Moralischer Standpunkt

Ich habe es nicht für nötig gehalten in meiner früheren Flugschrift dergleichen Einzelheiten zu berühren, weil sie allbekannt sind, und weil ich voraussetzen musste, dass jeder redliche Mann, der über diesen Gegenstand urteilen wollte, sich ihre sehr zugängliche Kenntnis mit leichter Mühe verschaffen würde. Wie sehr erstaunt musste ich aber sein, zu finden, dass Hr. Dr. P. einen Fall, in welchem ich mich selbst unter Anderen befinde, für eine Unmöglichkeit, und dass er es für eine Übertreibung erklärt, dass Viele von uns durch die bestehenden Gesetze von jeder Stellung im bürgerlichem Leben, von einer Sphäre für Übung und Anwendung ihrer Kräfte, ausgeschlossen seien; dass wir, weil wir die alte Bahn verlassend, bei der Wahl unsres Standes der entschiedensten Neigung, die doch wohl der Jüngling für Anlage — denn an welchem anderen Zeichen sollte er diese erkennen? — zu halten berechtigt ist, gefolgt sind, und weil der Schritt, der uns allein mit leichter Mühe aller Unbequemlichkeiten überheben könnte, mit unseren moralischen nicht minder, als mit unseren religiösen Ansichten in Widerspruch steht, uns in die Alternative versetzt sehen, unser Gewissen oder unsere bürgerliche Existenz zum Opfer zu bringen. Ich habe es deutlich genug schon früher gesagt, und wiederhole es, dass jedes Urteil über die Gesinnung der wirklich Übergetretenen nicht zur Sache gehört, sondern dass es hier lediglich auf den Standpunkt der nicht Übertretenden ankommt. Es ist ja möglich, dass alle Die, die sich durch den Übertritt den Weg zu Ämtern und Würden gebahnt haben, deren Zahl sich in Preußen allein auf mehrere Hunderte belauft, dass selbst Die, die sich offenbar so lange gegen jenen Schritt sträubten, bis sie, von nagendem Hunger oder nagendem Ehrgeiz überwältigt, nachgaben, gerade im entscheidenden Augenblick zu ihrem Glück eine Umänderung in ihren Überzeugungen erfuhren. Aber nichts desto weniger bleibt eine Gesetzgebung schimpflich und unsittlich, die eine Handlung, welche nie anders, als wie das Werk der reinsten religiösen Überzeugung sollte gedacht werden können, mit einem ewigen Verdachte befleckt, und die der Unwahrheit und dem Leichtsinn eine gefährliche Lockung bietet. Glaubt Herr Dr. P., es gäbe keinen andern Zwang, als den, welcher mit dem Tode oder körperlichen Qualen droht, und das wäre keiner, der durch die Vorenthaltung schmerzlich vermisster bürgerlicher Existenz und Ehre auf die Gemüter wirkt? Ist es doch der Erfahrung gemäß, dass Mancher in einer Stunde der Begeisterung für seine Überzeugung zu sterben vermöchte, der nicht im Stande wäre, der täglich wiederkehrenden Qual des Bewusstseins eines für immer verfehlten Berufs und des versagten Strebens nach der Auszeichnung, nach welcher zu ringen er die Kraft in sich fühlt, zu widerstehen! Hr. Dr. P. mag es glauben, dass ein hoher Grad angebornen Frohsinns und jugendlicher Lebens-Kraft dazu gehört, um durch ein solches Bewusstsein nicht in der Blüte der Jahre geistig niedergedrückt zu werden!

Der Verfasser wendet (S. 115) gegen diese Ansicht von der moralischen Seite der Sache ein, dass sie auf dem Missverständnis beruhe, wie wenn die Taufe zu irgend einer Kirchenmeinung, und nicht rein zum Christentum überhaupt einweihe. Aber dieses Christentum überhaupt oder Urchristentum hat doch auch wohl seine bestimmte religiöse Überzeugung, mit welcher ein selbstständiger, erwachsener Mann, der zu ihm übertritt, nicht spielen darf, sondern sie haben, und im innersten Grunde seines Herzens davon durchdrungen sein muss. Zu dieser Überzeugung nun, so wie zu den Lehren aller bestehenden christlichen Konfessionen ohne Ausnahme scheint mir nach der besten Kenntnis, die ich mir vom Christentum durch Lesen im neuen Testament und in manchen theologischen Schriften zu verschaffen gesucht, der Glaube daran, dass Jesus Christus Gottes Sohn *), und zwar nicht bloß in dem figürlichen Sinn, wie dieser Ausdruck in den orientalischen Sprachen wohl vorkommt, sei, und dass durch ihn — d. h. nicht bloß durch seine Lehren, sondern auch durch seine Menschwerdung, seine Leiden und seine Auferstehung — die Menschheit von ihren Sünden erlöst sei, wesentlich zu gehören. Es ist sehr wohl möglich, dass ich hier in einem großen Irrtum befangen bin: ich weiß nicht einmal genau, und es geht mich auch wenig an, in wie fern Hr. Dr. P. darin mit mir übereinstimmt; aber das weiß ich gewiss, und das muss Hr. Dr. P., der ja einen großen Teil seines Lebens auf theologische Streitigkeiten verwandt hat, noch viel besser wissen, dass ein sehr großer Teil seiner Glaubens-, besonders seiner Standes- Genossen, diese Meinung teilt, die sich daher natürlich anders Glaubenden mitteilen muss. Aber auch der Übertritt zum Christentum seiner moralischen Natur wegen erfordert bei einem gewissenhaften Manne mehr als die bloße Anerkennung, dass die christliche Moral an sich gut und schön sei; er erfordert meines Bedünkens mindestens die Überzeugung, dass sie hoch über allen übrigen moralischen Lehren stehe, wie das Göttliche über dem Menschlichen: zu dieser Überzeugung sind aber Viele von uns bei einer ganz unparteiischen Betrachtung nicht gelangt.


*) Dieses scheint auch die Ansicht des Herrn Dr. P. zu sein, da er ja S. 51 Joseph den Pflegevater Christi nennt.

Ich habe einmal kurz nacheinander die Berg-Predigt und das Handbuch des Epiktet gelesen, und ich muss gestehen, dass das letztere einen viel tieferen Eindruck auf mich gemacht, meine Stimmung in höherem Grade gestärkt und erhoben hat. Auch bin ich der Meinung, dass viele moralische Lehren enthaltende Stellendes alten Testaments, ja selbst manche in dem verschrieenen Talmud und in rabbinischen Schriften den trefflichsten Stellen des neuen Testaments an die Seite zu setzen sind. Aus diesen Gründen würde ich es auch von dieser Seite bei meinen jetzigen Überzeugungen für unredlich halten, ein Christ zu werden, und wenn ich darum in meinen bürgerlichen Rechten geschmälert bin, so möchte ich wissen, was in aller Welt es anderes ist, als meine Überzeugung, wegen welcher mich der Staat ausschließt? Diese Bemerkungen mögen genügen, um meinen Standpunkt zu rechtfertigen: redliche Männer mögen urteilen! Nur das bemerke ich noch, dass in diesem Punkte die öffentliche Meinung ganz auf meiner Seite ist; dass sie allgemein den Übergetretenen, der seinem Übertritt Vorteile verdankt — was unter zehn Fällen in neunen der Fall ist — selbst ohne viele Prüfung seiner Überzeugung und daher vielleicht oft mit Unrecht in Verdacht hat, während sie Den achtet, der diesen Vorteilen entsagt, um seinem Glauben treu zu bleiben *).

*) „Müssen wir nicht Alle — sagte der Freiherr v. Cotta in der Württembergischen Stände - Versammlung — den Israeliten achten, „der, treu und aus Überzeugung am Glauben seiner Väter hängend, denselben wegen schnöden Gewinns nicht verlässt; müssen wir dagegen den nicht verachten, der denselben zeitlicher Vorteile wegen gegen den christlichen wechselt? Diesem, den wir verachten, können wir aber die Rechte nicht versagen, die wir Jenem, den wir achten und schätzen müssen, verweigern wollten, während er doch schon längst alle Lasten und Pflichten des Württembergischen Untertanen tragen und erfüllen „muss?“ Man vergleiche die Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg über den k. Gesetzes-Vorschlag die öffentlichen Verhältnisse der Israeliten betreffend (Aus den Allgem. polit. Annalen XXVII. Bd. 2. Heft besonders abgedruckt) S. 58.