Venus und Adonis

Helgoland ist heutzutage nichts als ein Felsstück mitten in der weiten, breiten Nordsee, auf welchem an zweitaufend Einwohner unter der Flagge von England leben. Ehedem ist Helgoland größer gewesen; der alte Glauben ist, dass es mit den friesischen Außenlanden an der Küste von Schleswig einen Kontinent gebildet habe, und dass die rote Kant von Helgoland und das rote Kliff von Sylt den Anfang und das Ende einer nun ins Meer versunkenen Felskette bezeichnen. Auch von untergegangenen Dörfern und Kirchen, von Wäldern, die der Durchbruch der sogenannten „englischen Flut“ begrub, als sie den Zusammenhang zwischen Britannien und Gallien, die alte Celtenbrücke zerriss; von diesen und anderen uralten Dingen wird gesprochen, wenn man auf Helgoland ist. Allein als sicher und gewiss gilt nur, dass die Insel vor etwas mehr als hundert Jahren noch mit der Düne zusammengehängt, und diese selbst sich bis zu dem Weißkliff erstreckt habe — einem nun gleichfalls, zu Nordwesten des Sandes in das Wasser gegangenen Felsgürtel, auf dem seither ein manches Schiff gescheitert und zerbrochen ist. Die Losreißung der Düne von der Insel geschah im Anfange des vorigen Jahrhunderts; um die Mitte desselben sollen, bei niedriger Ebbe, die Frauen noch hinübergegangen sein, um nach dem Vieh zu sehen, das drüben auf den Weideplätzen lag. Heut ist Alles vorbei. Keine Ebbe mehr bringt den Landweg ans Tageslicht; keine Weideplätze mehr auf der Düne; kein Vieh mehr, außer ein paar armseligen Schafen, die oben auf der Insel um einen eisernen Pflock laufen, und die von der scharfen Meeresluft so ausgedörrt sind, dass man glauben möchte, sie würden mit dem ersten, besten Winde davon fliegen, wenn sie nicht angebunden wären.

Ein wunderliches Felsdreieck — dies Helgoland, mit feinen phantastischen Höhlen und Vorsprüngen gegen West, seinem Dörflein, seiner Kirchspitze, seinem Leuchtturm, seinen Lotsen „im Teerhut“, seinen Frauen „im roten Rock mit gelbem Bande“, seinen mageren Schafen und seinem Ausblick auf die zu allen Seiten endlose See und die Schiffe, die den fernen Horizont durchwandeln. Wie der Altan eines Seepalastes erhebt sich die Insel aus dem Wasser,— eine kühne Masse roten Gesteins, obenhin dünn mit einem Schimmer grünlichen Grases bedeckt. Diese Felsoberfläche ist das eigentliche Helgoland, und seine roten Steinsäulen werden dem Anprall der westlichen Wogen noch lange trotzen, ehe auch sie nachgeben und zusammenbrechend den letzten Rest des Seepalastes in die Tiefe begraben, wie das Übrige. Dies ist das Oberland, auf welchem Dorf und Kirche und Leuchtturm bei einander liegen; am Südostrand desselben klebt noch ein Stück hängengebliebener Düne — ein schmaler, ins Wasser gestreckter Sandstreif, dessen spitzige Zunge mit dem Schaumwirbel davor noch in die Richtung weist, wo Insel und Düne verbunden waren. Dies ist das Unterland, der Tummelplatz des modernen Badelebens, welches sich hier ansiedelte, seitdem das Vieh von Helgoland so mager wurde, und das Salzwasser über die fetten Weiden der Düne ging. Hier, unter dem Schutze des Oberlandes steht das Konversationshaus, in welchem man jeden Mittag Fleisch isst, wenn das Hamburger Schiff rechtzeitig eingetroffen; hier sind die beiden Pavillons, wo man jeden Nachmittag Milch zum Kaffee bekommt, wenn die mageren Schafe des Oberlandes gerade bei Laune gewesen; hier kann man Briefbögen kaufen mit der Ansicht von Helgoland, und hier, an der berühmten Treppe, die das Unterland mit dem Oberland verbindet, wohnt auch der Friseur, der den ganzen Morgen vor seiner Bude sitzt und Zigarren raucht.


Der kleine Sandfleck, aus dem das Unterland besteht, bietet zu jeder Tageszeit während der Saison einen bunten und lebhaften Anblick; aber lustiger ist das Treiben doch nie, als am frühen Morgen, wenn die Überfahrt Statt sindet. Denn gebadet wird dort an den Abhängen der einsamen, abgerissenen Sandhügel, mitten im offenen Meere, und von früh sechs Uhr liegen am Unterland die Boote bereit, welche die Badegesellschaft hinüber- und herüberführen. Die Entfernung ist mäßig; man legt sie in zehn bis funfzehn Minuten bei gutem Wetter zurück. Das Wasser ist ruhig, und von Seekrankheit ist nicht die Rede, wenn man über den untergegangenen Teil der Insel Helgoland dahin fährt.

So war es am zweiten Morgen nach meiner Ankunft. Frisch und kühl genug war es, und an Sonnenschein und duftiger Bläue ringsum, im Wasser unten und am Himmel oben, fehlte es nicht; wie jubelte mein Herz hellauf, indem die Wellen heranliefen und sich leise plätschernd auf dem Kiese brachen. Das erste Seebad! — wahrlich, das ist doch auch eine Phase im Leben eines jungen Menschen. Die Helgoländer Leute — mit ihrem Südwester auf dem Kopfe, mit ihren weiten Hosen und blauen Friesjacken, mit ihren Gesichtern, die alle etwas Felsenhaftes hatten, — so auf die Ruderstange gestemmt zu sehen, so hart, so selbstvertrauend, so lustig dabei: das war auch ein neuer und fesselnder Anblick. Namentlich war ein Helgoländer Junge da, der mir gleich sehr gefiel, und der — wie ich demnächst schon erfuhr — auch gar keine kleine Rolle unter den Argonauten der Düne spielt. Er hatte ein rosenrotes Gesicht, dieser Junge; Nase, Lippen, Stirn und Wangen waren all' von derselben zarten Farbe. Die Augen waren wasserblau und zwei strohgelbe Löcklein, wolgeflochten und trefflich gesalbt, hingen ihm senkrecht an seinen rosenroten Wangen nieder. Dieser schöne Jüngling hieß dazumal — vielleicht heißt er noch heute so — „der Adonis von Helgoland“; und da zu Rosenrot und Wasserblau auch ein sanft Gemüt und fühlend Herz gehört, so war der Liebschaften dieses seefahrenden Jünglings kein Ende, kein Maß und kein Ziel. Zwar weiß ich nicht, wie der andere und schönere Teil, welcher notwendigerweise zu einer Liebschaft gehört, über ihn dachte; aber unser Adonis, — der beiläufig mit seinem mehr christlichen Namen Hender Geicken hieß — liebte frisch drauf los, und wenn es nicht jeden Tag, so war es doch mindestens alle zwei Tage, dass er sein Ideal wechselte. Da bei solcher Weitherzigkeit ihm das Terrain der Heimatinsel bald zu eng geworden sein würde, so hatte er es besonders auf hübsche Ausländerinnen abgesehen, deren ihm die Badezeit eine beträchtliche Quantität von Woche zu Woche in frischer Ladung lieferte, so dass denn Hender Geicken, der Adonis von Helgoland, vom 1. Iuni bis zum I. Oktober ein Leben voller Wonne führte.

Dabei bediente er sich eigener Listen und Verschlagenheiten, dieser Adonis der Nordsee, um sich seine hübschen Herzallerliebsten zu fangen; als zum Beispiel, er stand in dem Boote, das unter seinem Wort und Kommando fuhr, rückwärts auf die Stange gelehnt, als ob ihn die ganze Geschichte nichts angehe. Umsonst, dass ehrwürdige Hausmütter mit ihrem Ehesegen am Ufer standen, händeringend, dass sie nun schon so lange hätten warten müssen; umsonst, dass weißlockige Matronen ihn um Einlass baten. Adonis, Hender Geicken, hatte am Hinterkopf keine Augen, und seine Ohren waren dem Anschein nach mit höchst wichtigen Dingen beschäftigt, die sich allenfalls in der Nähe der englischen Küste zutragen mochten. Aber kaum ließ sich ein zierliches Füßchen, über die Kiesel des Unterlandes heranhüpfend, sehen; kaum war eine hübsche Wade, vom flatternden Winde leicht enthüllt, kaum ein jugendlicher Mädchenkopf mit braunem Strohhut in Sicht: so war auch mein Hender Geicken wieder da, und da hätte mau ihn wirtschaften und hantieren sehen sollen, wie er sein Boot auf den Sand trieb, wie er hinaussetzte, wie er seine schöne Beute ergriff, und ins Boot trug, welches — mit den Ehrwürdigen und Weißlockigen als Ballast gefüllt, — demnächst unter breitem Segel lustig ins Meer strich. — Auch an dem Morgen, an welchem ich meine erste Fahrt nach der Düne zu machen gedachte, stand Hender Geicken in seinem Boote, ohne Augen, wie gewöhnlich, und mit Ohren, die ganz in etwaige Zurufe von der englischen Küste versunken waren. „Verfluchter Junge! willst du wohl hören?“ rief ein alter Herr Stadtgerichtsrat aus Berlin. „Abscheulicher Mensch, kannst du denn nicht sehen, dass wir hier schon eine Viertelstunde warten?“ schrie eine brave Witwe aus der freien Reichsstadt Bremen. Aber der verfluchte Junge wollte nicht hören; und der abscheuliche Mensch konnte nicht sehen; er blieb vielmehr stehen, wie er stand, auf seine Stange gelehnt, und horchte nach England hinüber. —

Da kam von dem großen Pavillon, links, ein ältlicher Herr mit steifen Vatermördern und hohem Filzhut, welchem eine behäbige Frau in grüner Seide, mit einem hellgelockten Kinde an der Hand und eine reizende Brünette von achtzehn Jahren folgte. „Hol up!“ rief da auf Einmal der erwachende Adonis — „ho — ho — hol up!“ — und dabei setzte er über den Rand des Fahrzeugs fort, dass die brave Wittfrau aus Bremen vor Schreck ihren Schirm fallen ließ, welche ihr der galante Herr Stadtgerichtsrat aus Berlin mit dem staunenden Ausruf: „Nanu?“ wieder aufhob. Der entzückte Adonis aber stürzte auf die holde Achtzehnjährige los, schlang seine beiden Arme rund um ihren Leib, und trug sie — die vor Angst schrie und mit den Füßchen zappelte — in sein Boot, als wollte er sie rauben und entführen. Der übrige Teil ihrer Gesellschaft — in welchem ich sogleich meine Hamburger Reisegefährten wieder erkannte, — hatte Mühe, das Boot zu erreichen; und kaum war ich, während der galante Diener der Gerechtigkeit der braven Hanseatin zu einem Sitz verhalf, am Steuer untergebracht, als unser Fahrzeug auch schon mit allen Segeln das Weite suchte. Die braune Kläre hatte wieder eine Eroberung gemacht, und der rosenrote Adonis war um ein neues Ideal bereichert.

Sprechen tat er nicht viel; sprechen war nicht seine Sache. Aber die Blicke! das Erröten! das Grinsen! Wenn er so hintüber lugte, indem das Boot leicht über die goldenen Wellen hintanzte, — als wollte er sagen: „wir verstehen uns!“ Die arme Kläre nun zwar hatte keine Ahnung von den neuen Freuden, die ihrer harrten; aber sie konnte nicht umhin, wenn ihr Adonis sie so zärtlich angrinste, endlich, auch zu lächeln, was denn seinem Liebesglück die Krone aufsetzte. Dann schlug er mit seinem Ruder tiefer in die sonnige Flut, und funkelnd, wie die blauen Wasserperlen abtropften, war auch sein wasserblauer Blick. Im Gegensatz zu diesem sanften Erröten, diesem bedeutsamen Schweigen, ging es zwischen dem ehrenfesten Bürger aus Berlin und seiner Nachbarin, der freien Reichsstädterin desto lebhafter zu. Wie sich das traf! Er seit zwei und einem halben Monat Witwer, mit so und so viel versorgten Kindern, und sie — errötend teilte sie es dem lauschenden, im Dienste Justinians ergrauten Streiter mit — den Witwenschleier nun schon acht Jahre lang in Ehren tragend, vordem das Weib eines tüchtigen Kapitäns, welcher auf See verunglückte, und ihr leider keine Kinder, aber die Versicherungssumme für sein, auf eigene Rechnung geführtes Schiff, hinterließ. — Der Hamburger Handelsherr mit den steifen Vatermördern sprach Nichts; und seine eheliche Hälfte in grüner Seide vermahnte das blondlockige Engelchen sich fester in ihren „Saal“ zu wickeln, denn es ziehe auf der See doch ganz merkwürdig.

Unter solchem Zeitvertreib trugen uns die Wellen rasch genug an den Ankerplatz der Dünen. Der grinsende Adonis hob seine neue Aphrodite aus dem Kahn und versprach ihr — das war das erste Wort, was er mit ihr wechselte — er wolle mit seinem Schiffe für sie bereit liegen, sobald sie mit Bad und Promenade fertig sei. Kläre dankte dem rosigen Fährmann mit einem holdseligen Lächeln, welches die zarten Farben seines Gesichts in das dickste Ziegelrot vertiefte. Bald war der Wegweiser erreicht, wo der bisher für beide Geschlechter gemeinsame Pfad sich teilt und nach dem, einem jeden von ihnen besonders angewiesenen Badeplatz an den entgegengesetzten Seiten des Strandes führt. Hier musste sich auch der Berliner Rat und die Bremer Kapitänswitwe trennen; denn leider ist es nur Herren unter fünf Jahren gestattet am Damenstrand zu erscheinen, und Damen über fünfzig Jahr nicht erlaubt, sich am Strande der Herren sehen zu lassen.

Das ist anders in Ostende und den Bädern von Frankreich und England. Hier tummelt sich die Menschheit, ohne Unterschied der Jahre, des Ranges und Geschlechts in dem für alle gemeinsamen Bassin des offnen Meeres — Kinder, Jungfrauen, Wittwen, Stadtgerichtsräte, Prinzen, Pferde und Badeknechte ... Alles buntdurcheinander. Allerdings ist ein Bademantel für das schöne Geschlecht angeordnet, und eine Art von Gladiatorenhabit — so wie es die Kunstreiter und Gaukler tragen — für das andere vorgeschrieben. Allein solch ein Bademantel wird nass unter allen Umständen, und schmiegt sich alsdann den Körperformen auf's Wundervollste an; zuweilen hebt ihn auch der Wind empor, von den weißen vollen Armen schiebt sich das Gewand zurück und lange, üppige Haare flattern umher, mit den Diamanten des aufjauchzenden Meeres besprengt. Und dann springen die Gladiatoren dazwischen, und die Nymphen entfliehen und die Baigneusen schreien; bis zuletzt eine gütige Welle Alles durcheinander wirft, und wenn sie nun zurückkehrend ins Meer verläuft, so pflegen die Nymphen im Bademantel auf dem Sande zu liegen, und in den Ohren und Nasen der Gladiatoren hat sich so viel Salzwasser gesammelt, dass sie schwören, sie wollten in all' ihrem Leben nicht Jagd mehr auf Nymphen machen.

In Helgoland badet ein jeglich Wesen fein still und sittsam für sich; und der einzige Genoß, mit dem der Mensch sich tummelt, ist die Woge, welche breit und gewaltig gegen die Düne rollt. Ja, das Meer hat hier eine andere Majestät, als dort an den bleichen und doch mit allem französischen Firlefanz aufgetakelten Küsten von Ostende. Das Meer hat hier seine Keuschheit behalten und die erhabene Einsamkeit desselben wird durch Nichts gestört.

Also kam ich zu den Innendünen zurück, und wandelte durch ihre Talschluchten von weißem, glänzenden Sand, und erstieg ihre mäßigen Hügel, die unter jedem Schritte sich zu verschieben und zu verschütten schienen. Zuweilen überkam mich die Täuschung der vollen Abgeschiedenheit, wenn ich durch den schweigenden Sand gewandelt war, und minutenlang nichts vernommen hatte, als den entfernten Schrei der Möve und das Rollen und Murmeln der See unter den Hügeln. Zuweilen vernahm ich das Lachen eines Mannes und das fröhliche Wort einer Frau, vom Wind aus einer benachbarten Sandschlucht heraufgetragen; oder über die Fläche gingen ein paar Lustwandelnde dahin, mit flatternden Haaren, mit lustig wehenden Tüchern. Zuletzt trat ich wieder beim offenen Meere heraus. Hier an einer sonnig-ruhigen Stelle des Strandes saßen Kläre und Angelika. Die braunen Haare des älteren Mädchens hingen geglättet auf ein schimmernd weißes Battisttuch über der Schulter nieder, während das blonde Gelock des jüngeren, feucht noch vom Wasser, um den Kopf hin- und herflog, wie der Wind es wollte. Sie saßen mit dem Rücken mir zugekehrt und sahen mich nicht. Sie sangen mit süßen gedämpften Stimmen das schöne Lied vom Meere, das weithinaus erglänzte. — Dann schwiegen sie ein Weilchen und Angelika sagte:
„Kläre, möchtest du wohl nach England?“

„Ach ja, Engelchen,“ erwiderte Kläre, „das möchte ich wohl. Ich habe eine Sehnsucht nach England, als wenn da meine rechte und wahre Heimat wäre — da, in dem stillen Landhaus mit dem goldgrünen Rasenplatz davor, in Clapham, wo der Vater geboren ist und gelebt hat, ehe er nach Deutschland ging.“

„Sag doch Kläre,“ plapperte das Engelchen weiter, „warum gehen wir nicht alle nach England zurück, wenn ja dort unsere rechte Heimat ist?“

„Das wäre wol hübsch,“ entgegnete Kläre; „aber was sollte dann aus unserem Garten mit den großen, dunklen Bäumen an der Alster, und aus unserem Haus mit den Epheuwänden werden? Und was würde unsere Großmama sagen, wenn wir mit der Mama sie nicht mehr am 15. Mai besuchten, um in ihrem großen Garten bei Rendsburg ihren Geburtstag zu feiern?“

„Ja, daran habe ich gar nicht gleich gedacht, Kläre,“ sprach das blondlockige Kind; „aber sag doch Kläre, wenn nun ein schönes Schiff hierher käme, — weißt du, so ein recht schönes Schiff, wie sie in Papas Arbeitszimmer an den Wänden gemalt hängen — und ein recht schöner Kapitän stände an Bord und sagte: Fräulein Kläre, kommen Sie doch, reisen Sie doch mit uns! Wir wollen nach England fahren — sag' mal, Kläre, was würdest du dann tun?“

Da sprang Kläre hastig auf — ihr Gesicht war über und über mit dem süßesten Purpur bedeckt — und sie ergriff die Hand des Kindes und sagte: „Engelchen, da ist der Herr wieder lass uns laufen und die Eltern suchen!“

Die beiden Mädchen enteilten — nur Angelika sah sich einmal um, Kläre aber zog sie rascher mit sich fort, und bald waren sie unter dem blauen, tiefen Schatten der Sandhügel verschwunden. In dem Herrn, welcher die holden Kinder aus ihren Träumereien am Meere aufgestört hatte, erkannte ich Arthur und dicht hinter ihm sah ich seinen Onkel.

„Dies ist das Mädchen gewesen,“ hörte ich Arthur sagen, indem er an mir vorüberging, rascher, als wolle er den Entfliehenden nacheilen. „Dorten, Onkel, das Mädchen mit dem schlichtbraunen Haar über dem weißen Tuche.“

„Ein kapitaler Geschmack, mein Junge!“ erwiderte der Onkel, indem er den Hut abnahm, um sich die feuchte Stirn zu trocknen nnd mächtiglich dabei schnaufte. „Aber du meinst doch nicht, dass meine fünfzigjährigen Beine so flink und flüchtig seien, als die Füßchen dieser beiden Kinder? Ruhig, mein Junge, ruhig, sag' ich! Keine Gemütsaufregung im Seebade! Der Raum, auf dem wir uns hier bewegen, ist so klein ... Du wirst sie noch hundertmal wiedersehen. Komm, wir gehen jetzt zum Frühstückspavillon; und ich wette, du findest sie bei einem Stück Schinken und einem Glase Madeira wieder ...“

„Onkel!“ rief Arthur in vorwurfsvollem Tone, und vergeblich bemüht, seinen schnaufenden Anverwandten weiter zu bringen.

„Essen und trinken müssen wir Alle, mein Junge. Auch ein schönes Mädchen mit braunen Haaren, sag ich, muss essen und trinken. Aber einzig ist und bleibt es doch, sich so auf den ersten Blick in ein Mädchen zu verlieben ....“

„Verlieben?“ unterbrach Arthur mit dem Tone des allergrößten Staunens seinen Onkel.

„Verlieben, mein Junge, — verlieben, sag' ich! Junge Leute müssen sich verlieben. Wenn sich junge Leute nicht mehr verliebten, dann wäre die Welt bald voll von so alten, lahmen Junggesellen, wie dein Onkel einer ist, und mit der Menschheit nähm's ein betrübtes Ende. Verlieb' dich nur, mein Junge und ...“

Der Schluss dieser ermunternden Rede verlor sich im Winde. Die beiden Männer, die auf dem Platze gestanden hatten, auf welchem vorhin Kläre und Angelika gesessen, gingen weiter und auf meinem Sandhügel, mit dem Blick auf die einsame See, lag ich wieder allein in der steigenden Gluth der Sonne.

Der Frühstückspavillon, ein Bretterschuppen mit einem Dach von Segeltuch, liegt — der Insel gegenüber — an einer flachen, aber geschützten Stelle unter den Dünen, nicht weit vom Landungsplatze. An Bequemlichkeiten enthält dieser Pavillon Nichts, außer ein paar hölzernen Bänken und Tischen, einem Herde, um allenfalls Kaffee zu kochen und Eier zu sieden, und bei windigem oder regnerischem Wetter ist es unbehaglich genug darin zu sitzen. Aber für den Magen ist trefflich gesorgt, und bei Sonnenschein, wie an jenem Morgen, gibt es kein besser Vergnügen, als hier, beim Anhauch der frischen Brise vom Meer herüber, sein Frühstück zu verzehren. Kläre und Angelika jedoch saßen nicht bei Schinken und Madeira, wie Arthurs gutmütiger Onkel sich eingebildet; vielmehr waren sie, als ich den Pavillon erreicht hatte, schon wieder am Strande, wo Hender Geicken mit den beiden Locken richtig auf sie gewartet hatte. Er schien daselbst in einer Art von Versteck und Hinterhalt auf der Lauer gelegen zu haben; denn kaum war Fräulein Kläre am Ende des Bohlenweges, der vom Pavillon ans Wasser hinabführt, in Sicht gekommen, so stürzte er hervor, umschlang und trug sie, wie vorher, in sein Boot, den Ellern und Angeliken nicht viel Zeit lassend, sich gleichfalls einzuschiffen. Dann ging das Boot mit vollen Segeln wieder in See, und umsonst riefen und demonstrierten zwei Herren vom Strande aus, dass sie auch mitfahren wollten. Adonis war fort, und ich sah, wie der eine von den Herren, der jüngere derselben, noch lange stand und dem entschwebenden Weiß der Segel nachschaute, während der andere rasch und mit entschiedener Wendung Kehrt machend, auf den Frühstückspavillon deutete, als wolle er sagen: „Essen und trinken müssen wir alle, mein Junge; schöne Mädchen mit braunen Haaren und verliebte Advokaten ohne Praxis nicht ausgenommen!“

Denn, so wenig ich auch im Allgemeinen mit der übrigen Badegesellschaft verkehrte: das hatte ich bald genug in Erfahrung gebracht, dass Arthur — seit zwei Jahren als Doktor beider Rechte unter die Hamburger Advokaten aufgenommen — bis jetzt weder Mann noch Frau gefunden habe, die ihm einen Prozess anvertraut hätten; dass sein Onkel aber ein reicher, vom Geschäft zurückgezogener Herr sei, von welchem Arthur einst viel zu erwarten habe. Die Tage gingen in schöner Einförmigkeit dahin; dem Bade auf der Düne folgte die Heimkehr und das müßige Schlendern am Falm, der gegen das Meer und den Abgrund durch ein starkes Eisengitter geschützten äußersten Kante des Oberlandes. Dem Mittagessen folgte Musik und Kaffee in einem von den beiden Pavillons des Unterlandes, dicht am heranspülenden Wasser, und dann wechselten Bootfahrten und Promenade bis zum Sonnenuntergang. Die Promenade allerdings war sehr beschränkt; im Unterlande bot sich die Bindfadenallee — ein schmaler, von überhängenden Klippen geschützter Sandweg zwischen den ausgespannten Stricken eines dort unverdrossen arbeitenden Seilermeisters; und der Lougchamps des Oberlandes bewegte sich zwischen den mageren Haferfeldern und den dünnen, um ihre Eisenpflöcke laufenden Schaafen der Kartoffelallee, welche sich der Länge nach durch die ganze Insel, an ihrer Westseite, hinzieht.

Der Sonnenuntergang ist das große Ereignis im Badeleben von Helgoland. Er versammelt die Gäste an der Nordwestspitze, wo man — wie auf einem ungeheuren Felsbalkon — der rollenden See, der rollenden Sonne und der ganzen Herrlichkeit des aufgetanen Himmels frei gegenübersteht. Mir war dieser Platz um die Stunde des Abendrots der allerliebste; ich saß da oft genug bis es finster war und kein Mensch mehr zu sehen noch zu hören — nur das Rauschen der Brandung, voll und tief in den Felshöhlen unter mir, füllte mir die Seele, und vor meinen Ohren klang eine Musik, die ich mein Lebtag nicht vergessen will. Oft in fremden Ländern und an entlegenen Küsten habe ich sie wieder vernommen — immer so eintönig, so düster, so groß, wie eine Musik der jenseitigen Welten.

So saß ich eines Abends, zur Zeit der Dämmerung, auf der Holzbank an der Nordwestspitze. Rot und glühend lag die Wölbung des Himmels über mir, und das ganze Meer schäumte purpurn bis zum fernen Horizont, wo es sich in düster flammendes Nebelgewölk — getränkt vom Licht der Untergangssonne, die unter diesem Gewande zu verbluten schien — verlief. Die Großartigkeit dieses Anblicks hatte zugleich etwas Unheimliches und Fürchterliches; ein greller Widerschein färbte die roten Felskanten umher, so dass sie magisch funkelten, und Möwen, gleichfalls in die Glut der Atmosphäre getaucht, flogen kreischend rundum oder verloren sich in die Dämmerung der Klippenschluchten. Die Natur brütete Unheil, und wenn es auch die Schiffer und Lotsen nicht schon den ganzen Tag verkündigt hätten, so würde es nun doch das Herz vorausgesagt haben, dass ein Wetter im Anzuge sei. Jede Kreatur schien eine große Beklemmung und einen ängstlichen Druck zu empfinden. Mit dumpferem Schalle rollte das Wasser in den unterirdischen Höhlen ein und aus, und der Wind, indem er leise durch das schauernde Riedgras lief, hatte den Ton eines bangen Seufzers.

Da vernahm ich zuletzt Schritte durch die Dämmerung; es waren zwei Herren, welche den Pfad herabwandelten, und vor der anderen Bank, rechts von mir, stehen blieben. Schon war die Röte des Gewölks in Gelb und Grüngran geschwunden; und das Zwielicht und die Entfernung verhinderte sie, mich zu sehen, und mich, ihre Gesichtszüge zu unterscheiden. Ich sollte aber darüber nicht lange in Zweifel bleiben.

„Lass uns einen Augenblick Platz nehmen auf dieser Bank, Arthur, mein Junge,“ sagte der eine von den Herren. „Es wird Dir gut tun, ein bisschen im kühlen Abendwind zu sitzen. Dein Kopf ist Dir so heiß, Arthur, und Dein Herz ha, ha, wie wird Dir Dein Herz erst glühen!“

„Ich bitte Dich, Onkel,“ erwiederte Arthur, „sprich nicht davon. Du hast nun diese zwei Tage lang Nichts getan, als Deine Scherze über mich zu machen. Aber zum Scherzen ist mir diese Sache doch wahrlich zu ernst, Onkel.“

„Wollte Gott, Du machtest endlich einmal Ernst,“ sagte der Onkel. „Was soll dies ewige Kopfhängen? Warum gehst Du nicht grad' auf sie zu — sprichst mit ihr, wie es die andern jungen Herren machen, tanzest mit ihr, führst sie zu Tische, eroberst ihr Herz und ... und das Andere wird sich finden. Verlass Dich darauf, mein Junge.“

„Onkel, das kann ich nicht!“ versetzte Arthur mit einem schüchternen und befangenen Tone. „Siehst Du, wenn sie so dasteht, einsam am Strande, und in die Ferne schaut, wo die Schiffe segeln, und wenn ihr braunes Haar so im Winde flattert — dann kann ich sie stundenlang von einer Dünenschlucht aus ansehen, aber ich möchte um Gotteswillen nicht, dass sie es wüsste. Denn ich fürchte immer, sie würde dann nicht wieder am Wasser stehen und so schön und träumerisch in die Ferne sehen. Oder wenn sie im Saale sitzt, wo die Andern tanzen, und ihre Hand in der der kleinen Schwester liegt — meinst Du dann, ich könnte zu ihr gehen, und sie auffordern? Wahrlich, das Wort würde mir in der Kehle stecken bleiben, und ich würde vor ihr stehen, rot und stotternd und gottverlassen, nicht besser wie ein Schulknabe. Ja, wenn sie dort säße, auf jener andern Bank —“ und dabei deutete er nach der Seite hin, wo ich zum Glück in tiefe Dämmerung gehüllt saß — „und kein Mensch wäre hier außer mir und ihr — o, was sollte ich ihr wohl sagen? Ich weiß es nicht; ich würde mich verstecken und sie ansehen, und immer noch hinsehen, wenn sie längst schon in der Dunkelheit unkenntlich geworden wäre. Nein, Onkel, mit ihr reden oder tanzen oder zu Tische gehen — das kann ich nicht! Aber siehst Du Onkel, wenn sie hier am letzten Klippenrande stände — wenn sie sich vorbeugte — wenn sie schwankte, wenn sie sänke und stürzte: dann würde ich ihr nachstürzen, ob ich sie nun retten könnte oder nicht. Ja, das würde ich tun!“ sprach er, indem er an den jähen Rand der Klippe vortrat, als sähe er Klärens weißes Kleid eben in der Dunkelheit des Abgrundes verschwinden.

„Um Gotteswillen,“ rief sein Onkel; „geh fort da von dem Felsen und sprich mir nicht von solchen Dingen, Arthur, Du weißt, das macht mich schwindlig. Sprich mir nicht von Stürzen und Retten und dergleichen, sag' ich. Wer wird im Seebade solch aufregende Gespräche führen? Komm, sag ich, mir ist angst und bange geworden, wie ich Dich habe dahin gehen sehen — komm fort von diesen Klippen, wo es so unheimlich weht und wettert; und dass Du mir nie wieder so entsetzliche Anspielungen machst!“

Die beiden Männer standen auf und gingen. Langsam verlor sich der Schall ihrer Fußtritte in der dunklen Wolkennacht; aber das Rauschen des Meeres wuchs und das Sausen des Windes wurde stärker.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Verschollene Inseln