B3. Die Liebe als gebende und erlösende.

Es könnte scheinen, als wäre in den beiden angeführten Arten der Liebe das ganze Wesen dieser Erscheinung erschöpft; allein sofort zeigen sich dem aufmerksamen Blicke wieder eine Menge von Handlungen der Liebe, die wir weder aus der Selbsterhaltungstendenz, noch aus dem Streben nach Vervollkommnung erklären können. Man nehme z. B. die Liebe, mit welcher die Henne für ihre Küchlein gegen den Habicht kämpft, oder die Liebe in dem Lied vom braven Mann, der sein Leben in Gefahr setzt, um andere zu retten. Ferner alles Mitleid und alle patriotischen Handlungen, die aus Liebe erklärt werden zum Vaterland oder zur Menschheit, ferner die Liebe des Missionärs, der zu den Wilden zieht und sich allen Gefahren und Trostlosigkeiten einer barbarischen Existenz preisgibt. Ferner die Liebe des Lehrers und Erziehers. Überall hier wäre es lächerlich, vom Selbsterhaltungstriebe und Egoismus zu sprechen, da man ja sich, seine Gesundheit, Zeit und Vermögen dabei einsetzt, also das Gegenteil von dem thut, was der Gedanke an Selbsterhaltung raten würde. Sorge für dich selbst, flüstert der Selbsterhaltungstrieb dem Samariter zu; vergiß dich und rette ihn, sagt die Liebe. Es gibt also bei dieser wunderbaren Erscheinung der Liebe offenbar noch Arten, die aus den bisher erkannten Gesichtspunkten nicht verständlich sind. Denn auch um seiner eigenen Vervollkommnung willen geht der Missionar nicht zu den Kaffern, und der Lehrer nicht zu den Kindern und der brave Mann nicht in das Wasser.

Man hat nun zur Erklärung ein Bild aus der Physik beigebracht, indem man sich vorstellt, daß wir bei der Selbsterhaltung anfangen, uns zu füllen wie mit Speis' und Trank, bei der Vervollkommnung aber in unser Wesen mit immer vollerem Strome wie in ein Gefäß ideale Güter ergießen, bis wir überströmen und von unserem Reichthum mittheilen. Die eben beschriebenen Formen der Liebe gehörten der überströmenden Art an und finden sich bei solchen Menschen, welche wegen innerer Fülle das Bedürfnis haben, sich auszuschließen und nach allen Seiten hin Segen und Glück und Gutes und Schönes und Wahres zu verbreiten. Man nennt diesen Vorgang Emanation, d. h. das Ausfließen, und einige glauben auch die Entstehung der Welt aus der Liebe Gottes nur so verstehen zu können, daß der Reichthum Gottes an Vollkommenheit bis zum Überfließen groß war und daher aus sich die Welt und alle Güter entließ und immerfort entläßt. Und auch die erlösende Liebe bei Gott und Menschen wird so gedeutet.


Diese Erklärung ist aber recht schlecht; denn wenn wir wegen zu großer Fülle ein Bedürfnis nach Mittheilung des Guten haben, so wären ja die Empfänger unsere Wohlthäter, indem sie uns von einem inneren Druck erleichterten, und wir hätten ihnen zu danken, statt sie uns. Der brave Mann im Liede müßte beschämt davon ziehen, weil er sich eine Herzenserleichterung verschafft hätte, ohne die von ihm Geretteten noch besonders für die ihm erwiesene Wohlthat belohnt zu haben. Die Schüler müßten von ihren Lehrern Dank erwarten und die Christen von dem Erlöser. Ich will nicht läugnen, daß wirklich etwas an der Sache ist; denn alle die Handlungen der gebenden, erlösenden und überfließenden Liebe sind derart, daß sie keines Zankes bedürfen, ja so, daß diese Wohlthäter der Menschheit mit einer gewissen Beschämung großen Lobeserhebungen gegenüber dastehen und sich gern davon machen, wenn man sie rühmen will, weil sie sich keines Opfers bewußt sind, sondern nur ihrer großen und göttlichen Natur gemäß gehandelt haben und gar nicht anders hätten handeln können. Wer noch anderen Lohn erwartet und nicht damit zufrieden ist, daß seine Wohlthat empfangen wird, den nennen wir nicht einen Liebenden, sondern einen Interessirten. So z. B. ist der Unterschied sehr groß zwischen dem Helden im Lied vom braven Mann und dem Taucher von Schiller, denn der Taucher handelte nicht in erlösender Liebe, sondern um mit der Königsmaid ein großes Gut zu erreichen. So gehört auch, wer sich nicht aus Liebe zum Vaterland, sondern um der Ehre willen in die Feinde stürzt, nicht zu der Gattung der Liebenden, die wir hier im Auge haben.

Darum ist es sehr merkwürdig, was auch Aristoteles schon erkannt und zu erklären versucht hat, daß die Wohlthäter mehr lieben als geliebt werden, ebenso die Eltern im Verhältniß zu den Kindern. Aristoteles erklärt dies so, daß die Gebenden etwas Schönes thun und an der That selbst Freude haben, sowohl während der Handlung als auch in der Erinnerung, weshalb sie sich gern an ihre Wohlthat erinnern, die Empfänger aber durch das Empfangen nichts Großes thun und noch dazu eine Dankverpflichtung übernehmen, an die sie sich nicht gern erinnern. Darum sei der Dank seltener als die Wohlthaten. Dies ist richtig; allein vielleicht kommt dazu, daß die Empfangenden den Wohlthäter als einen solchen erkennen, der gewissermaßen so handeln muß, wie er handelt, weil es sich so für ihn geziemt; es scheint ihnen so natürlich zu sein, und die Kinder und Schüler stellen es sich gar nicht vor, daß die Eltern oder Lehrer anders gegen sie handeln könnten. Außerdem sind die echten Wohlthaten der Art, daß sie keinen Lohn und Dank erwarten. Endlich sind die Naturen der Empfangenden auch so verschieden wie das Erdreich und es ist in der Ordnung, daß felsiges Land keine Früchte trägt. Die gut gearteten Empfänger werden aber immer teils den Werth der Wohlthat erkennen und dies durch die entsprechende Gegenliebe und Ehre an den Tag legen, teils jede Gelegenheit ergreifen, wo sie selbst in schöner That das Gute vergelten können; die schlechteren dagegen werden es wie der Edelmann bei Krylow machen und den Bauer, der ihn aus den todbringenden Krallen eines Bären errettete, dafür schelten, daß er bei seiner Hilfsleistung so ungeschickt den schönen Pelz des Tieres mit dem Beil beschädigt habe. Es liegt daher die Undankbarkeit nicht so sehr in der Natur des Wohlthuns selbst, wie Aristoteles meint, als vielmehr in der Natur der Empfangenden, die sehr verschieden sind, und da das Schlechtere nothwendig häufiger ist als das Bessere, so wird auch die Dankbarkeit, die an sich schon etwas Schönes und Gerechtes ist, nothwendig seltener sein als die Undankbarkeit.

Kehren wir zu der Frage zurück, wie die überfließende oder erlösende Liebe zu erklären sei. Aus einem Bedürfnis in dem gewöhnlichen Sinne sicherlich nicht; denn in der Vollkommenheit gibt es kein Bedürfnis. Wir wollen später diese Frage systematisch durch einen größeren Blick in den Zusammenhang der Dinge zu lösen suchen; hier will ich vorläufig bemerken, daß wir entweder den Begriff der Vollkommenheit nicht zugeben dürfen oder den Begriff des Bedürfnisses verändern müssen; denn ohne Vollkommenheit findet kein Überfluss statt, und ohne Bedürftigkeit gibt es kein Bedürfnis.

Wir könnten nun zum Selbsterhaltungstriebe zurückgreifen und daran erinnern, daß wir auch dort schon an die Erhaltung der Gattung dachten. Demgemäß könnten wir die wohlthätige und erlösende Liebe auf das Prinlip der Erhaltung der Gattung zurückführen. Ebenso könnten wir auch den Trieb zur eigenen Vervollkommnung ergänzen durch die Erweiterung, daß er sich auch auf die Vervollkommnung der Gattung bezöge; denn die Eltern Sorgen nicht bloß für die Erhaltung, sondern auch für vollkommnere Bildung der Kinder und werden dazu durch eine natürliche Liebe getrieben. Ebenso sind alle Wohlthäter der Menschheit bemüht, die Menschen von ihrer Armuth, ihrer Krankheit, Noth und Sünde und Unwissenheit zu befreien und sie nicht blos im Dasein zu erhalten, sondern auch ihr Leben zu verschönern und zu veredeln, indem sie Tugend, Kunst und Bildung verbreiten, also der Vervollkommnung der Gattung dienen. Allein diese Erklärung würde nur scheinbar genügen; denn die Gattung betrifft ja eben Andere und nicht uns selbst. Nur dann könnten wir also die erlösende und wohlthätige Liebe auf die Selbstliebe zurückführen, wenn dieses Thun unser eigenes Interesse wäre; in diesem Falle aber verlöre solche Liebe gerade ihren von der Selbstliebe so sehr verschiedenen Charakter der Aufopferung. Und wenn man auf die Natur hinweist, die auch die Tiere zu solchem Wohlthun antreibe, so ist dies keine Lösung, sondern nur eine Vermehrung der Schwierigkeiten; denn wir müssen dann auch den Grund noch finden, wie die Natur nicht nur den Trieb der Selbsterhaltung, sondern auch den der Fürsorge ihren Geschöpfen einpflanzen konnte. Kurz, die wohlthätige Liebe bleibt als eine besondere Art neben dem Selbsterhaltungstriebe und neben der auf Selbstvervollkommnung gerichteten Liebe vorläufig anzuerkennen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.