich bei derselben nicht eben lange auf.

Nächst den Freiherren von Arten waren die Grafen Berka das angesehenste Geschlecht der Provinz. Die Ahnenreihe der Herren von Arten reichte allerdings weiter in die Vergangenheit zurück, dafür hatten aber die Grafen Berka dem Lande in dem letzten Jahrhundert einen seiner bedeutendsten Feldherren und einige einflußreiche Staatsmänner gegeben, und reich waren die Häuser, eines wie das andere. Nur ein wesentlicher Unterschied waltete zwischen ihnen ob. Die Grafen Berka waren, wie der ganze Adel der Provinz und wie das ganze Landvolk, protestantisch; die Herren von Arten hingegen hatten in den Heeren des deutschen Kaisers gefochten bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges und waren Katholiken geblieben für und für.

Indeß der Adel war im Allgemeinen in jenen Tagen, von denen wir erzählen, nicht orthodox, und Baron Franz fand in sich kein Bedenken gegen eine Ehe mit einer nichtkatholischen Frau. Die Frauen des Berka’schen Geschlechtes waren zudem fast alle schön, es umgab sie der Ruf strengen Wandels, und die Verehrung, welche sie genossen, hatte ihnen jene Ruhe und Sicherheit in der äußeren Erscheinung gegeben, welche den Frauen des hohen Adels so viel anmuthige Freiheit verleiht.