Die Fahrt des Mercators

Wer en goder Loots will sien
De paff' wol up sin Lot un Lien,

      Helgoländer Schifferspruch.

Auf einer Fahrt nach Helgoland war es, wo ich das Meer zum ersten male sah. Es ist lange her; acht Jahre, oder so, — aber ich werde den Tag nicht vergessen. Wie wir uns in früher, kühler Morgenstunde an Bord des Dampfers „Mercator“ versammelten, die meisten echte Sonntagsgesichter, die den ganzen Ausflug nur zum Vergnügen berechnet, hatten und damit sie doch auch mitsprechen könnten, wenn fürderhin vom Meere die Rede; wie wir Alle die Zeit nicht erwarten konnten, bis die Maschine in Freiheit gesetzt sei, und wie wir zuletzt, alle zusammen überglückselig, die ersten Stöße empfanden und dann hinausfuhren, zwischen den ankernden Schiffen im Hamburger Hafen und ihren Sonntagsflaggen. Es war ein recht kurzes Glück. Die Sonne ging Morgens, gegen sechs Uhr, wieder unter und wir sahen sie den ganzen Tag nicht mehr.


Nebel setzte sich zur Rechten auf die schönen Hügel des Altonaer Ufers und der dänischen Küste; und das hannoversche Land zur Linken lag in tiefe Schatten begraben. Die Sonntagsgesichter wurden darob höchst verdrießlich, und fragten den Kapitän ob es auf See immer so nass und so kalt sei? „Well“, sagte dieser — ein breiter Englishman mit dunkelroten Bärten rund um das Gesicht, der von den fünfzig Jahren, die er zählte, zwanzig Jahre in Hamburg gelebt hatte, aber für sein Alter noch recht schlecht Deutsch sprach — „well, wie es will sein auf See, wir können nicht wissen jetzt. Sie mögen noch warten einige Stunden.“ „Was, noch nicht auf See?“ schrieen sie. Das Schiff ging allerdings schon recht munter auf und nieder; denn der Wind kam von West herein, und das Elbwasser, das hier stundenbreit mit der Ebbe ihm entgegenrollte, bäumte sich, so oft es von ihm schärfer gefasst ward. Einer von der Gesellschaft, welcher ihr Vergnügungskommissarius zu sein schien, sagte, er sehe gar nicht ein, warum man hier auf Deck zu frieren brauche — er mache den Vorschlag, hinunter in die Salon zu gehen und dort mit einem Beafsteak und etwas Porter zu beginnen. Ja, sagten die Anderen; das sei ein Vorschlag zur Güte, und kurz darauf war das Deck leer und zuweilen hörte man von unten herauf Lachen und Gläserklang.

Unter den Leuten, welche oben blieben, fesselte mich eine Gruppe besonders; schon deshalb, weil sie auf einer Bank saß, dicht am großen Schornstein, woselbst es sehr warm und behaglich war. Die Gruppe bestand aus einem älteren Herrn mit grauem Kopf und schmalem, feinem Aristokratengesicht, mit steifen Vatermördern, hohem Filzhut und in einen Plaid gehüllt. Neben ihm saß eine dicke Dame in grüner Seide, Nebelkappe und Pelzmantel, mit einem höchst gemütlichen Gesicht und der Eigenschaft, kein „sch“ aussprechen zu können. Sie sei so müde, war das erste Wort, welches ich von ihr verstand, sie habe die Nacht fast gar nicht „geslafen“. Unter die Flügel dieser würdigen Matrone duckten sich zwei jüngere Geschöpfe; das eine davon ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren ungefähr, mit braunen Haaren, breit unter den Hut gepresst. Das andere ein liebliches Kind von zehn Jahren mit hellen Locken rund um den Kopf. Der Herr mit den Vatermördern stand auf und trat zum Kapitän, der ihn ans seemännische Art höchst respektierlich begrüßte.

„Sieh, sieh“, sagte die dicke Dame in Grün, — „das ist doch richtig der Kapitän, der für den Vater ein Siff geführt hat, als der Krieg um Sleswig-Holstein angegangen war; und da haben ihn die Dänen gekapert und mit hineingenommen in den Sund. Davon weißt Du wohl Nichts mehr, Angelika?“

Das Kind schüttelte den Kopf, dass ihm die hellen Locken über die Augen flogen. „Musst nicht!“ sagte die Graue — „willst Du wohl die Locken nicht so vertoddern?“

„Aber ich besinne mich noch recht gut darauf,“ sagte die Achtzehnjährige mit dem braunen Haar. „Ich war damals beim Onkel in London, und die Geschichte vom Vater und seinem gekaperten Schiffe stand in der „Times“, und der Onkel las sie der Tante vor, und da hörte ich sie auch“. —

„Kläre!“ rief da der Herr mit den Vatermördern, ihr Vater, und sein Deutsch hatte einen scharfen Anstrich von Englisch, als ob er ein geborner Engländer sei, „komm doch hierher, Kläre! Ich will Dich einmal unserem wackeren Kapitän präsentieren!“

Kläre stand auf und das Angesicht des wackren Kapitäns, das sonst schon rot genug war, nahm jetzt die braunrote Couleur seines Backenbartes an, indem er Klären begrüßte.

Das ging auf dem Quarterdeck, in der Nähe des großen Schornsteins vor, dessen Rauchsäule dick und trüb in den aschgrauen Himmel stieg und nur zuweilen, wenn der Wind hineinfuhr, das Deck und die darauf befindlichen Passagiere, die hellen Locken Angelikas und die braunen Haare Klärens mit Kohlenresten bestreute. Auf der Luftseite, als suche er den frischen Wind und das herüberspritzende Wasser, ging ein junger Mensch, blutjung und hübsch gewachsen, und mit einem Gesicht voll Intelligenz und Gutmütigkeit, und mit einem paar sehr schwärmerischen Augen. Diese Augen halte er immer — Gott weiß wie — auf den Platz gerichtet, an welchem sich Kläre befand; und indem er selber in Wetter und Wind zwischen Steuer und Lotsenbrücke hin- und herwanderte, machten seine Augen ihre besonderen Wanderungen von der Bank am großen Schornstein, wo Kläre gesessen, bis zu der Treppe des Kapitäns, wo sie nun stand. „Wenn der sich mit seinem Herzen nicht in die braunen Haare dieses Mädchens verwickelt hat, so will ich selber mein Lebtag keine braunen Haare mehr hübsch, keine dunklen Augen mehr gefährlich und keine rosigen Lippen mehr einladend finden, einen Kuss darauf zu drücken!“ dachte ich, auf meinem Tabouret, welches ich mir an Leeseite aufgestellt hatte. „O du armer, verliebter Seefahrer!“ dachte ich weiter; „warum machst du es nicht, wie es die Dänen mit dem „Siff“ ihres guten Vaters gemacht haben? Warum kaperst du nicht?“ — Kein Gedanke daran; er ging hin und her, und her und hin, und seine Augen taten desgleichen.

Endlich kam Cuxhafen, die rote Tonne und die See! Auf eine Weile ließ ich Vater, Mutter, Töchter und den einsamen Liebhaber. Mich grüßte das Element, welches mir in späteren Jahren noch so bedeutungsvoll werden sollte; und ich — ein junger Studiosus dazumal, im zweiten Semester der Jurisprudenz beflissen — grüßte es wieder. In der ganzen Majestät seiner sonnelosen Unendlichkeit lag es vor mir — unter einem Himmel, graugelb, wie es selber; mit feinen breiten Wogen, eine hinter der anderen herstürzend und sich unter unserem Kiel einwühlend, so dass das gute Schiff bald oben saß und bald wie an einer Hügelwand hinunterschoss, Schaum und Brausen zurücklassend. Dazu strich der Wind breit und voll über die hin- und hergewälzte Masse der Wasser, und es wehte mich an wie eine neue Luft und eine neue Zukunft. Bote einer fernen, unbekannten Welt war mir der Wind, und lustig mit dem Schiffe machte mein Herz seine Sprünge — Well' auf, Well' ab. Es war das Gefühl, eine neue Welt entdeckt zu haben, welches meine Seele so weit machte — so weit wie das dunkle Meer, wie den dunklen Himmel selber.

Aber den Sonntagsgesichtern, die nun aus dem Salon heraufstürmten, war das noch lange nicht „Meer“ genug. „Ist das Alles?“ fragten sie den wackeren Kapitän. „Well“, sagte dieser höchst gleichmütig, „das ist Alles!“ — Die Sonntagsgesichter hatten sich etwas ganz Anderes unter dem Meer vorgestellt — Stürme, dass die Masten zitterten, Wellen, so hoch — wie nach ihrer Einbildung höchstens noch der Mont Blanc sein könne, — allerlei Unwetter, wilde Tiere, Haifische und dergleichen — kurz, etwas Absonderliches, von welchem sich daheim erzählen ließe. Dies war aber das allergewöhnlichste Einerlei, welches sich ein Mensch vorstellen kann. Ein bisschen gelbes Wasser, wie man's in der Elbe auch hat, wo sie am breitesten ist; ein bisschen Wind, nicht der Mühe wert, um deswegen einen ganzen Sonntag und den Montag obendrein daran zu setzen — ein paar Wellen, die immer dasselbe Geräusch machten und dem Schiffe ein paar elende Stöße versetzten — die Stöße allerdings waren nicht angenehm... „Zum Henker!“ rief der Vergnügungskommissarius — „wollen doch sehen, ob mich diese Stöße noch lange aus dem Gleichgewicht bringen sollen! Wollen doch sehen, wer stärker ist... wollen doch sehen...“ „Wenn's mit dem Stehen nicht geht, wollen wir's mit dem Sitzen probieren — Jungens, auf den Boden!“ riefen ein paar Andere, und die Einen setzten sich, die Meisten aber fielen. „Wollen doch sehen“, rief der tapfre Führer — „ Kellner, einen Buddel Sekt und Gläser... wollen doch sehen...“ und dabei lag er platt auf der Erde. Denn das Schiff machte jetzt heftige Schwankungen; und je weiter wir in See kamen, desto voller und rascher ging das Wasser. Der Sekt kam, aber der Eine sagte, er könne das Glas nicht halten, und der Andere sagte, ihm sei übel, wenn er nur an Sekt denke... und der Führer, welcher mit seinem kaum noch verständlich „Wollen doch sehen“ das erste, sprudelnde Glas an die Lippen gesetzt hatte, ließ es fallen, dass es klirrend am Boden in tausend Scherben zersprang, denn —

In diesen Gedankenstrich lege die nachhelfende Phantasie des Lesers so viel Weh und Leidwesen, als ihm irgend möglich. Er lege Grabesschweigen, Totenblässe und kalten Angstschweiß hinein; Verzweiflung, Lust, sich über Bord zu rollen, Ekel am Leben, Magenkrampf und Herzbeklemmung. Alles, was ihm an fliegender Hitze und Fieberfrost zu Gebote steht, lege er hinein. Das Letzte freilich und das Bitterste von Allem — das Ende, welches leider nur immer den Anfang neuen Jammers bezeichnet: das hineinzulegen, kann selbst der grausame Verfasser des Gedankenstrichs nicht von ihm verlangen. Dieser saß, wie gemeldet, auf seinem Tabouret an Leeseite und freute sich über das große Meer und lobte es in seinem Herzen über die Rache, die es an seinen Verächtern, diesen kleinen Sonntagsmenschen, genommen hatte. Leider war auch die Gruppe am großen Schornstein sehr still geworden. Der Herr mit den Vatermördern hatte das Gesicht gesenkt, und sein hoher Filzhut saß windschief auf dem ehrwürdigen Grau seines Hauptes. Das Mädchen mit dem braunen Haar hatte sich lang auf den Boden gestreckt und die zierlichen Füße mit ihrem Mantel zugedeckt; der helle Lockenkopf lag neben ihr und die Dame in grauer Seide rief mit konvulsivischem Zittern der Stimme: „Eine S... eine Sa... eine Sa- Sale!“ Der junge Mann an Windseite, welcher schon seit mehreren Stunden über eine Gelegenheit nachgesonnen haben mochte, mit der Familie am Schornstein anzuknüpfen, griff hastig, man könnte sagen mit leidenschaftlicher Gier nach einer von den Messingschalen, wie sie hier „zum Gebrauch der Delphine“ herumgestellt werden; aber kaum fing er an, dem Ziele seiner Sehnsucht entgegenzuschreiten, als ihn auf halbem Wege ein Zittern ergriff, — ein Schritt weiter, da versagten ihm die Füße den Dienst und ... da lag er, mitsamt seiner Schale, zu den Füßen der seekranken Mutter seines geliebten Gegenstandes — Kopf an Kopf zwar mit ihr — — — —

Vier Stunden später waren wir in Sicht von Helgoland. Wie eine dichte Wolkenmasse erschien die Insel zuerst auf dem Hintergrunde des flüchtigeren Gewölkes. Dann war es, als nehme die Masse an bestimmter Form und Festigkeit der Umrisse zu; man sah den grünlichen Schimmer auf ihrer Oberfläche, den roten Schein an ihren Wänden. Zuletzt tauchte auch rechts davon der weiße Strich der Düne von Helgoland auf, — ein Kanonenschuss vom Deck ein Kanonenschuss vom Lande zweimal, dreimal ... Die rote Fahne von England hier am Topmast, dort auf einer Stange über den Felsen ... Der Anker fiel, Boote schwammen heran. Die seekranke Gesellschaft wurde in dieselben verladen, sie schwankten dem Lande zu, wo ein Musikcorps die Ankömmlinge begrüßte, und eine doppelte Reihe neugieriger Menschen, die sich auf beiden Seiten spalierförmig aufgestellt hatte, sie mit allerlei guten und schlechten Witzen empfing. Dies ist die berühmte Lästerallee von Helgoland. Jeder Ankömmling muss sich's gefallen lassen, hier verlästert zu werden; dafür hat er aber auch das Recht, sich an allen Seekranken, die nach ihm kommen, zu rächen.

Als unsere Sonntagsgesellschaft festen Grund unter sich fühlte, hatte sie auch unverzüglich wieder das große Wort. Wo ihr Sekt wäre? schrieen sie rückwärts über das Meer. Sie wollten ihren Sekt haben! Und der Kellner sollte ja nicht ihn vergessen mitzubringen, wenn er an Land käme! — Aber kein Mensch glaubte an ihre Renommage, denn sie sahen so geisterbleich und verstört aus, als seien sie eben aus dem Grabe gestiegen; Einer von ihnen hatte auch den Hut verloren, und die Lästerallee hatte vollauf zu tun. Als aber Kläre, blass und edel, wie eine Marmorgestalt, auf den Arm ihres Vaters gestützt, vorüberschritt: da wagte Niemand zu lachen und zu lästern; im Gegentheil entblößten zum Gruße viele der umherstehenden Herren ihre Häupter „Das ist ja der reiche Schiffsmakler S.“ flüsterte Einer dem Anderen zu; „und das da ist seine Frau, eine biedre Frau!“ hieß es. Die biedre Frau führte Angelika, deren liebliches Kindergesichtchen ganz verweint aussah, an der Hand; „sei ruhig, mein Säfchen,“ sagte sie, „jetzt ist Alles vorbei — jetzt bist du wieder gesund so, so, mein Sätzchen!“

„Das bist du ja! Bei Gott! Arthur, du!“ — rief ein wohlbeleibter, jovialer älterer Herr, indem er dem Luftseitenschwärmer, der in der Liebe so unglücklich debütiert hatte, entgegentrat und ihn in die Arme schloss. „Ach,“ seufzte dieser, „mein lieber Onkel! Es ist mir schlecht gegangen.“ — „Kann mir schon denken,“ lachte dieser gutmütig; „das Meer verlangt sein Opfer. Aber man bekommt Appetit danach. Werde dich schon wieder kurieren, Arthur! Komm!“ —

Das war der Tag, an welchem ich das Meer zuerst gesehen; und also kam ich nach Helgoland.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Verschollene Inseln