Rialto und Venetia

Das war ein Kampf ums Dasein gewesen: nicht ein byzantinischer Schutzstaat ging aus demselben hervor, sondern ein Staat, der seine Existenzberechtigung gegenüber dem abendländischen Kaisertum behauptet hatte und nun eine Weltstellung anstreben durfte. Der Sitz des Dogen wurde nach Rialto (Rivo alto) verlegt, bald erscheint dieser Ort mit dem Namen des Bundes, der dort seine Kraft vereinigte, mit dem Namen ,,Venetia“, Stadt der Veneter. Er war schon im neunten Jahrhundert weit über die adriatischen Küsten hinaus bekannt und angesehen, die Venezianer unterhielten bereits einen sehr lebhaften Verkehr mit den griechischen Seeplätzen, in denen sie Faktoreien errichteten, sie verhandelten kostbare Stoffe ins Frankenland und brachten von dort friesische Webereien nach Italien. Neben den Amalsitanern waren sie die ersten, durch welche Seidengewebe ins Abendland gebracht wurden, deren Erzeugung seit dem siebenten Jahrhundert vorzugsweise von den Arabern betrieben wurde. Auch dem Sklavenhandel der Sarazenen sind sie nicht fremd geblieben. Auf diesem mannigfachen Verkehre lässt sich auch auf die Zahl ihrer Seefahrzeuge schließen, sie verfügten über eine Flotte, mit der sich in der Adria keine andere Macht, auch die byzantinische nicht, messen konnte.

So hatten also mehrere leicht erkennbare Umstände zur Entstehung eines Staatswesens zusammengewirkt, das weder auf einer geschlossenen Volksmasse noch auf feudalen Beziehungen beruhte. Eine intelligente, an gewerbliche Tätigkeit und Handelsgeschäfte gewöhnte Bevölkerung einiger Inseln, die ihr als Zufluchtsstätten dienten, war genötigt gewesen, durch Arbeit und Unternehmung sich eine neue Grundlage ihrer Existenz zu schaffen; sie hatte die vorteilhafte Lage ihrer neuen Wohnsitze und des Seeverkehrs ausgenützt und Kapital erworben, durch welches sie ihre Machtmittel zu vermehren und ihre Unabhängigkeit zu behaupten imstande war. An den Berührungspunkten und Reibungsflächen zweier Welten ergab sich einerseits die Gelegenheit, den Austausch jener Güter zu besorgen, die in denselben erzeugt wurden, und anderseits die Anregung zu einer Staatspolitik, die auf einer geschickten Ausnutzung der Rivalität der Nachbarn beruhte, deren jeder für sich allein und ohne die Hemmung durch den Gegner stark genug gewesen wäre, seine Herrschaft über das kleine Gebiet, das an seiner Grenze lag, auszudehnen. Die Handhabung der durch diese Verhältnisse gebotenen politischen Grundsätze während mehrerer Jahrhunderte blieb auch für die Zukunft bestimmend, die venezianischen Staatsmänner haben es in derselben zu einer bewunderungswürdigen Virtuosität gebracht, sie konnten sich davon aber auch dann nicht befreien, als durch eine einseitigere Parteinahme höhere Ziele zu erreichen gewesen wären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Venedig als Weltmacht und Weltstadt