Franz v. Rottenburgs über Bismarck

Wenn man den Namen des im Februar 1907 in Bonn entschlafenen Dr. v. Rottenburg nennt, so denkt man unwillkürlich an den Fürsten Bismarck, zu dessen Hauptmitarbeitern er zählte.

Dr. v. Rottenburg war ein Mann der feinsten Bildung, nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in der Literatur und der Naturwissenschaft bewandert, und er hatte auch sein Wissen stets gegenwärtig. Fürst Bismarck schätzte sein Wissen und seinen Witz in gleicher Weise, und so trat er ihm amtlich näher. Er setzte ihn Lothar Bucher, dem älteren, bewährten Gehilfen, an die Seite.


Wie dieser, so hatte auch Rottenburg, nachdem er die Juristerei bei Stadt- und Kammergerichten satt bekommen, sich nach London begeben, wo er in vierjährigem Aufenthalt seinen politischen Gesichtskreis ausdehnte.

Der anglosächsischen Welt kam er noch näher, da seine erste Gemahlin Miß Hutton eine Engländerin und seine zweite Gemahlin, mit der er allerdings nicht dauernd zusammenblieb, eine Amerikanerin war — die Tochter des Botschafters in Berlin Mr. Phelps.

Gerade sein mehrjähriger englischer Äufenthalt hatte ihm die Möglichkeit erleichtert, mit der Anwartschaft auf eine glänzende Laufbahn im Jahre 1876 als 31 jähriger Mann in das Auswärtige Amt in Berlin einzutreten. Fünf Jahre darauf berief ihn Bismarck als Vortragenden Rat in die Reichskanzlei, deren Chef Rottenburg später wurde. Während dieses letzten Dezenniums, in welchem Fürst Bismarck noch Reichskanzler war, ist er dessen hingebender, steter Mitarbeiter gewesen. Er war an seiner Seite in Berlin, in Friedrichsruh und Varzin, in Gastein sowohl wie in Kissingen.

Wiewohl er ganz das Zeug hatte, ein Leben für sich zu führen, so glaubte er doch, nachdem ihn sein Schicksal einmal in die Nähe des ersten Mannes von Deutschland gebracht hatte, diesem seine Kräfte ganz widmen und in seinem Lichte wandeln zu sollen.

Als Bismarck gestürzt war, wurde er aus der Reichskanzlei als Unterstaatssekretär in das Reichsamt des Innern versetzt, und hier blieb er fast so lange, als der von ihm hochverehrte Dr. v. Bötticher diesem Departement vorstand. Der einstige Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums, der um viele Jahre ältere ehemalige Vorgesetzte, sollte um wenige Wochen den jüngeren Freund überleben, dem er stets zugetan geblieben, wie denn auch Dr. v. Rottenburg nie aufgehört hat, Herrn v. Bötticher in Schutz zu nehmen gegen die vielverbreitete Beschuldigung, dass er für den Sturz Bismarcks gearbeitet hätte.

Dr. v. Rottenburg schied 1896 als Wirklicher geheimer Rat aus dem Reichsdienste und wurde zum Kurator der Universität Bonn ernannt. Als solcher war er eine Art Bindeglied zwischen der preußischen Regierung und der rheinischen Universität, und es war seine Sorge, dass diese Hochschule, über der die glorreichen Namen Niebuhr, Simrods, Otto Jahn, Ritschl, Dietz und von den Jüngeren Heinrich Hertz, Clausius, Kekulé, Bücheler und Usener schweben, sich auf der Höhe erhielte, auf der sie lange gelanden war.

In Bonn hat Rottenburg in der relativen Stille des Universitätslebens den Erinnerungen an den Fürsten Bismarck nachgehangen, und wir durften erwarten, dass sich in seinem Nachlasse Aufzeichungen über diesen bewegtesten und inhaltsreichsten Abschnitt seines Lebens finden würden. Diese Hoffnung aber scheint eitel zu sein.

Dr. v. Rottenburg hatte sich im Dienste des Fürsten Bismarck buchstäblich aufgerieben. Er machte in den letzten Lebensjahren in seiner äußeren Erscheinung den Eindruck, viel älter zu sein, als er wirklich war. Das Zusammenleben mit dem Fürsten brachte es mit sich, dass dieser ungeheure Anforderungen an die Arbeitskraft Rottenburgs stellte. Oft genug musste sich diesem die Nacht zum Tage wandeln.

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Als einen leidenden, asthmatischen, viel hüstelnden Mann lernte ich ihn im August 1904 in Norderney kennen. Er war von gedrungenem Äußern, zur Fülle neigend. Buschige Brauen über klug blinzelnden Augen und ein buschiger grauer Schnurrbart gaben diesem Westpreußen etwas Martialisches. Freilich die Krankheit hatte das Stramme nur allzu sehr herabgedrückt. Aber sie nahm ihm nichts von seinem Humor. Die köstlichsten Anekdoten wusste er mitzuteilen.

Am Strande der See pflegte ein kleiner Kreis sich um ihn zu vereinigen und gierig zu lauschen, wenn der einstige Mitarbeiter von dem eisernen Kanzler erzählte, der selber einmal einen Sommer in Norderney verbracht hatte. Prinz Ratibor, jetzt Botschafter in Madrid, dessen Bruder, damals Regierungspräsident in Aurich, Graf Kanitz, ein Bruder des bekannten agrarischen Parlamentariers, eine Gräfin Zedtwitz, Professor Binz aus Bonn und andere gehörten zu der Gemeinde der Zuhörer, denen Dr. v. Rottenburg aus der Verborgenheit seines Strandkorbs heraus von Bismarck erzählte. Es waren auch zwei englische Damen zugegen, Rottenburgs Schwiegermutter, die mittlerweile gleichfalls verstorbene Mrs. Hutton, eine feinsinnige, edle Frau, und deren Tochter Miß Helen Hutton, die ehemals auch dem Bismarckschen Hause nahe gestanden war.

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Rottenburg war der Überzeugung, dass in des großen Kanzlers Brust zwei Seelen gelebt haben: die eines Junkers und die eines fast radikalen Denkers und Politikers. Bismarck stammte mütterlicherseits von dem Geheimen Kabinettsrat Menken, der von den französischen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts stark beeinflusst war und Hardenberg in Hinsicht auf die Reorganisation Preußens vorgearbeitet hat. Otto v. Bismarck selbst habe, als er in seiner Jugend auf Kniephof lebte, sich viel mit Literatur, insbesondere auch mit der französischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts abgegeben. Er war ein Kenner Rousseaus und namentlich mit dem Contrat social vertraut. Der fast radikale Denker und Politiker einerseits und der Junker andererseits haben nicht selten um die Vorherrschaft in Bismarck gerungen.

Etwas vom Junker ging auf seinen älteren Sohn Herbert über; der jüngere, Wilhelm, genannt Bill, war der mehr moderne Mensch. Herbert erbte den eisernen Fleiß und die Gewissenhaftigkeit, Bill die ungewöhnliche Begabung des Vaters.

Die Natur des Fürsten ist aber nicht genügend charakterisiert, wenn man sie als eine zwiefältige hinstellt — sie war vielmehr einer langen Reihe von Stimmungen und Wandlungen unterworfen. Sein Antlitz selbst war der verschiedensten Verwandlungen fähig. Einmal sagte Lenbach zu Rottenburg: „Der Fürst hat alle Augenblicke einen anderen Gesichtsausdruch — er hat hundert verschiedene Augen — das macht es so schwer, ihn zu malen.“

Schon in seiner Jugend zeichnete sich Bismarck durch großen Freimut aus. Dass er nie ein Höfling war, zeigt Rottenburg an der nachfolgenden ihm vom Fürsten selbst mitgeteilten Episode.

Herr v. Bismarck hatte in den fünfziger Jahren von Frankfurt aus auf Einladung des Kaisers Napoleon einen Besuch in Paris gemacht. Von dort zurüchgekehrt, wurde er von König Friedrich Wilhelm IV. nach Potsdam berufen, und dieser richtete an der Hoftafel die Frage an ihn: „Nun, Herr v. Bismarck, welchen Eindruch haben Sie von dem großen Zauberer an der Seine empfangen?“

„Das kann ich mit wenigen Worten ausdrücken,“ erwiderte Bismards. „Der Intellekt des Kaisers wird über- und sein Charakter unterschätzt.“

„Also auch reingefallen?“ replizierte der König.

„Es ärgerte mich nun,“ erzählte der Fürst, „vor der ganzen Hofgesellschaft derart mein Urteilsvermögen herabgesetzt zu sehen, und — damals war ich noch jung und erlaubte mir auch mal eine Dreistigkeit — ich richtete an den König die Bitte, mich durch Erzählung einer Anekdote rechtfertigen zu dürfen. Nachdem die Erlaubnis erteilt war, fuhr ich fort: Vor vielen Jahren lehrte an der Kriegsakademie ein General, der einen gewissen Ruf als Kenner der napoleonischen Feldzüge besaß. Nachdem er einen Vortrag über eine der Schlachten in Oberitalien gehalten hatte, die das Genie des Korsen in einem besonders günstigen Lichte erscheinen lässt, erhob sich ein ganz junger Leutnant und bemerkte: ,Herr General, ich vermag Ihre Bewunderung für Napoleon I. nicht zu teilen. Der Kaiser durfte meines Erachtens die Österreicher nicht, wie er getan, in der Front angreifen. Er musste sie vom rechten Flügel aus fassen; erst dann durfte er sich gegen das Zentrum wenden. Letzteres hätte er in der und der Weise angreifen müssen. Dann hätte er das tun sollen, und das, und das . . .'

Der junge Mann ritt sich in seinen Ausführungen immer fester und fester; schließlich blieb er ratlos stecken.

Nach einer Weile sagte der General: ,Sehen Sie, Herr Leutnant, so war der Napoleon. Ein seelensguter Kerl, aber, — wobei sich der General vor die Stirn schlug — ,dumm, dumm.‘ — Der König hob die Tafel sofort auf und sprach nicht mehr mit mir*).“

*) In Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ in etwas abweichender Form erzählt.

Schrak Fürst Bismarck so nicht einmal vor dem Grolle des Hofes zurück, so konnte er noch erbarmungsloser gegen die schablonenhaften Repräsentanten des Beamtentums sein.

Einmal kam die Rede auf ein hervorragendes Mitglied der Bureaukratie. Jemand in der Gesellschaft sagte: „Der X. war einfach ein Ochs.“ Da meinte Bismarck: „Erlauben Sie; ich bin überzeugt, wenn die Ochsen, die wirklichen Ochsen sich untereinander schimpfen, so werfen sie sich den Namen X. (jenes Bureaukraten) an den Kopf.“

Ein andermal geschah es, dass der Reichspost-Stephan in der Reichskanzlei bei Rottenburg eingetreten war, um diesem ein Buch von Condillac, das er entliehen hatte, zurückzubringen. Indessen hatte sich auch Fürst Bismarck eingefunden, und er lud die beiden Herren ein, mit ihm einen eben angelangten neuen Portwein zu versuchen. Stephan und Rottenburg waren so wenig wie der Fürst Kostverächter. Das Gespräch wandte sich Condillac und dem Sensualismus *) zu. Bismarck gab zu erkennen, dass er für seinen Teil an angeborene Ideen nicht glaubte, vielmehr alle Ideen für Reflexe der sinnlichen Eindrücke hielte, die der Mensch in sich aufgenommen . . . Indessen wurde ein anderer hoher Beamter gemeldet, und der Fürst lud ihn ein, an der Kostprobe teilzunehmen.

*)[Der Sensualismus ist eine philosophische Richtung, die alle Erkenntnis aus Sinneseindrücken (letztlich physiologische Reize) oder Wahrnehmungen ableitet. Der Sensualismus ist damit eine spezifische Form des Empirismus, eine erkenntnistheoretische Richtung in der Philosophie, die alle Erkenntnisse aus der Sinneserfahrung, der Beobachtung oder dem Experiment ableitet (und von keinerlei Vorwissen ausgeht). Klassisch steht er im Gegensatz zum Rationalismus, der philosophische Strömungen und Projekte bezeichnet, die dem rationalen Denken eine Priorität zukommen lassen - insbesondere in der Wissensfindung, und zwar gegenüber anderen Erkenntnisquellen wie etwa Sinneserfahrung oder religiöse Überlieferung.]

„Schenken Sie sich ein von diesem Portwein,“ meinte der Fürst, „und sagen Sie uns, wie Sie über den Sensualismus denken.“ Der Beamte, der kein Gelehrter war, erwiderte, die besten Reden, die er im Reichstage gehalten, hätte er früher im Bette mit geschlossenen Augen konzipiert. Ihm wären also die Ideen keineswegs auf dem Wege der Sinnlichkeit gekommen . . . Se. Exzellenz stellte sich offenbar unter Sensualismus so etwas wie Sinnenlust vor. — „Auch eine Exzellenz!“ sagte Bismarck, als der gute Mann fort war.

Rottenburg bemerkte: „Wenn der Fürst gesund und nicht durch das leidige Geschäft geärgert war, besaß er einen köstlichen Humor. Er verfügte auch über einen scharfen Witz, aber der Humor entsprach mehr seiner Natur, und dasselbe galt von seinem Sohn Bill.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow