Ludwig Aegidi

Dieser etwas verstümmelte Römername klingt wie aus der antiken Welt zu uns herübergekommen. In Preußen sind solche altklassische Namen nicht selten. Es gibt dort manchen Moebius und Magnus, Lucius und Mutius, und diese Herren sind doch keine Römer, sondern manchmal — Junker. Auch Herr Aegidius war kein Römer, war nicht nur Preuße, sondern sogar Altpreuße und dazu ein solcher, der sich im Kreise der Junkerschaft heimisch fühlte. Wie aber Eckermann wenig wäre ohne Goethe, so wäre Aegidi nur ein Halber ohne Bismarck. Über den Kanzler hat er eine Äußerung getan, die mehr den Satelliten, als den Gewaltigen kennzeichnet. „Dieser seltene Mann, dieser einzige,“ sagte er, „ist denkbar nur in Deutschland, wohl nur in Preußen, und nur in unserm Landadel.“

Auch er war also einer von den Planeten, die um die Sonne Bismarck kreisten. Auch ihm gegenüber pflegte sich der stets mit Elektrizität gesammelte Riese zu entladen. Auch zu ihm sprach das Orakel von Friedrichsruh von den Geschehnissen der Zeit.


Aegidi hatte sich, nachdem er Erzieher im Hause derer zu Stolberg-Wernigerode gewesen, bereits in jungen Jahren in der Umgebung der preußischen Minister aufgehalten. Er war der Privatsekretär der beiden Auerswald und des Grafen Dönhof-Friedrichstein. Wie ein Erbstück wanderte er aus der Hand des einen Ministers in die des andern. Doch als Dönhof ihm mitteilte, er hätte dem bisherigen „Diätar“ die Stelle eines „etatisierten Hilfsarbeiters“ im Auswärtigen Amte gesichert, schlug er dies aus, um nicht unter Manteuffel dienen zu müssen*).

Einen Überfluss an Vertrauen hatten ihm jene Minister keineswegs geschenkt. Es war die Zeit der Geheimtuerei, und sogar ihren Vertrauten gegenüber machten die Herren aus ihren Herzen eine Mördergrube. Aegidi hatte sich nicht selten zu beklagen, dass er unorientiert an die Arbeit ginge.

Was Vertrauen sei, lernte er erst unter Bismarck kennen. „Ich möchte es,“ äußerte er, „als Großmut bezeichnen, wie er den Beauftragten überschüttete mit einer Fülle von Eröffnungen des Geheimgehaltenen.“ Die ältesten Zöpfe im Auswärtigen Amte erschraken darüber, dass ihr Chef seinen Untergebenen zu vieles mitteilte; insbesondere der Vorsteher des Zentralbureaus, der gute Roland, war ganz außer sich, wenn Herr Aegidi unter Berufung auf den Minister-Präsidenten die Akten über die wichtigsten und geheimsten Vorgänge vor sich ausgebreitet haben wollte.

*) Vgl. „Deutsches Wochenblatt“ vom 12. August 1898 (aufgenommen in Poschingers „Neue Tischgespräche und Interviews“. II. Bd. Stuttgart, 1899).

Von 1871 bis 1877 war Aegidi dem Kanzler in solcher amtlichen Stellung zur Seite gewesen. Nie hätte er es sich träumen lassen, dass das Schicksal es ihm vorbehalten, einst unter dem Gewaltigsten der Zeit arbeiten zu dürfen.

Wir sprechen fast die Enthusiastensprache, die er stets im Munde führte. In Professoren- und Politikerkreisen nannte man ihn, wie mir dies eine akademische Seite mitteilte, seines träumerischen Enthusiasmus wegen „Aegidius Dusel“ . . . Ja, es sind, wie es scheint, nicht so ganz unvereinbare Dinge, des Abends bei Wrangels, Stolbergs, Bismarcks den Tee zu nehmen und bei Tag als ordentlicher Honorar-Professor der Berliner Universität über Kirchen- oder Völkerrecht oder deutsches Staatsrecht zu lesen oder zu schreiben und dabei in einen gehobenen Ton zu verfallen, manchmal begeistert zu perorieren, zuweilen gar in mystisch chiliastischer Terminologie das Zeitalter des ewigen Friedens zu träumen. Die Objektivität gebietet anzuerkennen, dass aus der harten Scholle und dem Kartoffelboden dieses Altpreußentums im Laufe der Zeiten so manches ideale Gebilde herausgeblüht hat. Auch die Brüder Humboldt waren ja preußische Junker.

Aegidi war 1825 in Tilsit geboren. Diese Stadt an der Memel ist in einer für Preußen traurigen Weise mit der Epoche des ersten Napoleon verknüpft. Hier war es, wo 1807 der Friede zwischen Napoleon, Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. unterzeichnet ward, der den Preußenkönig die Hälfte seines Landes kostete. Unweit der Schiffsbrücke zeigt man noch heute das Haus, in dem der unglückliche König und seine Gemahlin Luise wohnten. Doch in Tilsit steht man auch vor dem Rathause ein Standbild des dort geborenen Max v. Schenkendorf, der in kurzem Leben so manches feurige Lied für die große deutsche Erhebung gesungen, die auf die unglücklichen Tage von Jena, Auerstädt und Tilsit gefolgt war. Und diese Lust seiner Heimat mit ihrem Weh um die an den korsischen Despoten verlorenen Lande und mit dem Dichtersehnen nach Vergeltung und Befreiung hatte Aegidi in sich aufgenommen. Seine erste Schrift schon „Fürstenrat nach dem Luneviller Frieden“ berührte die Vorläuferin der Tage von Tilsit, also jene große deutsche Schande, die den Deutschen das linke Rheinufer gekostet hatte. Aegidi bekämpfte die Reaktion als Mitarbeiter der „Konstitutionellen Zeitung“, deren Redakteur Rudolph Haym war. Dann dozierte er in den fünfziger Jahren in Göttingen, über dem noch ein Hauch lag, der von den Sieben ausgegangen war, und in Erlangen, wo kurz zuvor noch Friedrich Rückert gewirkt hatte. Und nun beginnt seine größere publizistische Tätigkeit im Dienste Preußens und dessen berufener Vorkämpferschaft für die deutsche Einheit. Diesem Zwecke dienten seine Schriften „Der deutsche Kern der italienischen Frage“ und „Preußen und der Friede von Villafranca“.

Er war in das preußische Abgeordnetenhaus eingetreten, wo er mit den Freikonservativen ging und die Anlehnung an die Nationalliberalen befürwortete. Bismarck, seit lange auf ihn aufmerksam geworden, hatte seine Berufung an die Universität Bonn unterstützt. Da nun geschah es, dass ihn im Jahre 1871 sein Altersgenosse und Freund, der Geheime Legationsrat Robert v. Keudell, in Freienwalde a. d. Oder aufsuchte, wo er die Osterferien verbrachte, und ihm die Aufforderung Bismarcks übermittelte, als vortragender Rat in der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes das Preßdezernat zu übernehmen. Aegidi war verblüfft. Es war schon etwas lange her, dass er in einem Ministerium gedient hatte. Er war nun ganz Professor, lebte gar so freuchg in dem schönen Bonn, promenierte dort gar so gern auf dem alten Zoll und hatte sich schon ganz an das rebenbewachsene Siebengebirge gewöhnt. Er gab zuerst ausweichenden Bescheid und nannte fünf Persönlichkeiten, die sich wohl besser eignen könnten, dem Rufe des Kanzlers zu folgen. Immerhin nahm er sich Bedenkzeit, und bald machte er Herrn v. Keudell den Vorschlag, das ihm zugedachte Amt provisorisch übernehmen zu dürfen, um zu sehen, ob er sich in dasselbe schicken würde.

Mitte Juni begann das Provisorium. Am 16. zog der neue deutsche Kaiser an der Spitze des siegreichen Heeres durch das Brandenburger Tor in Berlin ein. Aegidi war dabei und erlebte seine besondere patriotische Genugtuung. Am hundertsten Geburtstage Friedrich Wilhelms III., am 3. August 1870, hätte im Lustgarten das Denkmal des Herrschers enthüllt werden sollen, der in Tilsit das halbe Königreich an Napoleon hatte abtreten müssen und alsdann in mutvoller Beschämung sein Volk gegen den Tyrannen aufrief. Doch König Wilhelm hatte auf den Kriegsschauplatz nach Frankreich eilen müssen. Nun kehrte er als Kaiser zurück, und es war sein Befehl, dass die siegreich einziehenden Truppen sich zum Lustgarten bewegten und um das noch verdeckte Monument scharten. Die Hülle fiel. Aegidi, der Sohn Tilsits, war zugegen, wie „die gewaltigen französischen Trophäen dem zu Füßen gesenkt wurden, der einst Unsägliches von Frankreich erduldet und aus der heroischen Befreiung von der Fremdherrschaft kargen Schmerzenslohn gewonnen, worauf aber 1866 und 1870 der Sohn vollen Ersatz erkämpft“. Dem Tilsiter schien es ein feierlicher Augenblick der Vergeltung, ein geschichtlicher Triumph.

In so gehobener Stimmung trat er in sein Amt. Er sollte, wie gesagt, das Pressedezernat übernehmen. Wie aber war er verlegen, als er in Abwesenheit Bismarcks, der gleich nach dem Einzuge Berlin verlassen, ein Pressebureau zu verwalten hatte, das er mit leiblichem Auge gar nicht zu gewahren vermochte. Er richtete auch keines ein — er allein war sein Pressebureau, das eben, so lange Aegidi amtstat, auf zwei Augen gestellt blieb. Doch nein — eigentlich auf vier Augen. Von den zwei Augen des Kanzlers mussten die zwei des Professors, nunmehr Legationsrates, ablesen, wie die Öffentlichkeit über die Zeitereignisse unterrichtet werden sollte. Aegidi durfte also, ohne eine Unwahrheit auszusprechen, im Rückblicke auf jenes sein Amtswalten sagen: „Ein ,Preßbureau‘ gab es nicht, wie es ein solches, so lange ich das Dezernat inne hatte, nur in Träumen meiner Widersacher gegeben hat.“ Also Aegidi nur war Dezernent in Pressesachen, war es innerhalb einer amtlichen Ordnung, die mit Referenten, Konsulenten, Assistenten, Repetenten und anderen — enten so reich ausgestattet war.

Die Presse war ihm ja nicht ganz fremd. Mit Gervinus hatte er 1847 an der für den Gang der deutschen Dinge so bedeutungsvollen Begründung der „Deutschen Zeitung“ in Heidelberg teilgenommen. Diese Herren von der „Deutschen Zeitung“ hatten nicht nur vielfach gegen den Strom der öffentlidien Meinung, sondern auch gegen manchen Teufel in der Setzerei anzukämpfen, der anderer Meinung war als der Leitartikel und in diesen aus Gegensätzlichkeit der Gesinnung hie und da einen bösen Druckfehler hineinschmuggelte. Da ward etwa die Prunksucht Friedrich Wilhelms IV. zu einer Trunksucht, die Loyalität in der bayrischen Hauptstadt zu einer Lolalität (Lola Montez) umgeprägt, da wurden gar aus den Kammerverhandlungen Jammerverhandlungen. So erzählte mir dies der geistreiche polnische Publizist Julian Klaczko, der gleichfalls durch einige Zeit als ganz junger Mensch sich in Gervinus „Deutscher Zeitung“ betätigt hatte.

Die „Deutsche Zeitung“ war für Aegidi die Vorschule zu weiterer publizistischer Wirksamkeit, und namentlich an parlamentarischen Versammlungen, wie in der Paulskirche zu Frankfurt und dann in Erfurt, hatte er sein journalistisches Talent erprobt. Er machte an sich die Erfahrung, dass wer einmal Druckerschwärze gerochen, sie nimmer los wird. Und so fühlte sich denn der Pressedezernent an seinem Platze.

Am 3. Juli 1871 kam er endlich vor das Angesicht seines neuen, nunmehr allmächtigen Chefs, und bald entwickelte ihm der Kanzler seine Ansichten über die Presse und die Stellung der Regierung zu derselben. Dem Dezernenten war es nun klar, dass es ihm obliegen würde, sozusagen der bei der öffentlichen Meinung beglaubigte Gesandte des Kanzlers und der Staatsregierung zu sein. Er würde, so sagte er sich nach Bismarcks Darlegungen, berufen sein, jederzeit wissen zu müssen, was das Staatsinteresse wolle — er würde das Sprachrohr, der Vermittler der Gesamtanschauung des Kanzlers sein. Die Aufgabe, wie dieser sie ihm absteckte, schien ihm eines ernsten Patrioten würdig, und voll Enthusiasmus berichtete er sofort an seine Freu, wie ihn der Fürst im Gespräche über die Höhen des Lebens geführt und ihm Aus- und Einblicke in das intimste geschichliche Walten geboten. In allem Überschwange schrieb er ihr: „O, ich will alles daran setzen, seine Zufriedenheit zu erwerben; das ist mein Ziel. Gelingt es, dann trennt mich von den großen Aufgaben nichts auf der Welt! Eine solche Stunde des Gespräches mit ihm wiegt Wochen des Wartens, der Entbehrung auf. Es ist auch ein Genuß und einer, den auf anderem Felde Goethe und Shakespeare gewähren — ein Tête-à-tête mit dem Genius, dessen „Dichtungen“ historische Wirklichkeiten sind. Daran mag ich gar nicht denken, was ich darum gäbe, 1866 und noch früher ihm nahe gekommen zu sein und bescheidentlich mit in die Räder der werdenden Dinge eingegriffen zu haben. Doch nein, vorwärts blick' ich und danke Gott, dass ich dessen jetzt gewürdigt werde. Leichten Sinnes schreite ich, ein begeisterter Student des Genius neuester Geschichte, mit flatterndem Gewande über Bergeshöhen und freue mich des Lebens! Du fühlst, dass ich begeistert bin . . . Aber ich muss mir meine Feldzugspläne entwerfen: es ist keine Kleinigkeit, ,mitzuarbeiten‘.“

In der Tat, wie ein Student sprach und schrieb er damals, und doch war er ein bemoostes Haupt von 46 Wintern. Und diese Stitter wo dienstimmung hielt noch einige Zeit an. Denn nicht nur die Motive schon begangener Handlungen, sondern auch manche seiner geheimsten Absichten für die Zukunft legte der Kanzler vor ihm frei.

Schon beim ersten Empfange hatte er ihn von dem Plan unterrichtet, die katholische Abteilung im Kultusministerium aufzuheben. Dieser wäre, meinte Bismarck, sogar die Zulassung eines Nuntius [päpstlicher Botschafter] in Berlin vorzuziehen, und da bemerkte er, nach Völkerrecht hätte wohl eine Gesandtschaft die ernste Pflicht, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, während ein Nuntius der kirchlidie Obere über die Katholiken im Lande wäre. Gleichwohl wollte er noch lieber einen Nuntius als die katholische Abteilung, da dieser die Akten der Regierung zur Einsicht stünden, um so, statt die Rechte des Staates gegenüber der Kirche, die der Kirche gegenüber dem Staate vertreten zu können. Bald war Aegidi in der Lage, den Kanzler zu informieren, dass die katholische Abteilung intime Beziehungen zu den Nuntiaturen in Wien und München gepflogen, und dies beschleunigte ihr Ende.

Auch dass Mühler wegen des Schulaufsichtsgesetzes stürzen würde, durfte Aegidi rechtzeitig erfahren, und Bismarck nannte ihm sogleich Dr. Falk als den möglichen Nachfolger. Freilich, — verneinte der Fürst, stünden diesem die anti-liberalen Gesinnungen des Königs im Wege. Da war Aegidi in der Lage, Falk als einen von den Liberalen wegen seines Eintretens für die Reorganisation der Armee Verfolgten hinzustellen, und er hielt sogleich mit gedruckten Beweisen für diese seine Behauptung her. „Wohlauf zur Falkenbeize!“ rief denn Bismarck, der sich freute, nun dem König den Namen Falk mundgerechter machen zu können.

Aegidi wusste des Kanzlers Anschauungen in die Welt zu bringen, ohne sie für die des Kanzlers auszugeben, und so musste er, um dies nicht zu verraten, ost genug contre coeur die Bismarckschen Schlagworte unterdrücken. Nicht selten war es ihm peinlich, dass der Fürst im einzelnen Polemik zu treiben liebte. Dass er von seinem Chef aufgerufen ward „zu solchem Faustkampf im Kleinen“, widersprach seiner Auffassung, auf die Presse im Großen einzuwirken. Manchmal täuschte er sich betreffs Beeinflussung der Presse. Es gab eben Zeitungen, die gar nicht zu beeinflussen waren, und der Respekt dieses in die Bureaukratie hineingewachsenen Geistesmenschen vor der Presse musste so nur wachsen.

Sein Patriotismus versöhnte ihn mit dem vom Amte so schwer trennbaren Amtszopfe. Er gab also jetzt dem Vaterlande seinen Kopf, nachdem er sich im Kriege gegen Frankreich, den er als freiwilliger Krankenpfleger mitgemacht, die Zehe eines Fußes hatte abhacken lassen.

Dieser große Krieg bildete in den Stunden, die er als Gast des Kanzlers in Varzin hinbringen durfte, vielfach den Gegenstand der Unterhaltung zwischen den beiden, und mit Gier hing der Legationsrat an den Lippen des Meisters.

Während des Krieges hatte er eine einzige Begegnung mit dem Bundeskanzler gehabt, und von daher blieb ihm eine harte Nuss zu knacken. Die Begegnung erfolgte am 17. August 1870 in Tronville.

Zu Pferde kam hinter der alten Kirche Graf Bismarck hervor.

„Guten Morgen, Exzellenz,“ begrüßte ihn der Bonner Gelehrte.

„Guten Morgen, Professor Aegidi.“

Und Bismards: „Können Sie mir sagen, wo der General v. Voigts-Rhetz zu finden ist?“

„Wohl, Exzellenz, am Ende des Ortes, im letzten Hause bei den Johannitern dürften Sie ihn treffen.??

„Danke, danke,“ erwiderte Bismards in tiefster Erregung . . .

Lange Zeit war darüber vergangen. Aegidi hatte oft nachgedacht, was es wohl für eine Bewandtnis damit hätte, dass der Kanzler in so furchtbarer Aufregung die Kunde von dem Verbleib des Generals v. Voigts-Rhetz entgegengenommen. Eines Tages, als er Gast in Varzin war, fragte er sich die Sache vom Gewissen.

„Ich kann mir, Durchlaucht, noch jetzt den bewegten Dank nicht erklären dafür, dass ich den Aufenthalt des Generals v. Voigts-Rhetz bezeichnete.“

„Das erklärt sich so,“ erwiderte Bismarck, alle Erregung jenes Augustmorgens nach fühlend, „spät in der Nacht und noch früh am Morgen hatte ich die Nachricht erhalten, dass mein Sohn Herbert in der Schlacht gefallen und Bill verwundet worden wäre. Ich wollte sofort zu ihnen eilen und erhielt den Wink, Voigts-Rhetz könnte mir Auskunft geben, wo das erste Garde-Dragoner-Regiment läge. Da gaben Sie mir den Fingerzeig, der freilich verkehrt war. Trotzdem kam ich in dem Hause der Johanniter auf die Fährte, denn ich hörte, das Dragoner-Regiment kampiere ganz in der Nähe. Ich überzeugte mich nun bald, dass Bill wohl und munter und Herbert zwar verwundet wäre, glüchlicherweise aber nicht lebensgefährlich*).“

*) G. Schmidts „Schönhausen und die Familie Bismarck“ (Berlin 1897), welches das Kriegstagebuch Herbert Bismarcks enthält, (Aufgenommen auch in Poschingers „Bismarck-Portefeuille“ III. Bd.)

In Varzin pflegte Aegidi mit Lothar Bucher zusammen zu sein. Wie dieser einstige wütende Republikaner, mit dem der hitzige Junker Bismarck 1848 so scharf zusammengestoßen war, den seineren Takt und den schärferen Intellekt hatte, so hielt auch der Kanzler von ihm mehr als von Aegidi, und er räumte ihm eine Art Kontrolle über den Pressedezernenten ein. Aegidi war eben der weniger kritische, der weichere Mann und zugetan und treu wie ein Haushund.

Er hatte, als sich die Politik des Kanzlers, der so junkerhaft gewalttätig begonnen, dann liberal fortfuhr, wieder ultra-anti-liberal gestaltete, den Platz im Auswärtigen Amte geräumt. Da geschah es, dass er im Herbst 1877 zur Kur in Gestein weilte, wohin auch Fürst Bismarck kam. Er gedachte gar nicht, seinen vormaligen Chef zu sehen, denn er erinnerte sich an eine Bemerkung desselben: „Wer mich während meiner Badekur ohne Not aufsucht, den betrachte ich als meinen Feind.“ Da aber erfuhr der Kanzler von der bevorstehenden Abreise des Geheimen Legationsrates a. D. und beehrte ihn noch rasch mit einer Einladung zu Tische. Es gab eine mehrstünchge Auseinandersetzung über die Vorgänge der Zeit. Aegidi kam nach Bismarcks Tode auf jenen 12. September 1877 in Gastein zu sprechen und begann seine Erzählung mit den Worten: „Pünktlich um 3 ½ Uhr stand ich vor des Löwen Höhle.“

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„Vor des Löwen Höhle“ — es könnte als Titel über diesem Gelehrten- und Beamtenleben stehen. Es ist ein Dasein in mehreren Kapiteln, doch das weitaus inhaltsreichste ist dasjenige, das in den Jahren 1871 bis 1877 spielte — das Kapitel „Vor des Löwen Höhle“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow