Die Millionen der ICA.

Wenn redliche Meinungen streiten, gibt es auch eine Großmut der Besiegten. Ist man von loyalen Waffen geschlagen worden, so vergibt man sich nichts, man ehrt sich sogar selbst, wenn man dem im Kampfe glücklicher gewesenen Gegner die Hand hinstreckt. Der Händedruck nach der Mensur ist vielleicht das Männlichste an der ganzen Fechterei. Leider müssen wir bei unseren jüdischen Gegnern manchmal eine solche gute Regung vermissen.

Den Anlaß zu dieser Betrachtung liefert ein Vorgang der letzten Zeit. In jüdischen Blättern einer anderen Observanz, als der unsern, wird mit einer gewissen Absichtlichkeit gemeldet, daß die Millionen der sogenannten Ica (Anfangsbuchstaben der Jewish Colonisation Association) ebenfalls für die Kolonisierung Palästinas zur Verfügung stehen. Den Eingeweihten sind die wirklichen Umstände bekannt. Man muss sich demnach fragen, warum diese Dinge jetzt und so geflissentlich publiziert werden. Welchen Zweck verfolgt man dabei?


Die Millionen der ICA (zwischen 260 und 270 Millionen Franken) sollen die Jüdische Kolonialbank als überflüssig erscheinen lassen. Wenn schon so viel Geld für den Zweck da ist, wozu braucht man noch eine Bank mit nur fünfzig Millionen Franken Kapital? Von dieser einfachen Erwägung, daß die Bank überflüssig sei, weil schon Geld genug da ist, bis zu dem Schlusse, daß die Zionisten und wer sonst noch Vertrauen zur Sache hat, keine Shares zeichnen sollen, ist nur ein Schritt. Damit wäre die bei gewissen jüdischen Hochbänkern schon jetzt höchst unbeliebte Jüdische Kolonialbank glücklich untergraben. Dem Subskribenten wird ein Zweifel eingeflößt, er muss sich sagen: Ja, wenn ohnehin die Millionen der ICA da sind, wozu soll ich noch ein Pfund oder zehn Pfund oder tausend Pfund Sterling dazu geben? Am Ende will man da nur unter einem Vorwande eine Bank gründen, wie es deren schon genug gibt.

Ein solches Räsonnement würde aber auf einem Missverständnisse beruhen. Wir wollen es ruhig aufklären. Unsere Gegner haben uns wieder einmal einen Dienst geleistet, wenn auch in der denkbar schlechtesten Absicht. Wir hätten vielleicht nicht einmal daran gedacht, einiges von dem zu sagen, was nun folgen wird — für so vollkommen selbstverständlich mussten wir es halten.

Zunächst darf der Unterschied zwischen dem Vermögen von Stiftungen und dem einer Bank nicht übersehen werden. Beides ist flüssig wie Wasser, aber das eine stagniert und das andere fließt. Es ist der Unterschied wie zwischen einem Teiche und einem Bache. Mit dem Wasser eines Teiches kann man keine Mühlen treiben, mit dem Wasser eines Baches kann man das. Dieses Bild erspart uns wohl das Aufzählen jedes einzelnen Punktes, in welchem Bank und Stiftung verschieden sind. Das Vorhandensein eines Teiches macht doch einen Bach nicht überflüssig.

Ja, wessen Mühlen sollen denn getrieben werden? Etwa die der Gründer dieser Bank? Der unsaubere Verdacht ist nicht einen Augenblick haltbar, wenn man die Statuten und den Prospekt der Jüdischen Kolonialbank liest. Die erste und unabänderliche Bestimmung ist, daß die Gründer oder Inhaber der Gründershares keinerlei Vermögensvorteil gewinnen können. Wohl noch nie ist eine Bank unter solchen Bedingungen errichtet worden. Und wir, die wir den jüdischen Namen zu neuer Ehre verhelfen wollen, setzen darum das Beiwort „Jüdisch“ mit besonderer Lust an die Spitze des Unternehmens, welches für uns ein politisches ist. Jawohl, wir behaupten, daß diese Gründung anders ist, als woran die Hochbank die Welt gewöhnt hat. Wenn die Hochbänker sich zu einer Gründung zusammentun und ihre Unterschriften unter einen Prospekt setzen, so bekommen sie dafür sofort gezahlt. Wenn man diesen finanziellen Vorgang nicht durch die rosig gefärbten und in Gold gefaßten Brillen der berufsmäßigen Verteidiger ansieht, so muss man ihn in der folgenden Weise charakterisieren: Die Hochbänker machen sich für ihre Unterschrift aus dem Gelde bezahlt, welches durch die Subskription hereingebracht werden soll. Sie verkaufen also ihren Kredit beim Publikum demselben Publikum, das diesen Handel nicht durchschaut. Es ließe sich darüber noch viel sagen, aber wir wollen uns jetzt dabei nicht länger aufhalten. Nur konstatiert sei, daß die Gründer der Jüdischen Kolonialbank für ihre Unterschrift auf dem Prospekt nicht bezahlt werden, sondern daß sie im Gegenteil dafür zahlen. Alle, wie sie da stehen, Mann für Mann, haben sich eine Ehre und ein Vergnügen daraus gemacht, zu den bedeutenden Gründungskosten das ihrige à fonds perdu [französisch: als verlorener Beitrag] beizutragen, und es ist vollkommen ausgeschlossen, daß sie von dieser Aufwendung jemals für ihre eigene Tasche etwas profitieren können. Nur insofern sie gleich anderen Subskribenten Aktien zeichnen, können und werden sie die rechtmäßigen Dividenden beziehen. Und während die Hochbänker wohl von ihrer Prospektunterschrift einen unmittelbaren Nutzen haben, aber das ausgegebene Wertpapier nicht für sich behalten und diese Tatsache zu verschweigen pflegen, haben die unbezahlten Errichter der Jüdischen Kolonialbank auch selbst Shares genommen — einzelne bis zu zweitausend Stück — und diese Anlage auch in schicklicher Weise bekanntgemacht. Diese Publikation erfolgte, damit man im Falle einer bedeutenden Kurssteigerung den Errichtern der Bank auch nicht den Vorwurf machen könne, sie hätten aus ihrer genaueren Kenntnis der Verhältnisse einen Vorteil gezogen, die nicht jedem zugänglich war. Auf der anderen Seite aber musste gezeigt werden, daß sie das Vertrauen zur volkstümlichen Unternehmung, das sie anderen zumuten, auch selbst betätigen. Es kann nicht schaden, wenn wir diese Unterschiede der Art und des Verfahrens gerade in dem Augenblicke deutlich ins Licht setzen, wo wir anscheinend auf den Wegen der Hochbänker wandeln.

Gewisse Teile unserer wohlbekannten Aufgabe sind durch Geld zu lösen. Aber es ist ein Irrtum kleiner Leute, zu glauben, daß dies genüge. Und mancher bleibt klein auf einem Berge von Geldsäcken. Die „praktischen“ Leute, die uns nicht verstehen wollen oder mit ihren unzulänglichen Gehirnen nicht verstehen können, begehen den Fehler, die Sache rechnerisch zu entscheiden. Wenn die Ansiedlung einer Familie 5243 Franken und 27 1/2 Centimes kostet, was kostet die Ansiedlung von 17.926 Familien? Wozu dann noch eine Menge Komplikationen kommen, welche den bornierten Scharfsinn unaufhörlich beschäftigen. Die 17.926 Familien haben mindestens 17.926 verschiedene Verhältnisse. Wieviel Dunam Boden, wieviel Samen oder Reben, wieviel Pferde, Esel, Kühe und Ochsen brauchen sie? Nun, so kindisch ist das Exempel nicht zu lösen. Wollte man in dieser Form ausrechnen, wieviel Geld zur Ansiedlung des jüdischen Volkes notwendig ist, man käme auf einen phantastischen Betrag. Jedenfalls genügt dazu weder das Aktienkapital der Jüdischen Kolonialbank, noch das Vermögen der ICA, noch das der vielen anderen Kolonisationsgesellschaften, noch das aller Bankbarone. Die wirkliche Ansiedlung der jüdischen Massen, welche sich danach sehnen, auf dem Boden, den sie wünschen, muss man wohl auf mehrere Milliarden veranschlagen.

Die „praktischen“ Rechner werden nun mit ihrem überlegensten Lächeln sagen, daß diese Milliarden zuerst ebenso liquid daliegen müßten wie beispielsweise die dritthalbhundert Millionen der ICA. Und Leute mit solchem Horizont wollen eine so große Volkssache beeinflussen. Ist es ihnen denn ganz und gar versagt, die primitivsten Erscheinungen der Volkswirtschaft zu verstehen? So viel Geld gibt es nicht, um ein Volk zu transportieren und anzusiedeln. Hingegen genügt dazu eine einzige, einfache, allgemeine Idee, wie es unsere volksmäßige ist. Ich weiß nicht, ob zu dem ideenreichen Baron Hirsch oder zu Baron Edmund Rothschild jemals, wie zu mir, Leute gekommen sind, die sich als Besitzer kleinerer oder größerer Vermögen vorstellten und Rat verlangten, wie sie sich „drüben“ ansiedeln könnten. Es waren darunter Leute, die zweihunderttausend Franken und mehr besaßen, oder Gruppen, deren jedes Mitglied den Besitz von zehntausend Rubeln nachweisen musste. In solchen Fällen können die „Praktischen“ gar nichts tun, weil es sich da nicht um den Vorspann von Ochsen handelt, auf den sie einzig und allein gut eingeübt sind. Wohl aber wünschen diese Ansiedler auf eigene Faust und mit eigenen Mitteln die rechtlichen Sicherheiten, deren Herbeischaffung wir „Politischen“ uns zur Aufgabe gemacht haben. Wir stehen nicht mit Gönnermiene da und erweisen nicht ein paar Familien Wohltaten, die sich knapp auf die Köpfe der zufällig Begünstigten beschränken und schon deren Verwandte und Nachbarn in unveränderter Not lassen. Wir betrachten uns vielmehr als freiwillige Beamte und unbelohnte Diener des ganzen Volkes, dem wir neue Existenzbedingungen bereiten wollen. Darum ist unsere rechnerische Formel eine andere, und wer wagt es, ihre Richtigkeit zu bestreiten? Wir sagen nämlich: Es ist so viel Geld notwendig, als Leute kommen werden. Die „Praktischen“ sagen umgekehrt: Es können nur so viele Leute hingehen, als Geld für ihre Ansiedlung flüssig ist.

Nach unserer Rechnung steht das zu investierende Kapital in geradem Verhältnisse zur Zahl der Ansiedler. Für wenig Ansiedler wenig, für viele Ansiedler viel Geld.

Die Entwicklung muss eine natürliche, organische sein. Haben denn unsere Gegner nie etwas von der Geschichte großer Ansiedlungen gehört? Von der epischen Zeit der Völkerwanderung bis herauf in unsere Transvaaltage ist der Grundzug der gleiche. Den Auswanderer löst ökonomische oder moralische Not einzeln oder in Massen vom Boden. Er sucht einen anderen Fleck Erde und wird sich dort niederlassen, wo ihm bessere Bedingungen gewährt sind, wo er Arbeit und Sicherheit für das Erworbene, und mehr Freiheit, Recht und Ehre finden 'wird als an dem verlassenen Orte. Wir sehen es folglich nicht als unsere Aufgabe an, die Leute hinüberzuschaffen. Unsere Aufgabe ist es, drüben für sie bessere Bedingungen herzustellen. Dann kommt, wer will. Dann kommt, wer Arbeit und Sicherheit für das Erworbene sucht, wer etwas mehr Freiheit, Recht und Ehre genießen will, als er jetzt hat.

Die Bank aber wird der türkischen Regierung finanzielle Dienste leisten, insoweit und insolange hierfür ein Gegenwert in der Form von ausreichenden Rechtszugeständnissen für die Ansiedler erfolgt.

Die Investition von Arbeitskraft und entsprechenden Unternehmungskapital muss sich allmählich vollziehen, geleitet von der Kolonialbank und mit dem allerdings nicht zu unterschätzenden Rückhalt der millionenreichen Kolonisationsgesellschaften. Das ist der ganze Plan, der doch wohl klar und praktisch genug ist.

Nun sind aber um die Bank herum schon so viele Märchen erzählt worden, daß man auch manche törichte Vorstellung widerlegen muss, obwohl die Widerlegung eigentlich auch schon komisch wirkt.

Das Aktienkapital der Bank soll keineswegs an die Kolonisten verteilt werden, wie es ja auch nicht bestimmt ist, in den türkischen Staatsschatz zu fließen. Wohl aber soll das Institut die Aufbringung von Anleihen unter den besten Bedingungen und die Anregung von Unternehmungen vermitteln: agrikulturelle, technische, industrielle, kommerzielle. Das sind die Mühlen, die der Bach zu treiben hat. Daß eine noch so großartig ausgeübte Wohltätigkeit das ökonomische Verkehrsmittel der Bank nicht entbehrlich macht, läßt sich aus einem Beispiel erkennen, welches uns dieser Tage aus Palästina gemeldet wurde. Die auf wohltätige Art hinverpflanzten Kolonisten leiden unter harten Kreditbedingungen. Der Zinsfuß beträgt 24 bis 30 Prozent für das Jahr. Eine Bank, die in solche Verhältnisse eintritt, ist doch wohl ein Bedürfnis, und zwar ein um so größeres, je mehr Geld schon für die praktische Kolonisation vorhanden ist.

Wollten die Kolonialgesellschaften ihre Fonds nicht in der Richtung verwenden, welche den Wünschen des Volkes entspricht, so wäre die Bank eine Notwendigkeit, und zwar als Ersatz. Wenn nun die verschiedenen großen und kleinen Icas aber in derselben Richtung marschieren, so ist die Bank erst recht eine Notwendigkeit, und zwar als Ergänzung.

Die Argumentation unserer Gegner wendet sich gegen sie selbst. Je mehr Millionen die Kolonisationsgesellschaften zur Verfügung haben, um so notwendiger wird die Bank für die Ansiedlung im großen.

Wer versteht das nicht?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften