B1. Liebe als Bedürfniß. Selbsterhaltungsgesetz.

Wer bie Tatsachen der Liebe beobachtete, konnte kaum verfehlen, zu sehen, daß die Liebenden einander bedürfen, und so ist man schon sehr früh darauf gekommen, den nächsten Gattungsbegriff der Liebe als Bedürfnis zu bestimmen. Man sagte daher, die Liebe sei das Bedürfnis, etwas zu empfangen, um dadurch einem Mangel des eigenen Wesens abzuhelfen. Das den Mangel ergänzende, das Bedürfnis stillende Prinzip nannte man den Gegenstand der Liebe und die Thätigkeit oder den Zustand, in welchen wir durch das Bedürfnis versetzt werden, das Begehren oder Wollen oder Lieben.

Diese Erklärung blickt auf den Hunger ober Durst und dergleichen Erscheinungen hin, bei welchen eine Leere oder ein Mangel bemerkbar ist, dem ein Begehren entspricht. Die Speise oder der Trank wird darum gesucht, begehrt und geliebt. So ist auch der Arme der Bedürftige und liebt die Gaben; der Eitle fühlt seinen Mangel an Selbständigkeit, er bedarf und liebt Lob; der Ehrsüchtige fühlt in sich eine beständige Leere, er bedarf und sucht und liebt Ehre. Ebenso im Gebiete des Geschlechts sieht man, wie die Liebenden, Menschen sowohl wie Tiere von einem Mangel oder Bedürfnis gequält werden, sie begehren Ergänzung und suchen den ihnen genügenden Gegenstand als ihr Geliebtes. Der Komiker Aristophanes behauptet daher scherzhaft, wir Menschen wären ursprünglich Hermaphroditen gewesen, mit dem Rücken aneinander gewachsen, ein Gott habe uns auseinander geschnitten, was noch am Rücken die flache Schnittfläche zeige, und daher komme die Liebe, womit ein Jeder seine andere Hällte suchen müsse.


Nun kann man allerdings Bedürfnisse unseres Organismus leicht verstehen, wie denn z. B. Hunger und Durst auch anatomisch oder physiologisch erklärlich zu sein scheinen, wenn man die Natur der normalen Lebensprozesse mit der Selbstzerstörung des ausgeleerten Körpers vergleicht. Das Begehren scheint nämlich um der Selbsterhaltung willen notwendig zu sein. Mithin wäre das Gesetz der Selbsterhaltung der eigentliche Grund der Liebe und alles Begehrens. Demgemäß könnten wir auch die geschlechtliche Liebe dadurch begreifen, weil ohne sie ja die menschliche Gattung mit den jetzt Lebenden zugleich aufhören würde. Auch würde die Liebe zur Gesundheit und zum Leben, die Liebe zur Arbeit und sehnliches vielleicht verständlich, weil ohne dieses die Erhaltung des Lebens unmöglich ist.

Allein dennoch hätte diese Erklärung zwei sehr große Mängel. Erstens nämlich beruht das Prinzip der Selbsterhaltung selbst auf einem Begehren; denn ein bloßes Gesetz als Sollen würde nicht viel helfen, wenn in der Natur nicht ein Begehren nach diesem Ziele vorhanden wäre. Ist es aber selbst ein Begehren, so muß es also auf einem Bedürfnis beruhen. Nun gibt es aber nach der Thesis nur Bedürfnisse, wenn wir das Gesetz der Selbsterhaltung als Prinzip voraussetzen. Ist das Bedürfnis also eine Folge des Gesetzes der Selbsterhaltung, so kann es nicht sein Grund sein. Folglich ist das Gesetz nicht erklärt. Und warum soll sich auch Alles erhalten? Warum soll nicht Alles lieber gar nicht Sein? Schopenhauer z. B. hält ja alles Existiren für eine unnütze Unterbrechung in der tiefen Ruhe des Nichts.

Außerdem ist das Prinzip schon deshalb zu bezweifeln, weil es unausführbar ist, da es ja den Tod in der Welt gibt. Nur eine kurze Spanne Zeit erhält sich alles Gewordene und vergeht dann wieder, und nicht einmal die Gattungen erhalten sich immer, sondern sterben aus, entweder sichtlich in historischer Zeit, oder, wie wir es indirekt erkennen aus den Schichten der Erdrinde.

Dieser erste Grund nun richtet sich gegen die Wahrheit des Gesetzes selbst. Zweitens aber, wenn wir das Gesetz auch gelten ließen, so würde dadurch nur die interessirte Liebe begreiflich, die bloß den Vortheil des sich erhalten wollenden Subjektes im Auge hat. Nun lieben wir aber auch die Musik und den Tanz und schöne Einrichtungen und die Wissenschaft und schöne Handlungen, wobei doch die Selbsterhaltung gar nicht beteiligt ist. Denn wenn man z. B. die Liebe zu den Kindern und Freunden, und die Menschenliebe überhaupt aus dem Selbsterhaltungstriebe der Gattung erklären wollte, so könnte man dies noch allenfalls hingehen lassen, weil ja ohne diese Arten der Liebe die Menschheit allerdings leichter zu Grunde gehen würde. Wenn man aber die Liebe zur Musik und zur Mathematik und dergleichen ebenso erklären sollte, so würde man doch etwas lächerliches sagen; denn die Menschen sterben nicht ohne Musik, wie ohne Speise, und es leben viele Individuen und Völker ohne Mathematik, aber kein einziges ohne Wasser. Der Selbsterhaltungstrieb ist dabei also weder für das Individuum, noch für die Gattung irgendwie beteiligt. Denn es wäre ja nur eine Neckerei, wollte man erinnern, daß die berühmten Sängerinnen sich doch ganz herrlich durch die Musik selbst erhalten, indem sie an 10,000 Frcs. an einem Abend verdienen. Hier wird eben die Liebe zur Musik wieder zum Gelderwerb benutzt und schon als Thatsache vorausgesetzt; wir wollten aber wissen, woher gerade eine solche Liebe erklärt werden könne.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.