B2. Liebe als Trieb zur Vervollkommnung.

Die Kritik der vorigen Thesis zeigte uns, daß es viele Arten der Liebe gibt, die wir aus dem Gesetze der Selbsterhaltung nicht erklären können. Fassen wir nun die Gegenstände dieser anderen Belehrungen zusammen, so kommen wir zu der von Dante nach dem Vorgange des Aristoteles aufgestellten Einteilung, wonach einiges geliebt wird zur Selbsterhaltung, anderes um der Vollkommenheit willen. Und als Unterscheidungszeichen wird angegeben, daß jenes von dem Individuum nur ausschließlich besessen und angeeignet werden kann, wie z. B. Speise und Trank und ihre, indem Mittheilung an Andere nothwendig den eigenen Gewinn verkürzen muß, während die zweite Art von Gegenständen ideal ist und ohne Schaden für das Individuum zugleich vielen und allen zukommen kann, z. B. Gerechtigkeit und Kunstfertigkeit und Bildung. Wenn es nun unbestreitbar eine Liebe zur Gerechtigkeit, Liebe zu den Künsten, Liebe zu den Wissenschaften gibt, und in dielen Gegenständen das Ideale und die Vollkommenheit des Menschen liegt, so muß man sagen, daß außer dem Prinzip der Selbsterhaltung auch ein Prinzip der idealen Vervollkommnung in der Natur angenommen werden muß, welches die Ursache oder der Grund dieser zweiten Art der Liebe ist.

Allein überlegen wer diese Erklärung genauer! Ist uns hierdurch eigentlich schon eine genügende Erklärung dieser Liebe gegeben? In der That sind doch nur die verschiedenen Formen dieser Liebe, z. B. die Liebe zum Schönen in der Plastik, Musik, Architektur, Poesie, die Liebe zum Guten in der Gerechtigkeit, Tapferkeit, Seelengröße, Freigebigkeit u. s. w., und die Liebe zum Wahren in allen einzelnen Wissenschaften, durch die Formulirung der Thesis zu einem allgemeinen Ausdruck zusammengefaßt, indem alles dies als das Vollkommene durch einen einzigen Namen statt der vielen Namen wiedergegeben wird. Warum wir aber das Vollkommene lieben, das ist dadurch nicht erklärt. Offenbar gehörte dazu ein Eingehen auf die Metaphysik. Davon wollen wir nun später genauer handeln. Ich will hier nur kurz noch daran erinnern, daß zwei solche Gesetze wie das der Selbsterhaltung und der Vervollkommnung auch nicht gut nebeneinander stehen können, ohne in Zusammenhang gebracht zu werden; denn sie machen sich sonst nothwendig wechselseitig ungültig. Es streitet ja offenkundig das Gesetz der Selbsterhältung, welches sich durch die Liebe zum Schlaf und zur Erholung und zum Essen geltend macht, mit dem Gesetz der Vervollkommnung, indem alle Arbeiten der Wissenschaft, alle Ausübung der Musik n. s. w. durch den Hunger und die Müdigkeit unterbrochen und gehindert werden. Also scheinen die Gesetze selbst in Streit zu liegen oder sie müßten auf ein noch höheres Gesetz zurückgeführt werden, welches einem jeden von ihnen bestimmte Bahnen zuweist.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.