Ein Besuch in Friedrichsruh

In den ersten Augusttagen 1904 hatte mich mein Weg auf das in der Nähe von Schweidnitz befindliche Schloss Oberweistritz geführt. Es liegt nächst Kreisau, dem Sommersitze des verstorbenen Feldmarschalls Grafen Moltke, und hier ruhen mitten im dichtesten Grün seine und seiner Gemahlin Gebeine. Bei den Eltern des deutschen Gesandten Grafen Karl Pückler, dessen Gast ich war, hatte der Marschall zu einer Whistpartie einzukehren gepflegt, und von den Damen und Herren des Hauses wurden mir während meines mehrtägigen Aufenthalts schöne und reizvolle Züge von dem großen Manne erzählt, der stets so schlicht und vornehm aufgetreten war.

Freitag den 5. August ging es von Schweidnitz ab, und Samstag raste ich mit dem Schnellzuge an Friedrichsruh vorbei nach Hamburg.


Kreisau — Friedrichsruh! Es war mir, als ob ich das Wehen der Geschichte großer Tage vernähme. Vom Eisenbahncoupé suchte ich aus den Wipfeln des Sachsenwaldes heraus das Herrenhaus in Friedrichsruh zu erspähen. Doch war es ganz von grünen Bäumen verdeckt, und kaum seinen First konnte man in der Vorüberfahrt erblicken . . .

Mein Hamburger Freund, Dr. Karl Mühling, jedoch ließ es sich nicht nehmen, mich Sonntag nach Friedrichsruh hinauszubringen.

Den Vormittag hatten wir in Klein-Flottbeck zugebracht, lustwandelnd in den üppig grünen Parkanlagen des Herrn v. Rücker-Jenisch, eines Vetters des Kanzlers v. Bülow, welch letzterer auch hier im Herrenhause das Licht der Welt erblickt hat und gewöhnlich im Herbst gern die Gastfreundschaft seines Verwandten genoß . . .

Dann fanden wir den Weg von der neuen Zeit zur alten, von Bülow zu Bismarck, und fuhren am Nachmittag hinaus nach dem Sachsenwalde. An der Marschlandschaft, dann an den Gemüse- und Obstgärten von Hamburg geht die Eisenbahn vorbei über Bergedorf, wo der alte Musik-Chrysander, der große Händel-Kenner, der Freund des Bismarckschen Hauses, bis in die jüngste Zeit gelebt hat, bis sie bei Aumühle in die dichten Schatten des Sachsenwaldes eintritt.

Wir waren alle bewegt, wie man es an einer Stelle ist, in die ein großer Geist seine Spuren eingegraben hat. Da liegt der kleine Bahnhof von Friedrichsruh, und von hier geht es einige Schritte an dem kleinen Postgebäude vorbei zu dem grünen Park, in dem das Herrenhaus versteckt ist. Wir waren eine Gesellschaft von sechs Personen und legten den Weg in feierlicher Lautlosigkeit zurück. Der Gedanke hatte für uns etwas Ergreifendes, dass sich in dieser Dorfstille, in dieser Schmucklosigkeit, deren einziger Schmuck der grüne Wald schien, durch zwei Jahrzehnte so große Dinge abgespielt hatten. Man hätte ausrufen mögen: „Und du Bethlehem nicht die geringste unter den Städten Judas . . .“

Es waren nicht viele Ausflügler aus Hamburg gekommen. So störte uns nichts in unserem Nachdenken und wir glaubten dem Hämmern der Geschichte zu lauschen. Wie viele Mächtige und Ohnmächtige, Sieger und Besiegte waren während eines Vierteljahrhunderts diesen Weg da gewandelt, und wie viele mögen erstaunt darüber gewesen sein, dass der stärkste Wille der Zeit so anspruchslos in Hinsicht auf äußere Bedürfnisse hier gelebt hat. Denn Friedrichsruh ist ein Protest gegen alle Pracht.

Ich war der Meinung, der Schloßherr wäre abwesend. In den Zeitungen hatte ich gelesen, Fürst Herbert wäre auf Reisen. Doch nun hörte ich in Friedrichsruh, der Fürst wäre vor kurzem eingetroffen, denn er hätte am Sterbetage des Vaters am Grabe desselben seine Andacht zu verrichten das Bedürfnis empfunden. Rasch schrieb ich mit Bleistift auf eine Karte eine Zeile an den Schloßherrn, doch bald ward mir der Bescheid, der Fürst schliefe, der Fürst wäre sehr krank.

Eine etwas melancholische Stimmung lag auf den Mienen der Schlossbediensteten. Und ein herber Zug ging an diesem kühlen, stürmischen Sonntag auch durch den Sachsenwald.

Wir standen eine Weile entblößten Hauptes vor dem dem Herrenhause entgegengesetzt gelegenen Mausoleum, unter dessen Kuppelbau Fürst Otto und Fürstin Johanna ruhen. Dann wandelten wir unter den Buchen und Fichten des Sachsenwaldes und hörten, wie der Sturm an den mächtigen Bäumen rüttelte. Wie gern hatte Fürst Bismarck dieser majestätischen Musik der Elemente gelauscht, von der alle andere Musik nur ein schwacher Abklang ist . . . Und dann erreichten wir nach kurzem Marsche die Villenkolonie Hofriede und bestiegen den kurz zuvor hier errichteten Bismarck-Turm, der voll anziehender Erinnerungen an das Leben des großen Mannes ist, der die deutsche Einheit aufgerichtet hat.

Als wir heruntergestiegen waren, voll von dem Nachklange dessen, was einst die Seele des Riesen von Friedrichsruh erfüllt hatte, trafen wir mit dem Besitzer dieses Turms zusammen, einem Hamburger Kaufmanne, der als Begründer der Villenkolonie in freundlich-nachbarlichen Beziehungen zu dem Fürsten gestanden und auch zuweilen sein Tischgast gewesen ... Er bestätigte uns die mir im Herrehause gewordene Auskunft, dass Fürst Herbert krank, sehr krank wäre . . .

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Wenige Wochen später war Fürst Herbert eingegangen zu seinem unsterblidien Vater. Otto wird in der Geschichte fortleben als Bismarck. Auf den Grabstein Herberts mag man aber vielleicht den Namen setzen: „Bismarck filius!“ Ehre einem tüchtigen Dasein, das aus den Lenden des universellsten deutschen Staatsmannes hervorgegangen!

Noch in späten Tagen wird auf dem Namen Herbert der Abglanz des großen Vaters liegen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow