Arthur, der sich eine Braut aus den Wellen holt

Zu Mittag des anderen Tages wehte es einen heftigen Sturm. Früh am Morgen war das Wetter noch erträglich gewesen; dann und wann war der Wind wol schärfer durchs Meer gestrichen, aber im Ganzen war die Fläche noch nicht aufgewühlt, und die Schiffer prophezeiten, dass man sich bis gegen Abend auf das Wasser verlassen könne. Die Schiffer von Helgoland aber, in ihrer lebenslangen Vertrautheit mit dem Element, das sie unablässig umgibt, und in ihrer Vorsicht, welches dasselbe sie gelehrt, sind das Orakel für die Badegäste, und man fühlt sich zuletzt so sicher in Dem, was sie aussprechen, als ob sie Macht über Wind und Welle besäßen. Darum hatte man an diesem Morgen auch die Überfahrt zur Düne gemacht, und um so eifriger des schäumenden Bades genossen, als man im Voraus wusste, dass der nahende Sturm die Verbindung mit der Düne für mehrereTage aufheben würde. So gingen von der sechsten Morgenstunde an die Boote hinüber und herüber, wie gewöhnlich. Der Himmel hing voll riesengroßen Gewölkes, welches zuweilen ganz niedrig über das Wasser hinwegflatterte. Dann blies es der Wind für eine Weile nach beiden Seiten auseinander und die grelle Sonne warf einen kurzen Schimmer umher, den die stahlgraue, springende Wogenfläche blendend zurückspiegelte. Hierauf schloss sich das Gewölke wieder, und rasch, ohne jeden Übergang, war Luft und Wasser unheimlich finster, wie zuvor. Zuletzt blieb die Sonne ganz aus, und gegen elf Uhr fiel ein so schwerer Regen, dass Alles ringsum in eine trübe Wassermasse zu verschwinden schien. Das Rauschen der Wogen klang hohler, etwa so, als ob es aus unergründlichen Tiefen mühsam heraufbreche; und die Stöße des Windes folgten sich rascher. Diese Windstöße sind die Vorboten des stürmischen Meeres; sie eilen ihm voran, wie der Blitz dem Donner. Der Aufruhr des Küstenmeeres wird in entfernten Seen geboren; und der zerschmetternden Mutterwoge, welche mit der ganzen Breite des Ozeans herandonnert, ehe sie sich an den Inseln und Ufergürteln gebrochen hat, reitet der Sturm voraus mit der Lärmtrompete, um den Seemann zu warnen. Dann pflegt ein fürchterliches Regenwetter zu folgen, als wolle der Wassersturz von oben das Meer noch einmal schwellen, und unter diesem doppelten Andrang macht es selber nur seine ersten, wildesten Sprünge.

Das Boot, in welchem ich die Heimfahrt nach der Insel machte, befand sich auf halbem Wege, als der Wolkenbruch uns überfiel und unser armes Fahrzeug unter Wasser zu setzen drohte. Mit seinem Lederhute tief im Nacken, das braune Gesicht fest und unverwandt aufs Wasser zu seiner Seite gerichtet, saß der Steuermann da, bald hoch, bald niedrig, wie das Boot jetzt schräg an einer steigenden Woge hing, jetzt hinuntergewälzt wurde, wenn sie sich, ihren Schaum über uns fortschleudernd, brausend verlief. Das Boot saß voll von Passagieren, voller als sonst, da beim nahenden Ausbruch des Wetters Alles, was sich auf der Düne befand, an deu Abfahrtsort stürzte und auf Einmal mitgenommen sein wollte. Nun schrieen sie Alle und jammerten, es sei zu voll und schwer, es werde umschlagen, wenn noch eine solche Welle käme, und es werde das Ufer nimmermehr erreichen. Der alte Jenssen aber, welcher bisher unbekümmert am großen Segel gesessen, sagte zuletzt, sie sollten sich doch nicht so ängstlich betragen; sie sollten Gott danken, sagte er, dass sie noch gerade vor dem Sturme herliefen, und am Land sein würden, ehe der richtige Tanz angegangen. Nach einer Viertelstunde waren wir am Land. Der Regen strömte fort, wie bisher, und die Wellen schlugen über den Damm und liefen am Strande des Unterlandes hin und zurück. Boot an Boot kehrte aus dem Wasser heim und jämmerliche Gruppen von verweinten Kindern an der Hand bleicher Mütter bewegten sich nach dem bewohnten Teile der Insel. Das letzte Boot lief an.


„Wo sind meine Kinder?“ schrie eine Dame, deren Kleider von Regen und Meerwasser trieften. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, denn es war in einem Kautschukmantel verhüllt; aber ich erkannte den Ton ihrer Stimme, obgleich er anders klang als damals, wo ich ihn zuerst vernommen. Die ganze gewaltige Verzweiflung eines Mutterherzens bebte und zitterte in den vier Worten.

„Sie sind nicht da,“ sagte, kaum hörbar, so hatte Angst und Beklommenheit seine Brust gepreßt, ein Mann, der von der andern Seite des Strandes herantrat. „Die Boote sind alle zurück und unsere Kinder sind nicht da.“

„Gerechter Gott im Himmel — meine Kinder, meine Kinder!“ schluchzte die Frau, indem sie zu dem Steuermann stürzte, welcher mit mehreren Andern beschäftigt war, das letzte Boot ans Land zu schieben und fest zu machen. „Bist Du es nicht gewesen,“ rief sie, „der mich in dieses Boot getragen hat, und mir sagte, dass meine Kinde in einem anderen Boot abgefahren seien?“

Ja,“ sagte dieser ganz gleichmütig, „ich habe gesehen, wie Hender Geicken das älteste Mädchen rund um den Leib fasste und in sein Boot schleppte. Weiter habe ich auch Nichts gesagt.“

Da kam Hender Geicken mit einem sehr betrübten Gesichte und sagte, ja — er habe das „Frölen“ auf sein Boot tragen wollen, aber sie habe sich mit Händen und Füßen gewehrt und habe geschrieen, ihre kleine Schwester sei nicht da; und die kleine Schwester habe auf den Bohlen gestanden und laut geweint, sie könne Papa und Mama nicht finden, und indessen sei das Boot von Menschen überfüllt worden, und die Leute hätten gerufen, wenn er nicht gleich käme, so wollten sie ohne ihn abfahren. „Und da ... da...“ schloss er stotternd, „da...“

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Mit dem linken Arm auf den Rand des Bootes gestützt, stand die unglückliche Mutter. Ihr Auge, mit einem wilden Funkeln, sah in die Ferne, welche von schweren Regenschichten verhüllt war, so dass man die Düne nicht mehr unterscheiden konnte, und die Wellen zischten bis an ihren Fuß und der Wind riss ihre Haare auseinander.

„Ich muss meine Kinder wieder haben, Bootsmann!“ rief sie, „und sollte ich allein hinüber fahren. „Binde Deinen Kahn los, Bootsmann, ich muss meine Kinder wieder haben!“ Aber der Bootsmann rührte sich nicht. Er sah sie mit einem ungläubigen Lächeln an und sagte zuletzt: „In diesem Sturm, Madame?“ Sie stand noch immer mit dem Arme auf dem Bootsrande.

„Beruhige Dich, Mutter,“ sagte ihr Gemahl. „Unsere Kinder sind gewiss mit einem anderen Boote zurückgekommen und nach Haus gegangen. Wir werden sie daheim finden, verlass Dich darauf!“

„Nein!“ rief die Verzweifelnde, „nein! Wenn meine Kinder am Lande wären, so stünden sie hier, um mich zu erwarten. Meine Kinder gehen nicht ohne mich nach Haus, und ich — das gelobe ich beim allmächtigen Vater im Himmel — gehe nicht ohne meine Kinder nach Haus!“ Furchtbar war es, wie sie die Hand in die dunkle Sturmluft emporhob und zu dem Rauschen der Brandung und dem Rollen der Wellen den Schwur tat.

„Mutter! Mutter!“ sagte ihr Gemahl. „Du weißt nicht, was Du tust!“

„Ich weiß es!“ sagte sie. „Ehe ich meine Kinder nicht wieder habe, betrete ich die Schwelle meines Hauses nicht!“

Und nun brach der Sturm las. Es war zwölf Uhr Mittags, aber finster, wie nach Sonnenuntergang, war die Atmosphäre. Der Regen schoss eisig, wie Gebirgswasser nieder, und wie ferner Donner umbrüllte es den ganzen Strand. Trübgelbe Wogen wälzten sich durcheinander und wo sie wütend aneinanderprallten, da spritzte der Schaum häuserhoch und flog im Sturme dahin, so dass die ganze Luft mit Wasser erfüllt war. Kreischend kehrten die Möwen aus dem ungastlichen Element heim und suchten ihre Schlupfwinkel in den Felslöchern. Woge stieg aus Woge, und vom pfeifenden Sturme gepeitscht sprang die Brandung über ihre Grenzen, und der Vorfand des Unterlandes stand knietief unter Wasser. Mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft hatte der Hamburger Handelsherr seine Gemahlin von dem Boot, an welches sie sich geklammert hatte, entfernt; aber sie weigerte sich, unter das schützende Dach eines Hauses zu treten, nicht einmal ihre durch und durch von Salz- und Regenwasser getränkten Kleider wollte sie wechseln. Sie sprach kein Wort mehr, sie weinte, sie schluchzte nicht mehr; aber sie hielt ihren Schwur. — Sie stieg mit ihrem Manne die Treppe zum Oberland empor, und folgte ihm zum Falm. Hier, um ein Fernrohr, welches ein Lotse aufgestellt hatte, standen Hunderte von Menschen, Insulaner und Badegäste. Ganz Helgoland war in Aufregung. Man vermisste Klären und Angelika nicht allein; wie sich allmälig herausstellte, waren es in Allem dreizehn Personen, welche bei dem ungestümen Andrang nicht mehr mitgenommen werden konnten und auf der Düne zurückgelassen worden waren.

Die Lotsen wichen nicht von dem Fernrohr; aber sie konnten Nichts erblicken vor Regen, Nebel und Sturm. „Es ist nicht wegen der Dreizehn auf der Düne,“ sagten sie; „wollte Gott, dass jeder arme Matros, der jetzt zwischen Himmel und Wasser schwebt, so sicher wäre, als die; es ist einzig wegen der Schiffe, die in Sicht kommen könnten und Hilfe nötig hätten.“ —

Kein Schiff kam. Der Sturm raste und das Meer donnerte und wühlte in den Felshöhlen. Ernst und stumm, wie das Schicksal selber, eine Niobengestalt, stand die Mutter am Eisengitter, den Blick unverwandt nach der Himmelsgegend gerichtet, wo in Sturmesdunkel und Wogengetöse begraben die Düne von Helgoland lag. Zwanzig Schritt von ihr, an der Grundmauer des nächsten Hauses, lehnte der bekümmerte Adonis, seinem Gesichte nach zu urteilen eine Beute der nagendsten Gewissensbisse. Seine beiden Löcklein hingen schlaff und trostlos an der Wange nieder; sein wasserblaues Auge war auf den Grund gekehrt, und wenn er sie erhob, so sah er zuerst die Mutter und dann das Meer an, worauf er sie wieder senkte.

„Komm Arthur, mein Junge!“ sagte der Onkel endlich, der bis dahin mannhaft dem Wetter getrotzt hatte — „es hilft nichts, sich hier auf den Tod zu erkälten. Wir retten dadurch die Dreizehn auf der Düne nicht. Schade nur, dass die Kläre dabei ist; aber wir ändern's nicht und Gott muss das Beste in dieser Sache tun. Komm, mein Junge!“ —

Arthur ging mit dem Onkel; aber er war nicht zwanzig oder dreißig Minuten fort gewesen, so kam er wieder. Dießmal aber ohne den Onkel. Er stand eine Weile, wie er vorhin gestanden hatte, in Betrachtung des tobenden Elementes versunken. Da, wie aus einem tiefen Traum erwachend, trat er zu der Mutter, die noch immer unbeweglich in die Ferne schaute, und sagte mit einer schüchternen Anrede: „Madame haben Sie eine Botschaft an Ihre Töchter? Ich fahre hinüber nach der Düne!“ Die Mutter, aus ihren düstern Phantasien langsam zurückkehrend, hatte den Sinn seiner Worte noch nicht recht begriffen. Aber „wer“ rief Arthur, „wer begleitet mich hinüber zur Düne?“ Staunend und ungläubig hatten die Menschen sein Wort vernommen und eine dichte Schaar umgab ihn bald. Eine Antwort jedoch erhielt er nicht. „Wer,“ wiederholte er seine Frage mit einer Stimme, die den Sturm überdröhnte, „wer begleitet mich hinüber zur Düne?“ Da kam Hender Geicken von seiner Mauer herbei und sagte: „Mein lieber Herr, wir fahren auf Leben oder Tod — aber ich will Sie begleiten und mein Boot liegt bereit!“

„Was willst Du tun?“ riefen zwanzig Helgolander Schiffer, viel älter und erfahrener als er, einstimmig. „Du kommst nicht lebendig hinüber. Und wenn's noch ein Schiff in Nöten wär' — aber so für Nichts und wieder Nichts!“

„Ist das Nichts?“ rief Hender, indem er auf die Mutter deutete. Aber die Schiffer schüttelten ihre Köpfe, und sagten noch einmal, er käme nicht lebendig hinüber.

„Nun,“ erwiderte er, „dann ist's auch einerlei. Ich habe keine Mutter und keinen Vater mehr, und Weib und Kinder hab' ich gleichfalls nicht zu versorgen; und es soll mich nicht gereuen, wenn ich bei solch' einem Unternehmen verunglücke. Kommen Sie nur mit mir, mein Herr. Sie verstehen sich doch aufs Fahren?“

„Wie Einer!“ fagte Arthur. „Steuern und Segeln — mir ist's nichts Neues — verlass dich darauf, Hender, aber nun rasch an's Wasser!“

Die beiden Männer gingen. Aber nun erst erwachte die Mutter aus der Lethargie ihres Schmerzes; „Gott sei mit Euch!“ rief sie ihnen nach, und als auf die Bitte ihres Gemahls Arthur noch einmal zurückkam, nahm sie seine Hand, presste sie in der ihrigen und bedeckte sie mit heißen Küssen. „Wenn Ihr meine Kinder seht,“ schluchzte sie, „so sagt ihnen, ich stünde hier am Falm und mein Auge wäre nicht abgewandt vom Wasser, bis dass sie glücklich wiedergekehrt seien.“

„Und hier sind Mäntel und Decken für sie,“ sagte der Vater, welcher einen Diener nach Haus geschickt hatte, um solche zu holen; und zehn, zwölf andere Personen, die um das Schicksal der auf der Düne zurückgebliebenen Verwandten bekümmert waren, umdrängten den jungen Helden und gaben ihm gleichfalls Grüße, Bestellungen und Decken mit.

Auch der Berliner Stadtgerichtsrat war mittlerweile zum Vorschein gekommen und nahm sich den Hender Geicken beiseite. Denn er hatte in Erfahrung gebracht, dass die Bremer Kapitänsfrau unter den Verunglückten von der Düne sei. „Hender,“ redete er diesen an, „wenn Du die Kapitänsfrau siehst, so sag ihr, ich lasse sie grüßen und ich würde selber mitgekommen sein, wenn das Boot nicht durch drei Personen zu schwer geworden wäre...“

„O, mein Herr,“ unterbrach ihn Hender, „was das anbelangt...“ Aber „still“ fuhr ihn der Berliner Rechtsgelehrte an, „tu, was ich Dir sage; grüße sie von mir, und nimm ihr diesen Mantel und diese Flasche voll Rum mit,“ und dabei legte er dem Adonis von Helgoland seinen Mantel über den Arm und steckte in die Seitentasche die besagte Flasche. Arthur indessen hatte sich von Klärens Mutter verabschiedet. „Madame,“ dies waren seine letzten Worte, „ich werde ohne Ihre Kinder nicht wieder vor Ihnen erscheinen.“

Dann ging das Boot ab. Ein allgemeiner Schrei, halb der Furcht und halb der gespanntesten Erwartung, begleitete ihr Auslaufen. Der Falm war mit Menschen, Kopf an Kopf, bis zum Leuchtturm bedeckt; und auf dem Dach dieses letzteren stand der Gouverneur von Helgoland und eine Lotsenschar. Mehrere tausend Augen hingen unverwandt auf dem kleinen schwankenden Fahrzeug, welches sich nun dem Zorn der Elemente, und der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes, welcher darüber waltete, wie sie Alle glaubten, anvertraut hatte. Bald saß es oben auf einer breiten Welle, bald war es im Gischt verschwunden; dann kam es wieder zum Vorschein, der Quere nach, und nun ging es in eine Wolke, und war dem Auge verloren. Viele Augen waren ernst, und viele Hände hatten sich heimlich gefaltet; aber Keiner von Allen, die am Gitter standen, dachte daran, sich zu entfernen. Auf Einmal hieß es vom Fernrohr her: „Hier sind sie wieder!“ und Alles stürzte hin, um auch einen Blick zu tun. Man rief auch die Mutter herbei; aber sie sagte: „Lasst mich hier stehen; ich habe es dem Herrn befohlen. Sein Wille geschehe!“

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und wie einen grauen Wolkenstreifen auf dem blassen Himmel konnte man nun die Düne wieder erkennen. „Sie kämpfen wacker!“ rief der Mann am Rohre. „Ich sehe Gestalten am Strande und Taschentücher werden geschwenkt — jetzt ziehen sie die Flagge auf... hool up! ... ho-ho-hool up! — sie legen die Stangen aus ... hool up! ... Das Boot sitzt auf dem Sande ... sie sind in Sicherheit, Gott sei Preis und Lob!“

Ein ungeheurer Freudenschrei erfüllte tausendstimmig die wetternde Luft, und zu gleicher Zeit donnerte ein Kanonenschuss in die Brandung und das stürmende Element hinein. „Wenn sie glücklich wieder ans Land gekommen,“ sagte der Gouverneur, welcher vom Leuchtturm herabgestiegen war, „so soll zu ihrem Empfang die zweite und dritte Salve abgefeuert werden.“

Aber atemlos stürzte jetzt Arthurs Onkel herbei. Er hatte, wie aus seiner Rede hervorging, geschlafen, und der Kanonenschuss hatte ihn geweckt. „Wo ist Arthur, wo ist mein Junge?“ rief er, indem er sich vergeblich im Gedränge nach ihm umsah. „Kommen Sie an das Fernrohr,“ antwortete ihm ein Lotse — „drüben auf der Düne können Sie ihn sehen. Eben steigt er aus dem Boot!“

Da hätte man den alten Herrn sehen sollen! Seine Knie schlotterten, seine Lippen zitterten. Er war sehr nahe daran, ohnmächtig zu werden. Da kam der Hamburger Handelsherr zu ihm und ergriff seine beiden Hände. „Sie haben einen heldenmütigen Neffen, mein Herr,“ sagte er, „Ihr Arthur ist unter Gottes Schutz glücklich hinübergekommen, und wird uns, wenn ihm der Himmel ferner beisteht, unsere Töchter glücklich zurückbringen!“

Aber der betrübte Onkel wollte keinen Zuspruch annehmen. „Er hat mich verführt zu schlafen,“ wimmerte er, „und hat mich dann heimlich verlassen. Und wenn Ihre älteste Tochter nicht drüben wäre, so würde dieses Unglück nicht über mich gekommen sein. Ich armer, alter Mann! Ich wollte, dass mein Neffe Ihre Tochter mit keinem Auge gesehen hätte ... ich wollte... ich wollte...“ und dabei schlug er sich fortwährend mit der Hand gegen die Stirn.

Nun war es Nachmittag geworden. Der Regen hatte sich ganz verzogen, der Himmel schien wieder höher, da das flachziehende Gewölk ihn nicht länger beengte. Man hatte wieder den offenen Blick über die See. Aber wie tobte diese See! Jetzt erst, da man sie in ihrer unermesslichen Weite überschaute, bekam man zugleich einen Begriff von der feindseligen Gewalt des aufgewiegelten Elementes und von der Gefahr, in welcher das Schifflein geschwebt haben musste, da es die Fahrt nach der Düne machte. Diese selber lag, von riesigen Schaumgürteln und breiten Brandungswirbeln umschlossen, wie eine unnahbare Festung mitten im grüngelben Gewässer; man sah durch das Fernrohr von Zeit zu Zeit Gestalten am flachen Rande, oder auf einem von den Außenhügeln. Man unterschied eine feine, blaue Rauchsäule, welche aus der Gegend, wo der Pavillon liegen musste, in die Luft wirbelte, und von dem nächsten Windstoß gebrochen und wild auseinandergejagt wurde. Man war erfreut, sich die Verschlagenen um einen warmen Herd versammelt zu denken, wo kein Mangel an Trinkwasser und Lebensmitteln aller Art war; und die Mutter von Kläre und Angelika sagte, sie sei ganz beruhigt und sehe dem Ende mit festem Vertrauen entgegen, seit Arthur mit ihren Grüßen zu den Kindern hinübergegangen. Unverwandten Auges, wie zuvor, sah sie nach der Düne, den Gestalten am Ufer, dem Hüttenrauch; zuweilen in den Himmel, der mit seinem gelben Abendschimmer das immer noch brausende Meer und den kleinen Sandfleck darin beleuchtete. Es war ein recht wehmütiges Bild, diesen bleichen Sand zu sehen, wie er nur wenig erhoben über dem ringsum aufgewühlten Meere, in dem kalten, gelben Zwielicht dalag; und dabei zu denken, dass nun die Nacht mit ihrem unheimlichen Dunkel kommen und die Schauer des Gewässers erhöhen werde. Man war darauf gefasst, dass die Gesellschaft es nicht wagen werde, sich vor dem andern Morgen einzuschiffen; zumal es dann ein Leichtes war, ihnen vom Lande aus mit neuen Booten zu Hilfe zu kommen. Aber die Nacht musste noch erduldet werden, und schon nahte sie.

Der metallene Schein des Himmels war grau und tonlos geworden; lange noch sah man in der Unsicherheit der trüben, feuchten Ferne die dunklen Umrisse der Düne, dann schwanden auch diese dahin, und nur das Tosen des Meeres, wie es nun murrend verlief, nun wieder an tausend Stellen zugleich aufbrausend sich hob, erfüllte die weite Finsternis. Da auf Einmal schlug aus der Tiefe des Meeres und der Dunkelheit eine hohe, leuchtende Flamme in die Luft — mit freudigem Zuruf begrüßte man sie von der Insel. Denn sie brannte auf einem Sandhügel der Düne und aufs Neue erkannte man dunkle Gestalten, die sich in ihrem Scheine bewegten. Nicht lange, so waren auch an einer geschützten Stelle des Falm Teertonnen aufgehäuft und in Brand gesteckt, und wie zwei Freunde, die sich sehen, aber nicht erreichen können, begrüßten sich die beiden Flammen durch die Nacht, welche sie trennte.

Stiller aber ward es nach und nach am Falm. Denn die Erregtheit des Tages, die angestrengte Aufmerksamkeit, und die Teilnahme, die das Menschenherz wider seinen Willen oft, Gott sei Dank! empfindet, wo das Unglück ihm seine dämonische Seite zeigt: dies Alles hatte die stundenlang versammelte Menge zuletzt erschöpft und sie verlief. Einsam am sinkenden Feuer stand nur noch die Mutter, welche gelobt hatte, dass sie ihr Haus nicht ohne ihre Kinder betreten wollte. Eine hohe, einsame Erscheinung in dem matter werdenden Rot des Brandes stand sie am Eisengitter des Felsvorsprungs, über dem Wasser, welches sich unablässig in den Höhlen brach — mit dumpfem Rauschen ein- und auslaufend. Das Geheimnis der Nacht umgab sie; der finstere Zauber des entfesselten Elementes hatte aus der liebenden Mutter eine ehrfurchtgebietende Heldin, eine Priesterin gemacht, die an der Flamme steht. Schlaf kam nicht in ihr Auge, ihr Körper trotzte den ungewohnten Schauern; und über das tobende Meer hinüber sprach ihr Herz mit den beiden Kindern auf der Düne.

Gegen Mitternacht verließ auch ich den Falm und legte mich in der Koje meines kleinen Zimmers zur Ruhe. Meine Seele war unruhig, es lässt sich denken, und voll hastig wechselnder Bilder und Vorstellungen; aber die Müdigkeit besiegte die Aufregung meines Innern und ich schlief und träumte schwere Träume bis ein furchtbarer Donnerschlag mich weckte. Bestürzt fuhr ich aus meiner dunklen Koje, und neuen Unheils gewärtig an's Fenster. Aber ein blauer kühler Morgenhimmel, von dem das letzte Grauen der Nacht noch nicht völlig gewichen, mit einem verlöschenden Sternlein hier und dorten, schien herein. Rasch war ich in den Kleidern. „Sie sind in Sicht“ rief mir die kleine Marie, meines Wirtes Tochter, entgegen, als ich aus meinem Zimmer trat. „Der Kanonenschuss zeigte ihre Abfahrt an!“ Ich eilte ins Freie. Ueber mir wölbte sich das reine Blau des beruhigten Himmels wie die Kuppel eines Domes; und das gedämpftere Dröhnen der Wellen, das heimkehrende Brausen des Windes empfing mich wie Orgelton und Gesang der Gemeinde von Unten.

Als ich zum Falm kam, da war die Menge versammelt wie gestern. Wie eine Siegerin, aber mit feuchten Augen, stand die Mutter neben dem Fernrohr, das wieder aufs Meer gerichtet war, und viele Flaggen von buntem Zeug waren aufgezogen und flatterten lustig an den Stängen des Oberlandes und über den Dächern des Unterlandes. Nicht weit von der Düne, aber schon in hohem Wasser, erblickte man das Boot. Es hatte ein Segel aufgesetzt, und lavierte langsam gegen den Wind. Aber die Flut war nah, und bald, unter Gottes Schutz, mussten sie eingelaufen und gerettet sein.

Indessen begann der östliche Himmel sich zu färben. Die Natur, zu ihrem festlichen Empfange, bereitete ihr schönes Morgenschauspiel vor. Gelb — aber nicht so unheimlich getrübt, als gestern, wo er Abschied nahm — hauchte der kommende Tag den Ostrand an, und das Wasser, welches darunter wogte, trug den leisen Abglanz weiter. Das Grün des Oberlandes, gestern so bleich und so traurig, fing an mit Einemmal seltsam zu schimmern; und die weiße Düne, vom rötlichen Silber der Brandung umzingelt, bekam eigentümliche Farbentöne. Das Wasser auch schillerte bunt, so weit man es sehen konnte. Blaugrün, wo es mit dem Horizonte zusammenstieß; grüner immer grüner, von Violett überflogen, wo es in breiten Wogen dem Lande näher rollte. Die Möwen verließen ihre unterirdischen Nester, und schwebten, ihre silbernen Schwingen vom Lichte des Morgens beschienen, in der blauen Luft; während das Segel weiß und einsam gegen das wechselnde Grün der Wellen geneigt, ganz plötzlich in einen Rosenschimmer getaucht schien. Näher und näher kam es, wie der Horizont im Osten feine lieblichen Farben spielen ließ — aus dem sanften Rosenschein nun in tiefen Purpur hinüberglühend. Schon erkannte man die Gestalten, und durch das Fernrohr die Gesichter.

„Sie sind es! Alle, Alle! Nicht Einer fehlt!“ war der Ausruf, der vielfach wiederholt, hin- und herging in der Menge. Nun waren sie nur wenige Fadenlängen noch entfernt, und man begab sich an den Strand des Unterlandes hinunter, um ihnen zuzurufen. Aufrecht am Steuer sah man Hender Geicken stehen, seine Rosenwangen vom Rosenlicht des Himmels überflossen; seine gelben Locken, ach! und traurige Locken waren es im Sturm und Regen geworden, flogen um seine Schläfen. Traurig genug sah er selber aus; und kein Mensch konnte sich's erklären. Ich aber denke ihn verstanden zu haben den armen Jungen, zu dessen Füßen, auf der Bank, Kläre und Arthur saßen, mit selig hellen Augen einander anlächelnd, und nun, wo sie die Mutter am Strande erkannten, mit weißen Tüchern sie lustig begrüßend. Ein tausendstimmiger Freudenschrei scholl jetzt vom Ufer her; der dritte Kanonenschlag donnerte über das lichtzitternde Meer dahin, und umlodert von der Goldpracht der eben über den Meeresrand emporsteigenden Sonnenkugel, welche in einem Augenblick die roten Küstenwände, den Sand und die See in eine einzige unabsehbare Masse von Glut und Herrlichkeit verwandelte, betraten die von der Düne Heimgekehrten den Boden von Helgoland.

Die Gruppen teilten und zerstreuten sich. Den breiten Weg ins Oberland wandelte eine stattliche Frauengestalt, die ein schlankes Mädchen mit lang herabwallendem braunen Haar an der Linken führte, und auf ihrem rechten Arme ein Kind trug, welches seinen blonden Lockenkopf dicht an ihren Busen geschmiegt hatte. Die Glorie der Morgensonne umleuchtete sie, indem sie dahingingen, und ihre langen Schatten fielen über das mit tausend funkelnden Tropfen besprengte Grün zu ihrer Rechten. Dann stiegen sie einige Stufen hinan und verschwanden unter einer Türe — die Mutter war ihrem Gelübde treu geblieben, und jetzt mit ihren Kindern kehrte sie nach dem fürchterlichsten Tage und der fürchterlichsten Nacht ihres Lebens in ihr Haus zurück. Drei Männer, Arm in Arm, folgten ihr; es war Arthur, dessen Onkel und der Hamburger Handelsherr, dem er seine Kinder wiedergebracht hatte.

Kurz darauf erschien auf der Steintreppe vom Unterlande ein ältlicher Herr, der mit großer Beschwerde wie es schien, und im Schweiße seines Angesichts, trotz der kühlen Morgenfrische, einen unförmlichen Klumpen, der in einem Mantel gewickelt war, die Stufen hinaufschleppte. Wie sich demnächst ergab, war es der Berliner Stadtgerichtsrat und die Bremer Kapitänsfrau. Sie war, als sie, nach überstandenen Todesnöten, den galanten Rechtsgelehrten wieder sah, vor Freude ohnmächtig geworden; und dieser hatte die Gelegenheit benutzt, die süße Bürde im Stadtgerichtsmantel zum ersten Mal an sein edles Herz zu drücken und liebend in ihre wittfräuliche Wohnung zurückzuführen.

Das Letzte, was ich an jenem Morgen sah, nachdem der Strand wieder still und menschenleer geworden, war Hender Geicken, welcher sein Boot angebunden hatte und nachdenklich dabei stehen geblieben war. Er war dem Meere zugekehrt und sah nach der Düne hinüber, die blendend weiß, mit ihrem von der Sonne vergoldeten Sande in der dunkelgrünen Meerflut lag. Er sah auf die Wellen, welche sich zwischen ihr und der Insel funkelnd bewegten, und dann, indem sein Blick zu seinem Kahne zurückkehrte, stieß er mit dem Fuße gegen den Kiel desselben und schüttelte den Kopf. Offenbar war er während der Nacht zu der Überzeugung gekommen, dass es für seine Liebe zu Kläre besser und vorteilhafter gewesen wäre, wenn er die Fahrt allein gemacht hätte und dass es wohl sein Schicksal gewesen sei, die Mühe des Wagestücks, nicht aber den Preis desselben mit Arthur zu teilen. Hierauf zog er sein Pfeifchen aus der Tasche, rauchte es an und blies im anscheinenden Ärger seines Herzens gewaltige Rauchwolken um sich her. Und so rauchend und kopfschüttelnd verschwand er endlich in einer Seitengasse des Unterlandes.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Verschollene Inseln