Eine Begegnung in Kaltenleutgeben

Im Sommer des Jahres 1902 hielt ich mich durch einige Zeit in Kaltenleutgeben bei Wien auf und machte mir dort die nachfolgende Aufzeichnung:

„Sonntag, 13. Juli: Im Schweizerhause des Professor Winternitzschen Kurparks wohnt seit vorgestern Fürst Herbert Bismarck. Er hat seine Gemahlin, geborene Gräfin Hoyos, die leidend ist, hieher in die Wasserheilanstalt begleitet und wird sich einige Tage hier aufhalten. Ich besuchte den Fürsten um 2 ½ Uhr und verblieb bei ihm bis nach 3 ¼ Uhr ... Er ist hochgewachsen, breitschultrig, hat etwas verwitterte Gesichtszüge, aber ein schönes Auge voll Glanz, wohl das Erbteil seines Vaters, wie er denn überhaupt in manchem an seinen unsterblichen Erzeuger erinnert. Freilich geht von Herbert nicht jener Hauch des Gewaltigen aus, den sein Vater ausströmte. Der Fürst hat noch volles braunes Haar und trägt einen grauen Schnurrbart. Er spricht hastend, macht einen liebenswürdigen und feinen Eindruch ... Er sagt, dass er ursprünglich beabsichtigt habe, nach einem Orte Englands zu gehen, diesen Plan aber aufgeben musste, weil dort die Pocken herrschen und er seine Kinder nicht der Gefahr einer Ansteckung aussetzen wolle . . . Darauf sprach er von seinen englischen Freunden ... Ich bemerkte, dass er wohl Englisch mit Geläufigkeit spreche, und fügte hinzu, er müßte wohl auch von der Zeit her, da sein Vater Gesandter in Petersburg war, Russisch sprechen . . .


„Ein wenig,“ erwiderte er, und dies Wenige hätte er eigentlich erst gelernt, als er zur Botschaft nach Petersburg kam.

„Aber Ihr Vater“, meinte ich, „hat geläufig Russisch gesprochen.“

Und Fürst Herbert entgegnete, sein Vater hätte Russisch ernst und systematisch betrieben, und er selbst habe ihn manchmal zu russischen Freunden den einen und andern Satz russisch sprechen gehört.

Die Konversation fiel auf die kurz zuvor erschienene Keudellsche Publikation über Bismarck, in der auch der Petersburger Zeit gedacht ist. Der Fürst meinte, Keudell hätte durch neun Jahre (1863—1872) eine Vertrauensstellung bei seinem Vater wie kein zweiter besessen und wohl noch viel mehr erzählen können, hätte er sich stets Aufzeichnungen gemacht — aber er habe vielleicht absichtlich mancherlei verschwiegen.

Ich sagte, es wäre schade, wenn nicht auch der (mittlerweile verstorbene) greise Delbrück, den ich unmittelbar nach Bismarcks Tode kennen gelernt, eines Tages den Mund öffnete — wäre er doch der einzige Überlebende, dessen Erinnerungen in die ersten staatsmännischen Anfänge des Fürsten Bismarck zurückreichten.

Fürst Herbert entgegnete, Delbrück hätte stets nur amtliche, nie intime gesellige Beziehungen zum Kanzler unterhalten . . . Tagebücher oder Erinnerungen von ihm würden wohl des höheren Reizes entbehren und könnten nur Beiträge zur Geschichte des inneren Aufbaues des Reiches sein*).

Es wäre, setzte der Fürst fort, nicht wenig in Hinsicht auf Publikationen über seinen Vater gesündigt worden. Er könne nicht umhin, zu sagen, dass es manchen Publizisten gebe, der seinen Vater arg ausbeutete, und dass allerlei Veröffentlichungen über ihn mit wenig Geschicklichkeit besorgt würden. Dies gelte namentlich von Poschinger, der ohne Kritik vieles, was gar nicht authentisch sei, in die Tisch-Gespräche Bismarcks aufgenommen habe. Poschinger hätte jeden ausgefragt, und manche, die nur vom Hörensagen berichten konnten, wären ihm Rede gestanden. Wie mitleiderregend wären doch so kleinliche Naturen, die längst besser getan hätten, ihre Publikationen einzustellen. In früheren Jahren freilich hätte Poschinger Gutes geleistet, als er in seinem Werke „Bismarck am Bundestag“ aus dem Vollen des Archivs schöpfte, das der Kanzler ihm geöffnet, wodurch die Welt die prächtigen Frankfurter Berichte kennen lernte.

Und nun kam der Fürst auf Busch zu sprechen und nannte ihn einen von den Subalternen Bismarcks, dessen Sphäre das Bedientenvorzimmer gewesen. Schon in dem Buche „Bismarck und seine Leute“ hätte dem verstorbenen Fürsten vieles missfallen. Ein besonders garstiges Buch aber wäre die Publikation, die Busch nach des Fürsten Tode in die Welt setzte.

*) Rudolf v. Delbrücks 1905 erschienenen „Lebenserinnerungen“ haben diese Voraussage Herbert v. Bismarcks vollauf bestätigt.

Und Fürst Herbert verbreitete sich noch über andere literarische Produkte, die seinen Vater betrafen, und beklagte es, dass die meisten dieser Darsteller Leute kleinen Wuchses wären. Dies glaubte er auch von einem Historiker sagen zu sollen, der eben ein Buch über Bismarck veröffentlicht hatte.

Wie viele Worte, meinte er, die er nie gesprochen, wären seinem Vater in den Mund gelegt worden, so zum Beispiel das „Le roi me reverra“, [Der König wird mich wieder zu sehen wünschen] das der Fürst angeblich nach seiner Entlassung bei seinem Scheiden von Berlin ausgerufen hätte.

Noch wäre, äußerte Fürst Herbert, nicht die Stunde gekommen, in der die Geschichte Bismarcks mit wissenschaftlicher Akribie und dabei mit Einhaltung des dem Wesen seines Vaters entsprechenden großen Stils geschrieben werden könnte. Immerhin glaubte er annehmen zu können, dass in der Person des Professors Erich Marcks dem Fürsten Bismarck der Biograph größeren Schlages erwachsen würde. Habe doch Marcks in seinem Buche über Kaiser Wilhelm I. und in verschiedenen Abhandlungen über den Fürsten Bismarck gezeigt, dass er ein ebenso fachkundiger Darsteller wie geschmachkvoller Erzähler sei. Und der Fürst gab zu erkennen, dass er entschlossen sei, diesem Gelehrten manches wertvolle, bisher unbekannt gebliebene Material zur Verfügung zu stellen. Er meinte, Marcks Werk würde nur langsam fortschreiten und viele Bände enthalten. Er nahm sich vor, ihn auf alle Weise zu fördern und sozusagen zum authentischen Biographen Bismarcks zu bestellen, hinter dessen Schatten so viele Unberufene einherliefen, und dies weniger zur Verherrlichung des Andenkens seines Vaters, als vielmehr zur Befriedigung der eigenen Eitelkeit oder gar Gewinnsucht. Der Fürst hegte die Absicht, Marcks, der übrigens schon bei ihm in Friedrichsruh gewesen, in nächster Zeit länger bei sich zu beherbergen, damit er im Interesse der höheren künstlerischen Vollendung seines Werkes den genius loci genießen könnte*) . . .

*) Mittlerweile ist der erste Band dieser großangelegten Bismarck-Biographie erschienen.

Es waren gerade wenige Tage verflossen, seitdem Fürst Herbert die zehnte Jahreswende seiner in Wien stattgefundenen Vermählung gefeiert hatte. Er kam auf die Anwesenheit seines Vaters in Wien zu sprechen und wie die dort im Juni 1892 mit großer Herzlichkeit dargebrachten Ovationen sein gerade um jene Zeit so viel gekränktes Gemüt erquickt hätten. Der greise Fürst habe in diesen freundlichen Kundgebungen die richtige Abschätzung seiner Stellung zu Österreich-Ungarn erkannt — einer Politik, die daraufging, sich Österreich-Ungarn warm zu halten, seine Bedeutung im Rate Europas nicht schmälern zu lassen und es jene Abrechnung vergessen zu machen, die der Fürst einst notwendigerweise als ein von der geschichtlichen Vorsehung erkorener Wille im Dienste der anzubahnenden deutschen Einheit mit Österreich gehalten. Fürst Herbert schien der Meinung, dass diejenigen in Österreich, die über die Grenzen hinüberschielten, nicht die Wirklichkeitspolitik des Fürsten Bismarck, die nur das Erreichbare anbahnte, verständnisinnig verdolmetschten.

Von der Vergangenheit Deutschlands schwenkte das Gespräch zur Gegenwart. Man hatte wiederholt behauptet, Fürst Herbert wäre ein grimmiger Gegner des Reichskanzlers von Bülow. Ich habe in Erinnerung eher manches freundliche Wort, das der Fürst betreffs des damaligen Reichskanzlers gebrauchte. Er rühmte seine hohe Begabung, seine nicht gewöhnliche Redekunst, seine diplomatische Geschicklichkeit, seine in den Bahnen des ersten Kanzlers sich bewegende auswärtige Politik. Er sprach freilich mit Zurückhaltung über manche Kundgebung Bülows betreff der deutschen Wirtschaftspolitik, und es wollte mir scheinen, als ob Fürst Herbert viel konservativeren Gesinnungen als der damalige Kanzler huldigte, zumal in Hinsicht auf den Schutz der Landwirtschaft noch weiter ginge, überhaupt nicht ganz aus der Haut des preußischen Junkers heraus wäre.

Er sprach allerdings mit Maß, mit Vornehmheit, mit der bescheidenen Art eines Mannes, der sich als Sprössling des großen Vaters mit dem Dichter sagen mochte: „Weh' dir, dass du ein Enkel bist.“

Nichts an ihm zeigte die Spuren des Titanischen; man bekam aber den Eindruck einer besonderen Gewandtheit, einer klugen Sicherheit, man kam ganz und gar nicht zu dem Bewusstsein, als ob er sich zu seinem Vater nur verhielte wie August v. Goethe zu Johann Wolfgang v. Goethe.

Durch die Zeitungen war die Mitteilung gegangen, Fürst Herbert würde von neuem in den Staatsdienst treten, würde etwa einen Botschafterposten übernehmen. Der Fürst sprach davon in einer Weise, als ob dies nie in Frage gekommen wäre. Wenn wir nicht schlecht unterrichtet sind, so war für den Fürsten Herbert tatsächlich wenig Hoffnung mehr vorhanden, dass er je noch auf eine hohe Stufe der Staatsleiter rücken sollte. Der erste Kanzler scheint diesen seinen Sohn, der seltenen Fleiß mit großer Geschäftskenntnis verband, in Wirklichkeit als seinen Nachfolger, als den zweiten Reichskanzler in Aussicht genommen zu haben. In Herbert sah der Fürst sozusagen den Hüter seiner eigensten Politik, den Schatzhalter der Staatsschatulle, den Körper, in den er seinen Geist hineingeblasen.

So mag denn einige Verbitterung das Gemüt Herberts beschlichen haben, als er sehen musste, dass der junge Kaiser nicht nur den eisernen Kanzler von dem Platz gestoßen hatte, auf dem er ein Menschenalter lang gesessen, sondern auch das Recht des Sohnes auf die Nachfolge nicht anerkennen wollte und in raschem Wechsel drei andern Kanzlern das Ruder in die Hand gab. Und der letzte Kanzler, Bülow, war nur um einige Monate älter als er, war der Sohn eines Staatsministers, der sich unter dem Fürsten Bismarck zu Tode gearbeitet hatte, war ein Mann ohne Ar und Halm, während Fürst Herbert Sohn des allgewaltigen Kanzlers und Herr auf Schwarzenbech, Friedrichsruh und Schönhausen war.

Darf es also wundern, wenn Fürst Herbert etwas vergrämt darüber gewesen sein sollte, dass er andere, die ihm kraft des Rechtes der Erstgeburt hiezu weniger berufen schienen, am Webstuhle der Zeit sitzen sah, während er selbst im Dunkel blieb? Er soll, wie von Leuten mitgeteilt wird, die ihn in den letzten Jahren aus der Nähe geschaut, viel Groll in sich getragen haben.

Er war freilich um eines seinem großen Vater voraus. Da er nicht die Leidenschaft dieses Riesen besaß, so war ihm mehr Selbstbeherrschung als dem alten Fürsten eigen, der in den Jahren nach seiner Entlassung wie ein Vulkan gespieen hatte.

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Als ich in Kaltenleutgeben die Begegnung mit dem Fürsten Herbert hatte, erschien er mir ein Mann von Gleichgewicht, voll mittlerer Lebensklugheit.

Er lud mich ein, einmal nach Friedrichsruh zu kommen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Von Bismarck bis Bülow