Die Türme von Hamburg

Sieben Jahre sind vergangen. Es ist ein kühler, frischer Junimorgen, und wir befinden uns in einem Coupe des Couriers zwischen Berlin und Hamburg. Neben mir, in ein Zeitungsblatt vertieft, sitzt ein alter Herr, den ich für einen Engländer halte nach dem Schnitt seines Gesichtes, nach der Form seines Hutes und hauptsächlich wegen seiner Vatermörder. Gegenüber schläft eine Dame, welche zwei Sitze einnimmt, und nach der Korpulenz, mit welcher sie dieselben ausfüllt, zu urteilen, ein so gemütliches Frauenzimmer sein muss, wie eines unter der Sonne. Sie schlief schon, als ich auf dem Berliner Bahnhof in den Wagen stieg; und es scheint nicht, als ob sie diese für alle Beteiligten höchst interessante Beschäftigung sobald unterbrechen würde. Den andern Eckplatz nimmt ein feingeformtes hübsches Mädchen in der ersten und süßesten Frische der Jugend ein. Eine Fülle dunkelblonden Haares umgibt die zarten Umrisse der weißen Stirn und das braune Auge, indem es sich in die Duftfülle der sonnigen Landschaft verliert, hat etwas lieblich Träumerisches.

Solch' einem träumenden Mädchenauge in der golden Frühe eines Sommermorgens zu begegnen, wenn das schöne Lächeln der Natur uns umgibt, und das Säuseln des Windes unsre Seele löst und beflügelt: o, wie reizend ist das! Und doch war es dies nicht allein, was mich an den Blick des Mädchens fesselte. Unser Herz ist eine Memnonssäule; oft, wenn solch ein flüchtiger Schimmer es streift, beginnt es sein Lied aus alter Zeit zu singen. Wir haben Momente, wo eine Erinnerung, als läge sie tausend Jahre zurück, uns überkommt. Wir suchen ihre Spur, ohne sie zu finden; wir bilden uns ein, vor diesem Leben schon eine andere Wanderung gemacht zu haben, und nun zuweilen Klänge zu vernehmen, die aus der Ewigkeit herüberklingen.


Es fand sich Gelegenheit, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Das Mädchen erzählte mir, dass sie mit „Papa und Mama“ den Winter in Venedig gelebt habe, und dass sie nun auf der Heimreise nach Hamburg seien. Ach! sie freue sich so auf dies liebe, liebe Hamburg und es wiederzusehen nach fünf Monaten der Trennung, sagte das Mädchen. Dann kam die Rede auf Italien und den Krieg, wobei sich der Papa mit ins Gespräch mischte. Meine Vermutung, dass er ein Engländer sei, ward durch die Art, wie er deutsch sprach, bestätigt; und ich vernahm, dass er allerdings in der Nachbarschaft von London geboren sei, aber lange schon als Chef eines großen Handelshauses in Hamburg lebe. Dann kam die Rede auf England, auf das Wasser — auf den Seestrand, auf die See, mit den großen Schiffen die darauf fahren, und den Stürmen, die sie zuweilen aufwühlen und bewegen. Auch hier hatte die Dunkelblonde schon mehr Erfahrungen gemacht, als man bei so zarter Jugend voraussetzen durfte, so dass ich staunend ausrief: „Wie ist's denn möglich, dass Sie das Alles so genau wissen?“ Worauf sie lächelte und das träumerische Auge mit der Hand bedeckte, als wolle sie den Blick desselben auf andere Bilder lenken.

Es folgte eine lange Pause. Endlich richtete sich der Vater auf, und sagte: „die Türme von Hamburg!“ Rasch auffahrend und das dunkelblonde Haar zurückwerfend sah das Mädchen aus dem Fenster — und „die Türme von Hamburg!“ jubelte sie, „Mama! die Türme von Hamburg!“

Mama war nicht ganz so leicht zu ermuntern, als vorhin das Töchterchen. Aber die Türme von Hamburg ließen ihr keine Ruhe; „Mama!“ rief die Dunkelblonde. „Du willst doch wol nicht schlafen, wenn wir nach Hamburg kommen?“

Da aber erhob sich Mama, höchlichst entrüstet. „Slafen?“ rief sie; „ich hätte geslafen? Meinst Du denn, Du kleiner Naseweis, man sliefe, wenn man die Augen geslossen hat?“

Nun war ich von der Pein des ungelösten. Rätsels befreit! Nun gab die Memnonssäule, dieses Herz, welches aus sieben Jahren eine Ewigkeit gemacht hatte, den rechten Ton an.

„Sind wir denn nicht zusammen in Helgoland gewesen?“ brachte ich endlich heraus, indem ich alle Drei, Einen nach dem Andern ansah.

Die Mutter, welche nicht geschlafen haben wollte, aber immer noch aussah, als ob sie träume, wusste freilich aus meiner Frage Nichts zu machen. Ihre Tochter aber, indem sie mich schärfer ins Auge fasste, sagte: ja, und jetzt sei auch ihr, als ob sie mich schon irgendwo einmal gesehen, und es könne wohl auf Helgoland der Fall gewesen sein.

„Und da war eines Tages ein heftiger Sturm, und da mutzten dreizehn Personen, zwei junge Mädchen aus Hamburg darunter, auf der Düne bleiben, und ...“

Jetzt war Alles, was wie Schlaf und Traum aussah, von dem Antlitz der ältern Dame gewichen; und ihr Auge bekam für einen Moment einen überirdischen Glanz, und ihren Arm um die dunkelblonde, errötende Tochter schlingend, rief sie mit einer Träne, welche jenen Schimmer und Glanz auslöschte: „Ja, das sind wir gewesen!“

„Und Arthur?“ fragte ich.

„Arthur? Dort mein Herr, steht er,“ sagte das Mädchen, indem sie auf den Perron des Hamburger Bahnhofes deutete, in welchen wir jetzt einliefen, „und die Dame mit den beiden Kindern, die an seinem Arme steht, ist Kläre....“

„Und die hellblonde Angelika?“ fragte ich im letzten Moment, ehe die Wagenreihe hielt.

„Ist eine dunkelblonde Angelika geworden in den sieben Jahren,“ sagte sie mit schelmischem Lächeln, indem sie den Wagen verließ, „und sie hat die Ehre, Ihnen eine glückliche Reise zu wünschen, mein Herr, und ...“

Dabei reichte sie mir die Hand zum Abschied und sprang, ohne den Satz zu vollenden, in die Arme ihrer Schwester.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Verschollene Inseln