Rudolf v. Delbrück

Es war nach dem Ableben des Fürsten Bismarck, als Rudolf v. Delbrück, der Patriarch deutscher Staatskunst, zu längerem Aufenthalte auf dem Semmering weilte. Er hatte bereits das achtzigste Lebensjahr hinter sich, trat aber noch frisch und rüstig auf. Bei flüchtigem Anblick hätte man ihn fast mit Moltke verwechseln können. So sehr erinnerten seine Gesichtszüge an die des Schlachtendenkers und Schlachtenlenkers. Sein glattrasiertes Antlitz hatte einen Stich ins Pergamentene, seine hellen Äugen waren von durchdringender Schärfe. Er hatte etwas Forschendes und zugleich ruhig Betrachtendes, etwas von der Erscheinung eines Gelehrten. Lenbach hat ihn gemalt, und Delbrück hat auch im Bilde Ähnlichkeit mit Moltke, dessen Porträt von Lenbach weltberühmt ist. Den Greis sah man stets an der Seite seiner Frau, die fast um Kopfeslänge den kleingewachsenen und durch des Alter auch ein wenig verbogenen Mann überragte. Und ihr ganzer Habitus zeigte, dass sie wohl um ein Menschenalter jünger war als der Gatte. Auf der Terrasse des „Südbahnhotels“ oder in den umliegenden Fichtenwaldungen pflegten sie auszuruhen; er vergraben in die Zeitungen, die er las, ohne eine Brille zu benützen, sie blätternd in Sabatiers „Leben des heiligen Franziskus von Assisi“.

In Gehaben und Gesichtszügen war Delbrück eine Figur von altpreußischem Schnitt. Auch der Stock, den er stets in Händen hielt, schien ein Erbstück aus einer längst vergangenen Zeit. Diesen Stock glaubten wir auf manchem Gemälde Meister Menzels zu kennen. Es war der Krückstock des Großen Friedrich, von dem die Kopie, das obere Stück in Silber getrieben, sich im Besitze des alten preußischen Staatsministers befand. Delbrücks Koboldfigur selbst hätten wir uns unschwer in eine Szene aus Sanssouci mit dem Großen Friedrich als Mittelpunkt hineindenken können.


Der alte Delbrück war ein freundlicher, wohlwollender, dabei kühler Sprecher. Er schien das sonnigere Element als seine Gemahlin, die etwas steife und gemessene Dame, die er erkoren hatte, als er schon aller Welt der hartgesottene Junggeselle dünkte, der an alles eher dächte, als an Begründung eines Hausstandes.

Hier, tausend Meter über dem Meere, stand also Bismarcks berühmter Mitarbeiter vor uns. Die aus Wien und Deutschland eingelaufenen Zeitungen hatten wenige Tage früher an ihrer Spitze die Kunde getragen: „† Fürst Bismarck“. Einer flüsterte es dem andern zu, dass der Gewaltige, dessen Hauch einst die Welt bewegte, zu atmen aufgehört hatte. Wer von uns wird je aus seiner Erinnerung jenen Sonntagmorgen verlieren, an dem wir erfuhren, dass das im Sterben begriffene Jahrhundert, dem er seinen mächtigen Stempel aufgedrückt, ihn, der das Leben selbst war, nun noch überleben sollte? Nur einmal im vergangenen Jahrhundert hatte sich ähnliches zugetragen. Die Kunde von Napoleons I. Tode hatte die Menschen starr und stumm gemacht, und Manzonis Muse entrichtete dem Toten eine der klangvollsten Totenklagen, die je angestimmt worden. Doch wie hatten sich die Zeiten seither verändert! Fast war es das Leben des großen deutschen Reichskanzlers sollte, das den Raum zwischen dem Tode Napoleons I. und Bismarcks ausfüllte. Es hatte Wochen, ja Monate gedauert, ehe unser Planet, da die elektrische Telegraphie damals erst in den Anfängen war, erfuhr, dass er um jenen Napoleon ärmer geworden, der einst wie ein elektrischer Funke durch die Welt gezuckt und den Raum verkürzt hatte. Wie aber war es am Ende des Jahrhunderts! Am Sonntagmorgen des 31. Juli 1898 wußten es fünf Weltteile zugleich, dass am Abend zuvor der meistgenannte Mann der Zeit sein Sterbliches abgestreift hatte. „Fürst Bismarck gestorben“ — die Zeitungen, die sonst dem, was er gedacht, gewollt, gesprochen, ein tausend-, ein hunderttausendfaches Echo geliehen hatten, sie verkündeten nun, dass nicht mehr der Mann war, der durch seine Taten ihrem Schaffen, auch wenn sie, herausgefordert, tadelnd zu ihm Stellung nehmen mussten, die größte Triebkraft gegeben. Das Dramatische des Augenblicks hatte sich einem jeden mitgeteilt. Man glaubte sich mitten in die Geschichte hineingestellt, als man von Bismarckss letztem Seufzer hörte. Wie hätte sich die Feierlichkeit des Moments nicht auf denjenigen übertragen sollen, der mit dem Größten als Großer mitgetan hatte? Man sah ihn in jenen Augusttagen 1898 manchmal sinnend eine einsame Bank auf den grünen Seitenpfaden des Semmerings aufsuchen. Er wollte wohl ungestört sein, um sich ganz der Erinnerung an die Heroenzeit Deutschlands hinzugeben und mit geschlossenen Augen die Bilder aus Versailles und dem deutschen Reichstage, in deren Mitte auch er unter den Vordersten gestanden war, an sich vorüberziehen zu lassen.

Eine Heroenzeit! Er schien sie fast durch das Unheroische seiner Erscheinung Lügen zu strafen. Aber haben denn große Deutsche nicht häufig Heldentaten geleistet, wenn sie auch noch so wenig eine Heldenmaske trugen? Auch einen Kant stellen wir uns nicht von majestätischem Äußern vor, und einen Moltke sahen wir leibhaftig: dürr, unansehnlich, anspruchslos und schweigsam. Ein Heros im Sinne von Pflicht und Arbeit war auch Delbrück, und in Hinsicht auf das Nichtbestechende seiner Äußerlichkeit reihte er sich passend zu zwei Genossen im Alter und im Ruhme, die ihn um ein weniges als letzte Zeugen des Zeitalters überleben sollten, in welchem im neu gegründeten Reiche auch Kunst und Wissenschaft groß wurden — wir meinen Menzel und Mommsen, die beide, großbedacht mit Geist, in ihrer Körperlichkeit eher dürftig waren.

Delbrück war, wie äußerlich, so auch innerlich kein Fanfaron. Es verletzte sein pietätvolles, geschlossenes Denken an die mit Bismards verbrachte Zeit nicht wenig, dass so viele Großprecher und Großtuer sich würdig hielten, an dem frischen Grabe des Fürsten das Andenken an die Anfänge des Reiches heraufzubeschwören. Busch war ihm einer von vielen, war ihm ein Typus von tragisch tuender Betriebsamkeit, die ihn an die Indiskretionen erinnerte, die Varnhagen von Ense an dem kaum geschlossenen Grabe Alexander v. Humboldts aufgerollt hatte. Fast genierte es ihn nun, sich je in allzu großer Nähe von Busch bewegt zu haben.

Auf einem Bilde „Graf Bismarck und seine Leute im Hauptquartier zu Versailles“ figurieren Delbrück und Busch neben vielen anderen. Sie stehen beide, und Bismarck sitzt zwischen ihnen. Mit Bismarck spielten die verschiedenst gearteten Instrumente um des höheren Zweckes willen zusammen. Auf dem Bilde sind sie alle — im ganzen siebzehn Gestalten — uniformiert. Auch die diplomatischen Mitarbeiter des Kanzlers, Lothar Bucher, Abeken, Keudell, Hatzfeldt und Holstein tragen teils Offiziers-, teils Amtstracht. Nur Delbrück steht in dunklem Gehrock, lichten Hosen, mit dem Zylinder auf dem Kopf da. Fest, sicher schaut er vor sich hin, an Lothar Bucher vorbei zu Bismarck. Trotzig kehrt er sozusagen seine Bürgerlichkeit gegenüber den Uniformierten hervor. Er hob sich eben nicht nur im bürgerlichen Kleide von seiner Umgebung ab, sondern blieb auch in seiner geistigen Verfassung eine selbständige Individualität mitten in der ihn umringenden Beamtenwelt. Die fine fleur der Bureaukratie hat ihn Bismarck genannt. Sogar einen Bismarck ließ er fühlen, wer er war.

Die Zeitungen waren noch voll von Daten, Erinnerungen und Anekdoten über den Koloß, der kurz zuvor in Friedrichsruh zusammengebrochen war. Delbrück schüttelte den Kopf zu all dem, was er da las. Er wollte in mancherlei bewusste Sensations-Industrie erkennen, in anderem wieder bona fide niedergeschriebene Unrichtigkeiten. Er glaubte aber mit dem in den Zeitungen niedergelegten Memoirenmaterial nicht zu hart ins Gericht gehen zu sollen. Hatte er ja über Bismarcks namentlich in den letzten Lebensjahren zum besten gegebene Gedanken und Erinnerungen selbst nicht nur seine eigenen Gedanken, die von denen des Kollegen und Meisters abwichen, sondern auch seine eigenen Erinnerungen, die sich mit den von dem nunmehr Entschlafenen manchmal vor seinen Besuchern ausgebreiteten Reminiszenzen nicht deckten. Mit wenigen Worten: Delbrück hatte in Bismarcks Mitteilungen an Freunde und Publizisten oft genug die historische Exaktheit vermisst. Damals waren noch nicht die posthumen „Gedanken und Erinnerungen“ erschienen — aber wie viele Gedanken und Erinnerungen hatte der vergrämte, in den Ruhestand gedrängte und nicht ruhen wollende Altkanzler jeden Tag in die Öffentlichkeit sickern lassen! Delbrück hatte in vielem davon die höchst subjektive Interpretation eines Gewaltigen erkannt, der sogar manchmal der Wahrheit Gewalt antat und bei dem das Elementare der Persönlichkeit zuweilen das Tatsächliche in einem Maße überwucherte, dass das von ihm Erzählte mehr interessant als wahr erschien.

Von sich sprach Delbrück mit Bescheidenheit. Er sprach überhaupt wenig von sich. Nur, dass er mit dem Kanzler, lange bevor es zum definitiven Bruche gekommen, nicht immer eines Sinnes gewesen, sondern schon vor 1866 in einer höchst wichtigen Frage in Kollision geraten war und den Erfolg gehabt hatte, seine Meinung gegenüber der Bismarcks bei König Wilhelm durchzusetzen, hob er mit auf die Ereignisse rückschauender Genugtuung hervor.

Wir spazierten vor dem Abendessen auf der Terrasse des Südbahn-Hotels auf und ab, als Delbrück, in Anknüpfung an die von den Zeitungen vielfach zusammen genannten Namen Bismarck und Rechberg, von dem letzteren so sprach, als ob er längst tot wäre. Ich glaubte die greise preußische Exzellenz dahin berichtigen zu sollen, dass der Totgeglaubte wohl sehr alt, ein Mann zwischen Neunzig und Hundert wäre, aber noch lebte und seine alten Tage auf einer Besitzung bei Schwechat hinbrächte. Delbrück bemerkte darauf scherzend, er würde wohl schwer vor Rechbergs Angesicht treten können, ohne zu erröten. Und nun legte er dar dass er es gewesen, der den österreichischen Minister des Äußern nach den Vorgängen von Schleswig-Holstein zum Sturze gebracht und indirekt dem Grafen Mensdorff zur Regierung verholfen hätte.

Das kam so: Im Jahre 1853 war zwischen Österreich und Preußen für zwölf Jahre ein Handelsvertrag abgeschlossen worden, durch den Preußen sich verpflichtete, wenn es Österreich gefiele, nach Ablauf dieses Zeitraumes über Aufnahme in den deutschen Zollverein zu verhandeln. Als die zwölf Jahre fast um waren und der Handelsvertrag erneuert werden sollte, legte Rechberg Gewicht darauf, dass die alte Klausel bliebe. Der österreichische Minister ließ Bismarck wissen, seine Position wäre gefährdet, wenn Preußen nicht das Zugeständnis jenes Pactum de contrahendo wieder einräumte, Bismarck wollte Rechberg halten und war entschieden für die begehrte Konzession. Wusste er ja, dass es Schmerling gelingen würde, seinen Kollegen Rechberg über Bord zu werfen, wenn dieser nicht angesichts der Zollvereinsbestrebungen in Österreich wenigstens die Zusicherung beibringen könnte, dass Preußen auf Verhandlungen in bestimmter Frist eingehen würde. In seinen „Gedanken und Erinnerungen“ schreibt Bismarck: „Ich hatte keine Bedenken, weil ich überzeugt war, dass es mir keine über die Grenzen des mir möglich Scheinenden hinausgehende Zugeständnisse würde abringen können, und weil die politische Seite der Frage im Vordergrunde stand. Die Zolleinigung hielt ich für eine unausführbare Utopie wegen der Verschiedenheit der wirtschaftlichen und administrativen Zustände beider Teile. Die Gegenstände, die im Norden des Zollvereins die finanzielle Unterlage bildeten, gelangen in dem größeren Teile des österreichisch-ungarischen Gebietes gar nicht zum Verbrauch . . . Der bedürfnislose Slowake und Galizier einerseits, der Rheinländer und der Niedersachse anderseits sind für die Besteuerung nicht kommenfurabel.“ Während aber Bismarck in Biarritz weilte, bearbeitete Delbrück den König, nicht nachzugeben. Er wäre, so erzählte uns Delbrück, auf Bedenken des Königs gestoßen, der sich aber schließlich gegen Bismarck entschied. Eine ziemlich lebhafte Szene hatte zwischen dem König, der sonst so wenig erregsam war, und Delbrück sattgefunden, der damals so wenig wie je aus der Fassung kam und bei aller geschäftsmäßigen Nüchternheit doch vor Verlangen brannte, Österreich noch schneller, als dies der leidenschaftliche Bismarck wollte, aus Deutschland ganz hinausgedrängt zu sehen.

Dies war das Motiv seines Auftretens, und dreißig Jahre später meinte er, der Konflikt zwischen Österreich und Preußen wäre durch Rechbergs Sturz zu Preußens und Deutschlands Heil beschleunigt worden. Er glaubte es also nicht bereuen zu müssen, zu Rechbergs Sturz beigetragen zu haben und war vielmehr stolz auf diese Tat.

Einen „Herrn Fachmann“ nannte ihn ärgerlich Bismarcks Unterstaatssekretär Herr v. Thile in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten nach Biarritz. „Ich fand“, berichtete er am 10. Oktober 1864, „in der heutigen Konferenz zwischen Mitgliedern des Auswärtigen und des Handelsministeriums neu bestätigt, was freilich längst bekannt ist, dass die Herren Fachmänner bei aller ihrer von mir gern anerkannten Virtuosität in Behandlung der fachlichen Seite die politische arg missachten und zum Beispiel die Eventualität eines Ministerwechsels in Wien wie eine Bagatelle behandeln. Der Handelsminister Itzenplitz wankt in seinen Ansichten sehr. Wiederholt gelang es mir, ihn zu dem Geständnis zu bringen, dass uns der Artikel 25 finaliter und realiter zu nichts verpflichtet. Dann schreckte ihn aber jedesmal ein strafender Blick von Delbrück in seine Fachposition zurück.“

Er wirkte nicht durch das Wort, das trocken und prunklos von seinen Lippen kam. Er wirkte durch das Gediegene seiner Argumentation, die mit mathematischer Sicherheit einfette. Dieser Fachmann hat Geschichte gemacht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow