Robert v. Keudell

Im Sommer 1873 hatte Robert v. Keudell den deutschen Gesandtenposten am Quirinal bezogen, und bis 1887 verharrte daselbst der kernige Ostpreuße, der Landsmann Immanuel Kants.

Der Staatsmann, der Italien regierte, als Keudells Schifflein am Tiber landete, war Marco Minghetti. Dieser Mann der Politik und der Finanzen war auch Biograph Rafaels von Urbino und konnte darum mit beiden Händen geben: dem kühlen Chplomaten, was des Staates, und dem Musiker in Keudell, was der Menschlichkeit und der Kunst ist. In dem alten, verwitterten Palazzo Mattei auf der Piazza Paganica pflegte des Ministerpräsidenten schöne Gemahlin, deren Name Laura fast so volkstümlich geworden war, wie der ihres berühmten Marco, interessante Menschen aus aller Herren Ländern zu empfangen. Die vielgefeierte Hausfrau setzte sich ans Piano — Laura am Klavier — und nicht selten geschah es gar, dass sie vierhändig miteinander spielten: der deutsche Diplomat und die feurige Italienerin.


Robert v. Keudell war ein Doppelwesen, halb der Musik, halb der Politik ergeben, mit dieser verheiratet, in jene verliebt — ein Mann, dessen Dasein sich zwischen dem Auswärtigen Amte und dem Konzertsaale, dessen Neigungen sich zwischen Otto v. Bismarck und Joseph Joachim teilten.

Ein künstlerischer Zug hatte ihn stets ausgezeichnet. Mit seinem vollen Namen hieß er Felix Robert v. Keudell, Felix also wie Mendelssohn-Bartholdy, in dessen Bannkreis er geraten war, noch lange ehe er von Bismarcks Existenz wusste. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verkehrte er bei Fanny Hensel, Mendelssohn-Bartholdys Schwester, und mit allen Poren nahm er in sich Musik auf.

Er war in Königsberg geboren, der Stadt der reinen Vernunft, und etwas zu vernünftig fand Ferchnand Gregorovius, ein Ostpreuße wie Keudell, dessen Spiel. Der berühmte Geschichtschreiber schrieb nach einem Zusammentreffen mit seinem Landsmann in Rom in sein Tagebuch: „Keudell lernte ich bei Wesdehlen kennen. Er spielte lange auf dem Klavier, worin er Meister ist — und auch dies sein Spiel erschien mir verstandesklar und ohne Poesie.“

Ein flotter Zug ging durch das Wesen dieses Mitarbeiters des Fürsten Bismarck, was sich auch darin zu erkennen gab, dass er während seiner römischen Zeit, ein sechzigjähriger Witwer, ein Mädchen von zweiundzwanzig Jahren, ein Fräulein v. Grünhof aus Koburg, ehelichte, die ihm drei Kinder gebären sollte. Das erstemal hatte er sich, ein sechsundvierzigjähriger Mann, mit einer Baronesse Patow vermählt. Diese Heirat, die er 1870 schloss, hatte ihn ein wenig der Familie Bismarck entfremdet. Während seiner Junggesellenzeit war er wie ein Kind des Hauses bei Bismards aufgenommen, dessen Gemahlin, Frau Johanna, wenn ihm auch gleichaltrig, ihn fast bemutterte, während der nur um neun Jahre ältere Bismarck infolge seiner Autorität und seines Verstandes ihn zuweilen fast väterlich beschützen konnte.

Nicht als Diplomat, sondern als Musikant hatte er seinen Einzug in das Bismarcksche Haus gehalten. Wie soll man sich ein deutsches Haus ohne Musik denken? Wo Deutsche zusammenleben, wird ein deutsches Lied laut. Und das deutscheste Haus, das Bismarcksche, sollte ohne Musik gewesen sein? Spricht man den Namen Bismarck aus, so erinnert man sich allerdings zunächst an die Musik der Kanonen, die er bei Sadowa und Sedan dröhnen machte, vielleicht auch an die kraftvolle Musik seiner Reden im Reichstage, auf die Europa zu lauschen pflegte. Wer aber denkt dabei an Beethoven oder Mendelssohn, an Sonaten und Etüden? Und doch hat es bei Bismarck auch Musik genug in diesem mehr häuslichen und künstlerischen Sinne gegeben . . . Robert v. Keudell war lange früher der Musikalische Hausgeist der Frau Johanna, ehe er der diplomatische Famulus Ottos wurde . . . Die Geschichte mag entscheiden, ob Keudell mit dem Notenheft am Klavier nicht fast ebenso Tüchtiges geleistet hat wie Keudell mit dem Aktenbündel am Schreibtische.

Er hatte nicht erst Frau Johanna v. Bismarck, sondern schon Fräulein Johanna v. Puttkamer kennen gelernt, und das Fräulein war damals Braut, also in selig musikalischer Stimmung. Eigentlich hieß sie v. Puttkamer-Reinfeld, und auch der Name ihres Otto war ein Kompositum: Bismarck-Schönhausen. Der damals schon Großes versprechende Otto trat dem noch jungen Keudell keineswegs in einem Amte, etwa in einem Ministerium, sondern bei dem Klavierbauer Kisting in Berlin zum erstenmal vors Angesicht. Ottos Braut, befreundet mit Keudells Muhmen und Basen in Pommern, hatte den zweiundzwanzig jährigen Robert während eines Aufenthaltes in Berlin zu Kisting bestellt, um sich von dem jungen Manne, der bereits ein Virtuos auf dem Klavier war, etwas vorspielen zu lassen und da durfte dieser auch Herrn v. Bismards begrüßen, den etwas über Dreißig alten Bräutigam. Der Virtuose prüfte Herrn Otto zunächst weniger auf die politische Gesinnung, als vielmehr auf seine — Stimme, Die Stimme, die durch ein Menschenalter die parlamentarischen Versammlungen in Atem halten sollte, gab sich dem Musikalischen Ohr des Virtuosen als weiche Sprechstimme in Baritonlage zu erkennen.

Keudell spielte eine Beethovensche Sonate, und diese erregte Musik brachte Bismarcks Seele in Schwingung, so dass ihm eine Träne im Auge erglänzte und er sprachlos blieb. Als Keudell später dem preußischen Staatsminister v. Bismarck mit demselben Stücke aufwartete, sagte dieser: „Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens.“ Hatte das schon damals so stürmische Temperament des jungen Mannes, den die Philister gern den tollen Bismarck nannten, etwas der Feuerseele Beethovens Verwandtes, so zuckte es auch in Johannas ruhigerem, klarem Gemüte von Erkenntlichkeit gegen den Interpreten der feierlich hinreißenden Sprache Beethovens.

In seiner „Kreutzer-Sonate“ hat Tolstoi zeigen wollen, wie berückend, verwirrend, trennend, zersetzend jene Kunst zu wirken vermag, die gemeiniglich von den Menschen und insbesondere den Frauen als verbindend und versöhnend angesehen wird. Nun, in dem Bismarck’schen Hause lernten wir die hehre Musica nur als die Harmonien säende, ausgleichende, erhebende, Freundschaft stiftende Kunst kennen, als die sie der asketische Prophet und Dichterpapst von Jasnaja-Poljana so wenig gelten lassen wollte. Herrn v. Keudell wenigstens hatte sie nicht nur mit den Bismarcks zusammengeführt, sondern für ein Vierteljahrhundert fest zusammengeschmiedet.

Keudell, der Diplomat, im Schatten der deutschen Rieseneiche Bismarck groß geworden, musste wohl über den Staatsmann im Kanzler in noch ungleich bedingungsloserer Bewunderung urteilen, als Keudell, der Musiker, über den Kunstdilettanten und Musikliebhaber im Fürsten. Es will demnach etwas heißen, dass Keudell der Musiker in seinem Buche „Fürst und Fürstin Bismarck“ das Gutachten abgibt: „Wenn Bismarck in späteren Jahren mitunter eine Melodie mitsummte oder für sich allein wiederholte, waren die Töne immer von unanfechtbarer Reinheit. Er hatte ein feines Gefühl für ernste Musik und oft große Freude daran.“

Keudell war geneigt, sein eigenes musikalisches Können fast so hoch einzuschätzen wie sein diplomatisches. Es war seine Überzeugung, dass er nie Diplomat geworden wäre, hätte ihn sein Weg nicht in die Nähe Bismarcks geführt, dass er aber nie mit Bismarcks intim geworden wäre, hätte es nicht seine Musik getan. Ich hatte Herrn v. Keudell einmal öffentlich gegen den oben zitierten Angriff von Gregorovius auf sein Klavierspiel in Schutz genommen, hatte dem Bedenken Ausdruck gegeben, ob der deutsche Geschichtschreiber wohl der berufene Mann war, über Keudells Spiel zu richten. Da dankte mir dieser in einem von Charlottenburg, wo er seine letzten Lebensjahre hin brachte, vom 14. Februar 1902 datierten Briefe, in dem es heißt:

„. . . Ihre Zweifel an dem Urteil von Gregorovius — dem der Musiksinn völlig versagt war — über mein aus Gefälligkeit auf einem elenden Pianino dargebotenes Spiel sind begründet. Wäre es richtig gewesen, so wäre ich sicherlich nie bei Bismarcks heimisch geworden. Vielleicht geben Sie mir einmal Gelegenheit, Ihnen hier oder bei mir auf dem Lande — vier Stunden von hier — Bearbeitungen Schubertscher und Beethovenscher Quartette und Orchestersachen vorzuspielen, die niemand außer mir spielt. Das würde mich sehr freuen.“

Er hat wohl kaum mit gleichem Selbstbewußtsein über seine diplomatische Kunst gesprochen. Und doch war er nicht der Letzte unter den Diplomaten. In Frankreich in jener großen Zeit, da auf fremdem Boden durch Schwert und Feder die lockeren Teile Deutschlands zusammengeschweißt wurden, tat auch er sein Bestes, er, der Intimen einer um den eisernen Staatsmann. Freilich, wer vermöchte zu sagen, ob nicht auch in Versailles Keudells Harfe fast ebenso mächtig gewesen wie Keudells Feder? Er konnte vor dem Bundeskanzler spielen, was ihm in den Sinn kam, musste aber schreiben, was ihm von einem höheren Willen diktiert ward. Zu dem österreichischen Titulargesandten v. Teschenberg hatte sich, wie dieser erzählte, Fürst Bismarck einmal scherzhaft geäußert: „Hier Herr v. Keudell — mein Phrasensack.“ Damit wollte der Kanzler offenbar andeuten, dass sich Keudell, wenn es sein musste, auch auf die Kunst verstand, schöne Worte zu drechseln. Hatte ihn aber Bismarck zum Diplomaten herangebildet, so hatte Keudell wieder das Verdienst, den Kanzler zum Musikrezensenten zu erziehen. „Diese Musik gibt mir das Bild eines Cromwellschen Reiters, der mit verhängten Zügeln in die Schlacht sprengt und denkt: Jetzt muss gestorben sein.“ So kritisierte Bismarck einen kurzen, feurigen Satz von Ludwig Berger, den Keudell ihm vorgespielt hatte.

Die Tage von Versailles waren die bewegtesten in Keudells Dasein. Damals hieß es nicht selten: Arbeiten bis tief in die Nacht, und es verging wohl mancher Tag, ohne dass er die Tasten des Klaviers berührt hätte.

Die Wichtigkeit der Stellung teilte sich auch Keudells äußerer Erscheinung mit. Es gibt ein Bild, das sich in seinem Besitze befand, darstellend den Grafen Bismarck und dessen Mitarbeiter während des französischen Feldzugs. Da sehen wir neben dem Gewaltigen seinen Sekretarius Lothar Bucher, schlicht und geschlossen, und neben diesem Delbrück, Abeken und Busch. Alle stehen, nur drei sitzen: der Kanzler, Graf Hatzfeld und Herr v. Keudell. Dieser schaut energisch drein, fast hart, hat den linken Arm auf den langen Säbel gestützt, und es ist, als ob er dreinhauen wollte.

Nach den französischen Stürmen kam der Friede, für Keudell ein doppelter Friede, denn er lebte nun in glücklicher Ehe. Es gab nach den wilden Tagen im Hauptquartier in Frankreich deutsche Winterpoesie: draußen üppige Schneeflocken und innen ein wärmendes Hausfeuer mit viel Klavierspiel.

Und es wurde immer wärmer. Vierzehn römische Jahre im Palazzo Caffarelli auf dem Kapitol sollten ihm beschieden sein. Als er nach Rom versetzt ward, schrieb Gregorovius: „Keudell kam als neuer Gesandter her und wurde von den Italienern mit offenen Armen empfangen. Sie sehen in der Sendung dieses Vertrauten Bismarcks eine Demonstration. Keudell ist Ostpreuße, und wie es mir scheint, hat er den echten Typus dieses Landes: Ein moralisch und physisch kerngesunder Mann, klar und fest, von vorwiegender Verständigkeit; der weichere Kern des Gemüts verschlossen in einer harten Schale . , . Der Ostpreuße ist die reinste und beste Prosanatur Deutschlands.“

Er hat in den römischen Jahren Deutschland gute Dienste in Italien getan. Welch einen Fortschritt bedeuten die mehrmaligen Römerzüge des Enkels Wilhelms I. gegenüber den Verhältnissen, wie sie sich darboten, als die Bresche der Porta Pia sich kaum geschlossen hatte!

Es war im Sommer 1874. Marco Minghetti und Robert v. Keudell weilten gleichzeitig in Tarasp im Unterengadin. Der italienische Ministerpräsident setzte dem deutschen Gesandten auseinander, von wie großer Wichtigkeit es für die internationale Reputation Italiens wäre, dass der alte Kaiser Wilhelm den ihm im Jahre zuvor erstatteten Besuch des Königs Viktor Emanuel II. bald erwiderte, und nicht etwa in Oberitalien, sondern in Rom selbst. Keudell bemühte sich Persönlich nach Berlin und Varzin, um den Kanzler zu bestimmen, den Wünschen Italiens gerecht zu werden. Doch bald musste er an Minghetti folgende Auskunft geben: Fürst Bismarck ist von den freundschaftlichsten Gesinnungen für Italien erfüllt. Der Gegenbesuch des Kaisers wäre in seinen Augen nicht nur ein Akt der Höflichkeit, sondern sogar eine politische Notwendigkeit . . . Der Kaiser wieder seinerseits will absolut nach Italien kommen, wenn es ihm die Ärzte gestatten, aber Fürst Bismarck glaubt nach reiflicher Überlegung, den Kaiser nicht nach Rom gehen lassen zu sollen. Der Kaiser schulde diese Rücksicht seinen vierzehn Millionen katholischer Untertanen. Kommt er nach Rom oder an dem Vatikan vorbei, ohne den Papst zu besuchen, so würde man das als eine der Person des geistlichen Oberhauptes der Katholiken angetane Beleidigung ansehen. Damit die Unterlassung des Besuchs in Rom aber nicht eine der wirklichen Denkweise des Berliner Kabinetts entgegengesetzte Auffassung erfahre, würde sich der Kaiser beeilen, die entschiedene Versicherung abzugeben, dass er in Rom die wahre Hauptstadt Italiens sehe und wenn er nicht dort den König besuche, der Grund dafür nur in Rücksichten auf die innere Politik Deutschlands zu erkennen sei.

Seither sind diese Rüchsichten längst gefallen. Keudell, dessen römischem Wirken es gelingen sollte, die Beziehungen Deutschlands zu Italien intimer zu gestalten, hat wacker mitgetan, dass die internationalen Notwendigkeiten sich gebietender darstellen konnten als die Empindsamkeit einer Minorität der deutschen Bevölkerung für die politischen Jeremiaden des Papstes.

Keudell hatte eben nicht nur mit Donna Laura Minghetti, sondern auch mit ihrem Gemahl Marco und später mit den Ministern Depretis und Crispi wirkungsvoll vierhändig gespielt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow