Professor v. Ihering bei Bismarck

In zündender Laune erzählte Rottenburg bei einem Abendessen beim Kanzler v. Bülow von Iherings Zusammentreffen mit Bismarck. Rottenburg, aus der Juristerei hervorgegangen, kannte und bewunderte seit langem die Schriften Iherings.

Als nun dieser 1885 nach Berlin kam, um im Namen der Göttinger Universität dem Fürsten zum siebzigsten Geburtstage das Diplom eines Ehrendoktors der Rechte zu überbringen, wusste Rottenburg den Kanzler zu bestimmen, dass er den großen Gelehrten zum Essen einlüde, um dabei das Diplom in aller Zwanglosigkeit entgegenzunehmen.


Ihering war in jovialster Laune. Das Mahl begann mit Austern. Da meinte der Professor, auf so was von köstlichen Seeungeheuern müsste er in Göttingen Verzicht leisten.

„Wie,“ wendete der Fürst ein, „in Göttingen können Sie keine Austern bekommen?“

Darauf Ihering: „Es kommt wohl von Zeit zu Zeit ein Quantum Austern zu uns — dies aber wird auf die Professoren verteilt, und nur wenige fallen für den einzelnen ab.“

Indessen hatte Ihering den Austern tüchtig zugesetzt, und der Fürst meinte scherzend: „Etwas Übung im Austernessen müssen Sie doch haben, verehrter Geheimrat. Denn die Schnelligkeit, mit der Sie die Auster vom Bart befreien und hinunter expedieren, ist geradezu bewundernswert.“

Der Professor, der seine urwüchsig friesländische Natur nicht zu verleugnen vermochte, setzte dem Sekt tüchtig zu, bis der Fürst nach einiger Zeit bemerkte, der Gelehrte hätte über dem Wein ganz vergessen, in welcher Angelegenheit er eigentlich nach Berlin entsendet worden. „Herr Professor,“ sagte der Fürst, „was ist's denn mit dem Doktordiplom?“

Da erhob sich Ihering und verlas das in herrlichsten Worten und im besten Latein abgefasste Dokument. Der Fürst rühmte die schöne Sprache und den fein ziselierten Gedanken und beglüchwünschte die Fakultät zu dem stilistischen Meisterwerk.

„Was! Die Fakultät?“ meinte Ihering, „das habe ich gemacht.“

Der Fürst bat um Entschuldigung, wenn er die Lorbeeren, die ausschließlich dem Meister Ihering zustünden, unverdienterweise auf alle grauen Häupter der altberühmten Hochschule gehäuft, an der er selbst einst studiert hatte oder — besser gesagt — hätte studieren sollen . . . Nun schüttelte der Fürst dem Professor die Hand und begrüßte ihn als Kollegen.

„Kollege?“ erwiderte Ihering mit gut verstelltem Erstaunen. „Durchlaucht sind ein einfadier Doktor und ich bin Professor!“

Rottenburg erzählte: „Ich habe den Fürsten selten im Leben verdutzt gesehen. Aber diesmal war er im ersten Augenblick ganz perplex — dann begriff er den Scherz; das liebenswürdigste Lächeln ging über sein Gesicht und er bat um Entschuldigung, wenn er, der schlichte, soeben erst aus der Taufe gehobene Doktor der Universität Göttingen, die ihn so unverdienterweise mit so hoher Würde ausgestattet hätte, es gewagt habe, den altberühmten Meister Ihering mit „Kollege“ anzusprechen.

Ihering s Gesicht verklärte sich, und mit glückstrahlendem Lächeln replizierte er: „Durchlaucht, in der Jurisprudenz bin ich Ihnen über, aber Sie, Fürst, stehen auf einem andern Gebiete, das schwieriger ist, turmhoch über mir — ich meine das der Staatskunst. Wenn Sie mich also Kollegen nennen wollen, ich nehme es mit Stolz an.“

Der Fürst umarmte darauf den Meister des „Kampfes ums Recht“ und des „Geistes des Römischen Rechtes“.

Ihering war indessen etwas angeheitert, und der Fürst winkte Rottenburg, er möchte den Professor nach Hause begleiten, damit ihm kein Malheur zustieße. Als sie die Treppe hinuntergingen, rief Ihering laut mit glühenden Wangen und glänzenden Augen: „Aber, mein verehrter Geheimrat — ich hatte mir unter dem Erbauer der deutschen Einheit einen Jupiter tonans mit finsteren Brauen und eisernen Augen vorgestellt. Der Mann hat ja die entzückendsten, liebevollsten Augen!“

Es war spät abends geworden. Unter der Führung Rottenburgs fand Ihering glücklich den Weg nach seinem Absteigequartier, dem „Hotel Bauer“, Unter den Linden. Aber von Schlaf sollte noch lange keine Rede sein. Der Professor hatte den getreuen Gehilfen des Reichskanzlers überredet, mit ihm aufs Zimmer zu gehen, bis in den Morgen hinein zu plaudern und noch einigen Sekt auf des Fürsten Wohl zu trinken.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow