Rede in London.

Kennen Sie die Geschichte von dem Araber, der einen Mann erschlug, weil dieser ihn fragte, wohin er sein Kalb trage? Die Geschichte wurde mir vor einigen Jahren hier in England von einer Dame erzählt, und ich will sie Ihnen jedenfalls wiedersagen, weil es eine gute, sinnvolle Geschichte ist. Ein Araber, der, wie die meisten seiner Landsleute, einen geduldigen, gleichmütigen Charakter hatte, trug eines Morgens ein kleines Kalb von seinem Dorfe nach der Stadt. Als er auf der Landstraße munter dahinschritt, kam ihm ein Mann entgegen, der fragte: „Wohin trägst du dein Kalb?“

Unser Araber antwortete: „Nach der Stadt, mein Freund. Gott segne dich!“


Er war noch nicht viele Minuten weitergegangen, da kam ein zweiter vorbei und fragte: „Wohin trägst du das Kalb?“

Unser Araber antwortete: „Nach der Stadt, mein Freund. Gott segne dich!“

Wieder nach einer Weile kam ein dritter, ein vierter, ein fünfter. Der Anblick des Mannes mit dem Kalbe löste jedem dieselbe Frage aus. Und unser Araber antwortete, weil er ein geduldiger Mann war, immer freundlich: „Nach der Stadt, mein Freimd. Gott segne dich!“

Aber die Geduld ist ein Stoff, der sich abnützt. Als unser Araber fünfzehn- oder zwanzigmal dieselbe Antwort auf dieselbe Frage gegeben hatte, begann es ihn zu verdrießen. Seine Antwort wurde kürzer: „Nach der Stadt, mein Freund!“ Den Segen Gottes ließ er weg. So hatte er wieder ein dutzendmal Auskunft gegeben, bis ihm auch dies zuviel wurde. Den nächsten Fragern sagte er nur noch trocken: „Nach der Stadt!“ Dabei wurde sein Ton immer unwirscher, endlich sogar grob. Das Blut stieg ihm zu Kopf; er meinte, die Leute hätten sich verabredet, ihn zu narren. Und als er im Gesichte des neunzigsten oder hundertsten, der ihn fragte: „Wohin trägst du dein Kalb?“ ein höhnisches Lächeln zu entdecken glaubte, da legte unser Araber sein Kalb hin, packte den Mann bei der Gurgel und erschlug ihn.

Die Zionisten sind ein bißchen in der Lage des Arabers mit dem Kalbe. Man stellt ihnen immer dieselben Fragen, und sie werden allmählich ungeduldig. So ist es zu erklären, daß die Diskussion über unsere Sache zuweilen gereiztere Formen annimmt. Ich möchte unseren Freunden aber raten, nicht zu vergessen, daß es immer neue Vorübergehende sind und daß diese noch nicht aufgeklärt sind. Geben wir ihnen ruhig die gewünschte Antwort. Und bedenken wir, daß wir mit unserem Kalbe der Stadt um so näher kommen, je öfter wir geantwortet haben.

Schlimmer ist es freilich, wenn Leute, denen man schon geantwortet hat, mutwillig wiederkommen und wieder fragen. Oder wenn sie gar entgegnen: „Das ist nicht wahr. Du gehst nicht nach der Stadt!“ Oder: „Es gibt überhaupt keine Stadt!“ Oder: „Ich bin nicht dein Freund, und Gott wird dich nicht segnen.“ Solchen Widersachern müssen wir einfach den Rücken kehren und weitergehen und denken: bald sind wir in der Stadt.

Aber die immer gleiche Antwort kann ich mir heute und hier ersparen. Sie wissen alle, wohin wir wollen. Die Frage, die bei manchem auftaucht, ist vielleicht nur die, ob wir auf dem richtigen Wege sind.

Ich glaube, ja.

Was ist unser Ziel? Wir wollen dem jüdischen Volke eine rechtlich gesicherte Heimstätte bereiten, in seiner alten Heimat Palästina. Das halten wir für die endgültige Lösung der Judenfrage.

Diese Lösung setzt drei Dinge voraus.

Erstens die Existenz des jüdischen Volkes.

Zweitens die Eignung Palästinas zur Besiedelung.

Drittens die Sicherung der rechtlichen Grundlagen.

Zum ersten. Wir konnten, als wir unsere Bewegung anfingen, nur vermuten, daß es ein jüdisches Volk noch gebe. Heute wissen wir es. Es ist auf die deutlichste und modernste Art von der Welt bewiesen. Wir haben nämlich eine jüdische Volksvertretung. Sie tagt seit zwei Jahren in Basel und heißt Zionisten-Kongress. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob ich selbst es erleben werde, aber ich bin fest überzeugt, daß Leute meines Alters die Verwirklichung unseres Wunsches sehen werden. Wir werden im Lande Israels als freie Menschen wohnen. Ob ich selbst dabeisein werde oder nicht, ist für die Sache gleichgültig. Aber wenn ich dabeisein werde, so werde ich mich über nichts mehr so freuen, von nichts mehr so hingerissen sein wie vom ersten Baseler Kongress im Jahre 1897. Denn das war das erste Lebenszeichen des scheintoten jüdischen Volkes. Wie schwach der Atemzug, wie leise der Pulsschlag auch war, die wir zitternd vor Angst und Hoffnung damals belauschten — wir gewannen die Überzeugung, daß unser Volk noch lebt. Alles, was es späterhin noch leisten wird, kann uns nicht mehr überraschen. Der glückliche Augenblick war der an den Grenzen des Lebens, wo wir den Augenaufschlag des Totgeglaubten sahen. Daß jemand, der ins Leben wiederkehrt, auch herumgeht und ißt und trinkt und tanzt und Flöte bläst und Holz hackt und Bücher liest und Bilder malt, das alles ist nicht mehr wunderbar. Wunderbar ist nur die Rückkehr ins Leben, der erste fühlbare Pulsschlag, der erste sichtbare Atemzug. Dieses Leben nicht mehr entschlafen zu lassen, war unsere Pflicht, und ihr dient die Agitation der braven Zionsvereine in der ganzen Welt. Von Sibirien bis nach Südafrika und Südamerika gibt es heute schon Tausende solcher Vereine, die das Grundgesetz des Ersten Baseler Kongresses anerkennen und danach wirken. Das ist die Nation, unsere Nation!

Nun gibt es unter uns Leute, welche die Nase rümpfen und sagen: „Ja, die Armen; die Reichen nicht!“ Die Leute, die so sprechen, haben es in der Regel nicht um mich verdient, daß ich ihnen gute Ratschläge gebe. Dennoch will ich ihnen abraten, dergleichen öffentlich zu sagen. Denn sie bestätigen dadurch die schlimmsten Urteile der Antisemiten, daß bei den Juden Geld alles ist; daß die Juden vor nichts Respekt haben als vor dem Gelde, gleichviel, wie es gewonnen worden sei. Hüten wir uns vor einer solchen Auffassung, denn sie ist gemein und nicht einmal klug. Wenn man schon unfein genug ist, so zu denken, muss man wenigstens gescheit genug sein, es zu verbergen. Übrigens besteht jedes Volk leider zumeist aus Armen, und würde vielleicht jemand die Existenz des englischen oder französischen Volkes zu leugnen wagen, weil so wenig Millionäre auf so viele Hungerleider kommen?

Das sind Trivialismen, verzeihen Sie sie mir. Die Gegner zwingen uns, solche Plattheiten vorzubringen.

Zum zweiten. Die Kolonisierbarkeit Palästinas. Den Beweis hierfür haben die sogenannten praktischen Zionisten schon vor uns angetreten, wenn auch im kleinen, und er ist gelungen. Ich habe von den Arbeiten dieser Männer immer mit Achtung gesprochen, wenn ich sie auch für ungenügend halte, um die große Frage zu lösen. Um so schmerzlicher berührten mich die Anfeindungen von dieser Seite. Wenn man heute die Versuche der Praktischen überall zu kennen und zu schätzen beginnt, so ist das vielleicht auf unsere größere Propaganda zurückzuführen. Denn viele Juden, die noch nicht unsere Auffassung akzeptieren wollen, sehen jetzt die bescheidenere Forderung der Praktischen mit günstigeren Augen an. So kommt es, daß die Praktischen heute Arm in Arm mit solchen gehen können, von denen sie früher mißachtet oder ausgelacht wurden.

Indessen sind alle diese Schlagworte und Parteinamen nichtssagend. Ich könnte Ihnen leicht beweisen, daß die sogenannten Praktischen eigentlich politisch sein wollen und daß wir, die Politischen, eigentlich praktisch zu sein glauben. Die Praktischen halten es nämlich für schlauer, allmählich und unbemerkt einige hunderttausend Juden nach Palästina zu bringen und dann, wenn sie dort sind, die Rechte für sie zu verlangen. Unbemerkt? Einige hunderttausend Menschen? Ja, um des Himmels willen, wie stellen sie sich das vor? Ich glaube, sie stellen sich das gar nicht vor. Sie fangen nur an zu arbeiten. Ungefähr so, wie wenn ein paar Leute den Gedanken hätten, an einer Stelle ein Haus zu errichten. Was tun sie? Sie sind keine Träumer, keine Schwärmer. Sie wissen, daß ein Haus aus Steinen zusammengesetzt wird. Also schleppen sie einen Stein mit großer Anstrengung nach dem Bauplatz hin. Und sie meinen, wenn auch andre so tun werden, dann werde das Haus entstehen.

Nie! So wird das Haus nie entstehen! Es wird aber entstehen, wenn zuerst ein Bauplan entworfen wird. Dann ist euer Stein nützlich. Vorher nicht.

Und da sind wir beim dritten, bei der rechtlichen Sicherung. Wenn es schon töricht wäre, ohne Plan zu bauen, so wäre es auch nicht klug, Baupläne auszuführen, solange der Baugrund uns nicht gesichert ist. Sonst wird der Eigentümer uns den Bau einreißen oder uns aus dem Hause, das wir anfertigten, verjagen.

Ist es demnach nicht praktischer, vor allem das Recht für den Bau zu sichern? Wie soll das geschehen? Wenn die Verhältnisse einen unmittelbaren und sofortigen Kauf des Bauplatzes nicht gestatten, kann man eine Pachtung oder ein Zinsverhältnis einrichten. Hier in England sind ja die Rechtsverhältnisse der Superficies und Emphyteusis, die man auf dem Kontinent wenig kennt, gang und gäbe. Ein solches Rechtsverhältnis ins Politische übertragen, möchte ich, hoffe ich mit der türkischen Regierung zustande zu bringen. Und in dem Augenblick, wo die Souveränität Sr. Majestät des Sultans nicht in Frage kommt, wo die gesicherte Einwanderung nach Palästina nicht nur keine Gebietsverminderung für die Türkei bedeutet, sondern eine Konsolidierung und Werterhöhung ihres Besitzes, ist ein Übereinkommen wohl zu erhoffen. Es ist mir gelungen, für diese Ideen und Vorschläge mächtige Fürsprecher zu gewinnen. Aber da ich nicht in der glücklichen Lage des Sir Cecil Rhodes bin, muss ich mir über manche historisch merkwürdige Unterredung absolutes Schweigen auferlegen, auch auf die Gefahr hin, daß unsere Gegner behaupten werden, ich hätte nichts zu sagen.

Als ich im vorigen Herbste, vor der Palästinareise der zionistischen Abordnung, hier in London eine Andeutung über bevorstehende Ereignisse machte, da wusste ich bereits einiges von den Dingen, die sich vorbereiteten.

Es ist nun eine ungemein schwierige Aufgabe, mit der klügere und erfahrenere Leute, als ich bin, ihre liebe Not hätten, wenn man auf der einen Seite das Vertrauen wohlwollender Personen durch Schweigen zu rechtfertigen hat und auf der anderen Seite mit Fragen bestürmt wird: Wie steht es? Wo halten wir? Wann, wann, wann?

In diesem Dilemma erkenne ich ohne alle Unschlüssigkeit meine Pflicht. Meine Pflicht ist, zu schweigen, selbst auf Kosten der Popularität, bis das Werk, das ich unternommen habe, fertig ist.

Ich weiß, was unsere Gegner dazu sagen werden. Ich weiß es, wie wenn ich ihre Reden schon gehört, ihre Blätter schon gelesen hätte. Er ist schon wieder ausgewichen, er hat vage Versprechungen gemacht, die armen Leute vertröstet, die ganze Sache ist ein außerordentliches Blendwerk. Nun, wir tragen all die Verantwortung für das, was wir sagen und gesagt haben.

Zum Glück fehlt mir die Zeit, alle Insulten zu lesen, mit denen man mich von jüdischer Seite bedeckt. Ich bekomme nur ab und zu eine Sammlung, ein Bukett der Schmähungen zu Gesicht. Ich empfinde darüber mehr Scham als Zorn. Ich schäme mich als Jude, daß es Leute unter uns gibt, die einen Arbeiter der Volkssache beschimpfen. Wenn dieser Streit aus den Gettomauern unserer Diskussion hinausdringt in die weitere Öffentlichkeit, wird vielleicht mancher Gleichgültige erstaunt den Kopf schütteln und mancher Feind sagen: Seht, so sind die Juden! So behandeln sie ihre eigenen Söhne, die sich um das Volkswohl abmühen.

Ist man nicht sogar so weit gegangen zu sagen, daß ich Geldvorteile von der Sache habe? Wahrlich, diese Leute würden verdienen, daß ich öffentlich vorrechne, was mich die Bewegung außer meiner Zeit und Arbeit auch schon für Geldopfer gekostet hat. Meine nächsten Freunde wissen es. Im übrigen will ich mir auch darin Zurückhaltung auferlegen, weil ich an die Ehre der Juden denke.

Mit einem besonderen Wutgeheul ist man über mich hergefallen, als wir in Ausführung der Kongressbeschlüsse an die Errichtung der Jüdischen Kolonialbank schritten. Es war einer der Wendepunkte unseres Weges nach der Stadt, und wer uns da unser Kalb tragen sah, konnte leider auf die Vermutung kommen, daß es das goldene Kalb sei. Für meine Freunde und mich war die Gründung der Jüdischen Kolonialbank bisher das größte Opfer, das wir der zionistischen Bewegung brachten. Ich spreche da nicht von dem Gelde, das wir aus unserer Tasche daranwendeten.

Denn obwohl wir Juden sind, ist uns Geld bei weitem nicht das Höchste. Das Opfer war, daß wir einer geschäftlichen Unternehmung nähertraten, wenn auch ohne jede Absicht auf materiellen Gewinn.

Als wir auf dem Punkte angelangt waren, wo wir mit der Schaffung des finanziellen Instrumentes nicht länger zögern konnten, schrieb ich einem englischen Freund einen Brief, worin ich ihm sagte: „Jetzt ist die schöne Zeit vorbei, in der man mich nur als einen Wahnsinnigen hinstellte. Von nun ab wird man mich als einen Geschäftsmann behandeln. Aber auch da muß ich hindurch.“

Ich meine nicht, daß es etwas Unrechtes sei, wenn man sich mit Geschäften abgibt. Nur ein Schriftsteller soll kein Geschäftsmann sein, und beim Diener einer Volksbewegung ist es etwas Unerträgliches.

Nie habe ich so richtig prophezeit wie damals, und die Juden können zufrieden sein, wenn alle meine Worte sich so erfüllen wie jene, die ich damals schrieb. Das heißt, meine Prophezeiung wurde weit übertroffen. Hier in London war es, in einer öffentlichen Versammlung, wo ein Herr, den ich nicht näher kenne, der aber jedenfalls in seinem Leben mehr mit Geldgeschäften zu tun hatte als ich, die Vermutung aussprach, wir wollten den armen Leuten das Geld aus der Tasche rauben. Warum sagte er das? Da ich nie in meinem Leben Geschäfte irgendwelcher Art gemacht habe, weiß ich nicht, ob er meinte, daß jede finanzielle Unternehmung einen Raub bedeute. Das wäre eine Umschreibung von Dumas Wort: „Les affaires, c'est l’argent des autres.“ [französisch: Das Geschäft ist das Geld anderer Leute] Oder meinte er, daß nur die finanziellen Unternehmungen von Juden diesen Charakter tragen? Dann wundere ich mich, daß ihn der ehrwürdige Chiefrabbi nicht exkommunizierte und — was vielleicht noch empfindlicher für ihn wäre — daß die Bankiers mosaischer Konfession nicht den Verkehr mit ihm abbrachen. Aber wahrscheinlich wollte er nur in der kräftigen Sprache des Lebenskreises, dem er angehört, sagen, daß er kein Vertrauen zur Sache habe. Und sehen Sie, was erreicht wurde? Gerade die Größe der Beschimpfungen hat sie unwirksam gemacht. Meine Freunde und ich wären tief gekränkt gewesen, wenn man uns als Geschäftsleute hingestellt hätte — und wir waren auf diese Kränkung gefaßt. Aber man behandelte uns als Räuber — das hat uns getröstet.

Und was bedeuten diese kleinen Hautabschürfungen uns, die wir unser ganzes Leben gern an die teure Sache setzen? Es geht vorwärts — nur darauf kommt es an.

Diese im vorhinein verleumdete Kolonialbank ist heute gesichert. Sie ist eine Tatsache, eine Ziffer, mit der auch die Ziffernmenschen werden rechnen müssen, besonders die Ziffernmenschen. Es ist wenig gesagt, wenn ich erkläre, daß die Bank besser sein wird als der Ruf, den man ihr zu machen versucht hat. Sie wird überhaupt gut sein. Warum?

Wenn ich sagte, die Kolonialbank wird gewissenhaft verwaltet werden, weil das rührende Vertrauen der unzähligen kleinen Leute in der ganzen Welt uns eine ernste, dauernde, moralische Pflicht auferlegt — so werden die Gegner antworten: Ja, eben das ist noch zu beweisen. Darum will ich Ihnen den anderen Grund angeben: Der Aufsichtsrat, dem ich nebst mehreren Gelehrten, Schriftstellern und Nichtgeschäftsleuten anzugehören die Ehre habe, ist statutenmäßig von jedem Vermögensgewinn, welcher Art immer, ausgeschlossen. Wenn man uns daher nicht für Anhänger eines neuen Sports hält, der darin besteht, daß die Aufsichtsräte den Direktoren beim Plündern der Aktionäre zusehen und vielleicht darauf wetten, welcher Kassierer am schnellsten defraudiert, so muß man doch annehmen, daß dieser mit genügender Macht ausgestattete Aufsichtsrat seine Pflicht tun wird.

Aber diese Pflicht ist mit der Aufrechterhaltung der Ordnung nicht erschöpft. Es handelt sich hier um die Schaffung noch einer jüdischen Bank. Deren gibt es unter verschiedenen Masken schon genug. Die zionistische Bank mußte es sein und wird es sein. Was heißt das?

Soll das Aktienkapital der Bank dazu dienen, das Land unseres Strebens zu kaufen? Dazu wären zwei Millionen Pfund doch eine zu geringe Summe. Mit solchen Behauptungen will man uns ja nur lächerlich machen, uns als Narren hinstellen. Die Bank hat eine andere Aufgabe. Sie soll die Erlangung des Charters vermitteln, den ich Ihnen vorhin im Bilde des leasehold vorführte.

Wir wollen einen Charter von der türkischen Regierung erwerben, um Palästina unter der Souveränität des Sultans zu kolonisieren. Ungeheure Vorteile eröffnen sich der Türkei, wenn sie die fleißigen, friedlichen, unternehmungslustigen Juden zur Erschließung der natürlichen Schätze des Landes zuläßt. Es gibt heutewohl wenige türkische Staatsmänner, denen diese Nützlichkeit der zionistischen Bewegung nicht einleuchten würde. Mit den Juden käme Wohlfahrt und moderner wirtschaftlicher Aufschwung in die Türkei.

Was die Verwirklichung unseres Planes für Europa bedeutet, das haben regierende Herren und Diplomaten von hoher Stellung in klarster Weise anerkannt. Es wäre das Ende der giftigen, hässlichen Judenfrage, obwohl niemand von uns daran denkt, daß alle Juden nach Palästina gehen sollen. Nur wer Lust hat, wer sich sein Los verbessert, wenn er hingeht. Und unser Räsonnement ist das einfachste von der Welt: wenn das Angebot an Juden sinkt, wird die Nachfrage nach Juden steigen. Man wird uns für mehr wert halten.

Wir werden auch mehr wert sein. Kultur wollen wir nach dem Osten tragen. Und wieder wird Europa davon profitieren. Dem Verkehr werden wir neue Wege erschließen — und niemand hat daran ein größeres Interesse als England mit seinen asiatischen Besitzungen. Der kürzeste Weg nach Indien führt durch Palästina. Wir werden die Produkte des Kulturlandes brauchen, bis wir selbst welche erzeugen. Aber wir wollen auch möglichst bald selbst Güter produzieren.

In den letzten fünfzig Jahren sind im wirtschaftlichen Leben der Menschheit größere Veränderungen vor sich gegangen als früher in einem Jahrtausend. Mit dem Dampf und der Elektrizität ist ein neuer Geist herrisch, herrlich in die Welt eingezogen. Dieser Geist soll über der zionistischen Bewegung schweben. Ich will von den zahllosen Industrien nicht sprechen, durch die unser Dasein so mannigfaltig geworden ist. Was könnte ich armer Barbar vom Kontinent den Bewohnern Englands darüber sagen? Sie sind uns in allen technischen Errungenschaften weit überlegen, gleich wie die großen Politiker Ihres Landes die ersten waren, welche die Notwendigkeit der kolonialen Ausbreitung erkannten. Darum weht die Fahne Größer-Britanniens auf allen Meeren. Und so sollte ich meinen, daß hier in England die zionistische Idee, die eine koloniale ist, leicht und rasch verstanden werden muß, und zwar in ihrer modernsten Form. Alles, was menschlicher Fleiß in anderen Ländern schaffen kann, wird er doch auch dort schaffen können, wo in wunderbaren Tagen Milch und Honig floss. — Warum sollte das gerade dort nicht möglich sein? Etwa, weil wir heute in der Beherrschung der Naturkräfte um so viel weiter halten? Blicken Sie doch zurück auf die Einfalt früherer Tage und geben Sie sich selbst die Antwort.

Wenn ich nicht schon so lange gesprochen hätte, würde ich Ihnen das einfachste Lebensmittel, das Brot, zeigen, seine Geschichte, seine Entwicklung und seinen heutigen Zustand. Von den Dampfpflügen, Säe- und Dreschmaschinen bis zur bakteriologischen Untersuchung der Gärungspilze — welch ein Unterschied gegen die Zeit unserer Väter, die ihr Brot mit mehr Schweiß benetzen mussten als wir. Sehen Sie sich alle diese merkwürdigen Fermentationsindustrien an, Brot und Bier, Wein und Essig, Rum und Kognak, Tabak und Käse — wie ist alles anders geworden.

Ja, wenn ich nicht eine so heillose Angst davor hätte, ein Phantast und Utopist gescholten zu werden, würde ich Ihnen die kommende Einrichtung unseres Landes schildern, mit Eisenbahnen, Telegraphen, Telephonen, Automobilcars und anderen solchen fabelhaften Dingen, die noch nie ein Mensch gesehen hat.

Aber in solchen Einrichtungen auf dem neuen Boden, der unser alter ist, erschöpft sich das nicht, was ich für den Zionismus halte. Ich glaube nicht, daß das Volk der Schrift sich so lange und unter solchen Leiden fortgefristet hat, nur um einmal die neuen Verkehrsmittel nach Hause zu bringen. Einen anderen Sinn müssen die Leiden des vielgeprüften Volkes gehabt haben. Eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Menschlichkeit muß in uns sein, und wir müssen sie befriedigen. Es ist vielleicht nicht die eleganteste Gesellschaft, wenn man mit Bettlern und Hungerleidern zusammen nach dem Ziele strebt. Aber ich spreche ja nicht von der Kanzel einer Synagoge, und so mag es mir gestattet sein, zu sagen, daß wir Zionisten nicht davor zurückschrecken, mit Bettlern und Hungerleidern zu gehen, wenn das Ziel die Gerechtigkeit ist. Vielleicht werden wir bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit sozialer Verbesserungen entdecken und verwirklichen, die auch den Mühseligen und Beladenen anderer Völker zunutze kommen. Dann erst werden wir wahre Israeliten sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften