Dritte Kongressrede.

In der feierlichen Stunde, da sich die Abgeordneten des jüdischen Volkes, aus weitesten Fernen kommend, hier vereinigen, sei unser erstes Wort ein Dank an die schöne, freie Stadt, die uns wieder gastlich aufnimmt. Diese Dankbarkeit wird nicht nur von den hier Versammelten empfunden, sondern auch von ihren Auftraggebern in sehr entlegenen Teilen der Welt. Basel, der Baseler Kongress, das Baseler Programm — diese Worte klingen unserem Volke heute schon vertraut und bedeuten ihm einen Trost, eine Hoffnung.

Zum dritten Male sind wir hier, um die Beschwerden und Wünsche einer Nation zu erörtern, die wieder zum Leben erwachen will. Es mochte anfangs scheinen, vielleicht scheint es manchem auch jetzt noch so, als ob nicht viel damit getan wäre, daß wir hierherkommen und Reden halten, Reden voll von Seufzern. Aber diese Zweifler übersehen, daß auch in anderen Vertretungskörpern nur geredet wird. Und wer wird leugnen, daß Reden von solcher Stelle den stärksten Einfluß auf Gegenwart und Zukunft des Volkes ausüben? Aus dieser Erkenntnis haben wir uns bemüht, uns eine Stelle zu schaffen, von der unsere Worte gehört werden: diese jüdische Tribüne!


Da unser Volk nicht in das Leben der Vorzeit zurückkehren, sondern zum Leben der Gegenwart erwachen soll, mußte es vor allem so ein modernes Organ erhalten, um den Willen zum Dasein äußern zu können. Darum ist diese Tribüne ein kostbares Gut, das wir uns erworben haben. Hüten wir es wohl!

Durch den Ernst und die Ruhe unserer Beratungen können wir das Ansehen dieser Tribüne immer höher heben. Durch Unbesonnenheiten und Gezanke würden wir es rasch zerstören. Diese Tribüne wird so hoch sein wie die Reden, die man auf ihr hält. Unseren Worten verleiht keine äußere Macht Nachdruck; wenn sie also irgendeine Bedeutung haben sollen, kann es nur von der inneren Macht der Idee kommen und von der Reinheit der Gesinnungen, welche hier verkündet werden. Das muß sich jeder von uns beständig vor Augen halten, wenn er hier für das jüdische Volk und zum jüdischen Volke sprechen will.

Auch ein anderes. Wir sind hier nicht, um uns mit den inneren Vorgängen der einzelnen Länder, deren Bürger wir sind, zu beschäftigen. Jeder solche Versuch wäre ein schwerer Fehler und würde nur dazu dienen, falsche Vorstellungen von unserem Kongresse hervorzurufen. Wir sind hier lediglich, um über die Lage unseres Volkes zu beraten und eine ebenso gesetzliche wie menschenfreundliche Lösung unter der Kontrolle der öffentlichen Meinung vorzubereiten. Daß wir nichts anderes vorhaben, das wurde durch all unser bisheriges Tun und Lassen erhärtet. So ziehen wir selbst unserem Wirken die unanfechtbaren Grenzen: Wir wollen uns um das Wohl des jüdischen Volkes bemühen. Das ist unser Recht. Es ist auch unsere Pflicht.

Daß diese Art, allgemeinen Schwierigkeiten durch einen internationalen, freimütigen Gedankenaustausch der Beteiligten beizukommen, dem sittlichen Bewußtsein der jetzigen Kulturmenschheit bereits entspricht, das konnte man wahrnehmen, als der Friedensvorschlag Sr. Majestät des Kaisers von Rußland die Welt erfreute. Sie erinnern sich, daß wir hier versammelt waren, als dieser großgedachte Vorschlag bekannt wurde, und daß der Zionistenkongreß die erste Körperschaft war, welche ihrer Begeisterung Ausdruck geben konnte. Nun ist ein Jahr verstrichen. Die Friedensidee hat ihren Weg in die Wirklichkeit hinaus begonnen, und das ist schon sehr viel, auch wenn sie noch nicht am Ziel ist. Uns aber mag das Beispiel als eine Lehre der Geduld dienen. Wenn die Großen dieser Erde sich mit langsamen Fortschritten ihrer höchsten Ideen begnügen, wie zufrieden müssen wir armen Leute sein, wenn wir feststellen können, daß es doch ein wenig vorwärts geht.

Wir müßten unsere Arbeit also unverdrossen fortsetzen, auch wenn es in dem abgelaufenen Jahre keine äußerlich merkbaren Fortschritte gegeben hätte. Auch wenn nichts vorgekommen wäre, was ein Erstarken unserer Bewegung, einen Zuwachs ihres Ansehens und ihrer Mittel bedeutete, müßten wir unverdrossen fortarbeiten.

Aber dieses Jahr ist kein schlechtes für unsere Bewegung gewesen. Es war ein gutes Jahr. Wir haben einiges erreicht, wir sind um ein Stück weiter gekommen.

Ein bedeutendes Ereignis, das von unseren Gegnern, wie gewöhnlich teils verschwiegen und teils entstellt in die Öffentlichkeit gebracht wurde, war der Empfang der zionistischen Abordnung durch Se. Majestät den deutschen Kaiser in Jerusalem. Schon die Tatsache allein, daß der geniale Kaiser seine Aufmerksamkeit unserem Volksgedanken, zugewendet hat, wäre genügend, uns einige Zuversicht zu geben. Geringfügige Bewegungen werden aus solcher Höhe nicht bemerkt. Aber es ist mehr als eine bloße Kenntnisnahme erfolgt. Es wurde nicht irgendeine jüdische Deputation, es wurden nicht die Mitglieder irgendeines „praktischen“ Kolonisationsvereines empfangen, sondern die Abordnung des zionistischen Aktionskomitees. Die Gründe und Ziele unserer Bewegung waren vorher genau bekannt, und Se. Majestät der deutsche Kaiser hat uns daraufhin an einem für das gesamte Judentum denkwürdigen Tage sein wohlwollendes Interesse zugesichert. Dafür sind ihm alle wahren Juden zur Dankbarkeit verpflichtet.

Geehrte Kongressmitglieder! Sie werden verstehen, daß es ein Gebot der Schicklichkeit ist, die glückliche und bedeutsame Tatsache des unter solchen Umständen erfolgten Jerusalemer Empfanges nicht agitatorisch auszunützen. Wir wollen uns daher enthalten, hier irgendeine Diskussion daran zu knüpfen. Eines müssen wir in unserer freudigen Dankbarkeit aber dennoch hervorheben: Die vollkommene Legalität und Loyalität unserer so hoch geehrten Bewegung ist nach diesem Ereignis wohl für immer außer Frage.

Natürlich legen wir das größte Gewicht darauf, diese Loyalität vor allem der türkischen Regierung gegenüber zu betonen und zu beweisen. Von uns wird kein Schritt unternommen, der auch nur entfernt das gerechte Misstrauen des souveränen Besitzers von Palästina erwecken könnte. Wir wollen und können dem osmanischen Reiche die größten Vorteile bringen, folglich können wir ganz offen auftreten. Wer sich irgendwo einschleicht, hat gewöhnlich nicht die Absicht, etwas zu bringen. Dies war das Räsonnement, das wohlverständliche, welches zu den jetzt in Palästina bestehenden Einwanderungsschwierigkeiten führte. Wir haben sie nicht hervorgerufen; sie sind bekanntlich älteren Datums, als die hier vertretene Bewegung. Aber wenn man uns auch nicht beschuldigen darf, das Einwanderungsverbot verursacht zu haben, so wollen wir doch deutlich angeben, wie wir uns dazu stellen.

Wie? Man wollte eine Bevölkerung in einem Lande ansässig machen, ohne vorher den ganzen Plan offen erklärt zu haben? Kommt einer bei Nacht und Nebel heimlich heran, so darf er sich nicht wundern, wenn man ihm Halt! Wer da? entgegenruft. Und um so schlimmer für ihn, wenn er darauf keine gute, klare Antwort geben kann. Übrigens ist das auch gar nicht die Situation, in der irgendeine Antwort unverdächtig klingt. Wir machen es darum anders. Wir erklären unsere Absichten am hellen Tage, den wir Gott sei Dank nicht zu scheuen haben, und wir wollen die Billigung erwirken, bevor wir etwas unternehmen, was sonst das verantwortungsschwerste aller Experimente wäre. Denn es handelt sich nicht nur darum, die Leute hinzukriegen, sondern sie auch dort zu behalten. Und zwar in guter Sicherheit.

Leider gibt es viele unserer Brüder, denen es nicht mehr schlechter gehen kann und die darum alles akzeptieren. Aber um den Kranken nur von einer Seite auf die andere zu legen, brauchte nicht so viel Scharfsinn, Mühe und Geld aufgewendet zu werden. Versuchen wir lieber, ihn zu heilen. Das ist ein so großer Zweck, er ist so vernünftig und einleuchtend, daß niemand mehr nach geheimen Beweggründen forschen wird. Warum sollten wir das also nicht gerade heraussagen? Es wird ja dadurch alles mit einem Schlage verständlich, was wir vorhaben. Es gibt kein Misstrauen mehr. Wir betreten den Boden der Verhandlungen, die früher oder später zu einem Ergebnisse führen werden, wenn wir nur einig vorgehen und unsere Kräfte zusammenhalten.

Darum haben wir vor allem den elektrischen Strom unserer Einheit erzeugt und wollen ihn immer noch verstärken. Und es soll niemand einen Teil dieses Stromes abzweigen und ableiten. Es wäre ein Frevel an der Gesamtheit.

Auf diesem Kongresse sind bekanntlich noch nicht alle Zionisten vertreten. Unsere Bewegung ist noch viel größer, als sie hier in die Erscheinung tritt. Eine ansehnliche Gruppe hochverdienter Zionisten der älteren Richtung hängt noch an der vor uns befolgten Methode. Wir geben die Hoffnung nicht auf, sie brüderlich zu unseren Anschauungen zu bekehren. In der Idee trennt uns nichts. Die beste Form der Ausführung müssen wir gemeinsam suchen.

Wieder andere Zionisten, und zwar die an materiellen Mitteln Mächtigsten wären mit uns vollkommen einverstanden, wenn wir nicht das Verfahren der öffentlichen Diskussion wählten. Werden wir aber ein Ergebnis erzielen, so werden sie mit uns sein. Früher brauchen wir sie nicht, dann werden wir sie haben. Es besteht darüber heute kein Zweifel mehr.

Welcher Art soll nun dieses Ergebnis sein? Sagen wir es mit einem Wort: Ein Charter! Unsere Bemühungen sind darauf gerichtet, einen Charter von der türkischen Regierung zu erlangen, einen Charter unter der Souveränität Sr. Majestät des Sultans. Erst wenn, wir im Besitze dieses Charters sind, welcher die nötigen öffentlich-rechtlichen Sicherheiten enthalten muss, können wir eine große praktische Kolonisation beginnen. Für die Gewährung dieses Charters werden wir der türkischen Regierung große Vorteile vermitteln.

Das konnte und kann aber nicht vom Kongresse aus geschehen, der die hierzu erforderliche juristische Persönlichkeit nicht hat. Es musste für diese Abmachungen ein eigener Kontrahent geschaffen werden.

Das ist die Jüdische Kolonialbank. Wenn noch irgend jemand die Frage auf werfen konnte, ob die zionistische Bewegung ein ernst zu nehmender Faktor sei — die hunderttausend Subskribenten der Jüdischen Kolonialbank haben darauf geantwortet. Aus Sibirien, von den Grenzen Chinas, und aus dem südlichsten Argentinien, von Kanada und aus dem Transvaal ist die Antwort gekommen. Die Kolonialbank existiert heute.

Wir alle, die wir unserer Idee mit immer frischer Begeisterung dienen, haben nicht die Gewohnheit, uns der gebrachten Opfer zu berühmen. Indem wir aber dem Kongresse diesen beendigten Teil des Werkes vorlegen, dürfen wir uns einmal das Herz erleichtern und sagen, daß es das bisher schwerste Opfer war, zu dem wir uns entschlossen. Leute, die nie etwas mit Geschäften zu tun gehabt, agitieren für die Gründung einer Bank und setzen sich den kränkendsten Verdächtigungen aus. Es musste sein, wir haben es getan. Heute übergeben wir das Werk dem Kongresse, dem wir die vollständige Aufsicht über die redliche und den zionistischen Zwecken dienende Verwaltung der Bank gesichert haben. Der Kongress wird durch seine jährlich neugewählten Vertreter über das Institut verfügen. Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, daß das Aktienkapital nicht zur Landerwerbung verwendet werden soll. Die Bank ist nur ein Zwischenglied. Auf Grund des erlangten Charters wird erst die eigentliche Landgesellschaft gegründet werden, und zwar selbstverständlich mit einem entsprechend größeren Kapital. Die Beschaffung gerade dieses größeren Erfordernisses kann aber schon heute als gesichert angenommen werden, und wir werden Ihnen darüber zu gelegener Zeit Mitteilungen machen, die jetzt nicht gemacht werden können.

All dies hat scheinbar den Charakter von Vorbereitungen, von zukünftigen Unternehmungen. Es ist aber tatsächlich etwas so Praktisches und Gegenwärtiges wie eine Saat, die man dem Boden anvertraut. Zuerst war es eine Saat von Gedanken, nun ist es eine Saat von Einrichtungen. Es ist heute noch kein Brot, es ist nur das Brot von morgen.

Die Allzusatten mit ihrer vom Wohlleben geschwächten Einbildungskraft wollen uns freilich noch nicht verstehen. Um so besser verstehen uns die Armen und Mühseligen. Sie haben die Phantasie der Not. Sie wissen von heute und gestern, wie weh auch morgen der Hunger tun wird. Und in dieser Lage sind viele, viele Hunderttausende unseres Volkes. Das, aber sind die Verlässlichsten unserer Genossen, die nicht einmal imstande sind, den jährlichen kleinen Beitrag für die Agitation zu leisten. Sie sind die besten Zionisten, weil bei ihnen die alte Volkstradition noch unvergessen ist, weil sie ein starkes religiöses Gefühl haben und weil sie bittere Not leiden. Schrecklich sind die Berichte aus vielen Gegenden. Das Judentum ist eine Massenherberge des Elends mit Filialen in der ganzen Welt. Auch das soll man von dieser Tribüne hören, wie es die traurige Wahrheit ist. Und diese Zustände schreien nach einer Abhilfe. Aus der tiefen Not entstehen Krankheiten und sittliche Verwahrlosung, und die verdüsterten Gemüter werden ein Nährboden für alle äußersten Umsturzgedanken. Da wollen wir bessernd eingreifen. In der gesunden Arbeit auf einer geliebten Erde, glauben wir, ist das Heil zu finden. Die Arbeit soll unserem Volke das morgige Brot verschaffen und auch die Ehre von morgen, die Freiheit von morgen.

An die Gerechten aller Konfessionen und Nationen ergeht unser Ruf um Beistand. Wir brauchen keine andere Hilfe von außen als eine moralische. Es gibt Juden genug, die innerlich mit uns eines Sinnes sind. Nur tragen manche ein Bedenken, das zu zeigen, weil sie fürchten, man würde es ihnen übel auslegen. Wer uns nun die moralische Hilfe leisten will, weil er findet, daß wir etwas Rechtschaffenes unternehmen, der möge in seinem Wirkungskreise verhüten, daß Missverständnisse über unsere Bewegung entstehen und daß man aus diesem Titel wieder neue falsche Beschuldigungen, wie schon so oft, gegen uns erhebe. Diese heilsame Bewegung würde sonst eingeschüchtert werden und geriete vielleicht ins Stocken. Welcher Gerechte will das?

Hier ringt ein Volk um seine Existenz, Ehre und Freiheit. Es will aus einer Stickluft hinaus in den Sonnenschein. Die jetzigen Zustände der Juden können nach drei Wegen führen. Der eine wäre das dumpfe Ertragen von Schimpf und Not. Der andere die Auflehnung, die Feindschaft gegen eine stiefmütterliche Gesellschaft. Unser Weg ist der dritte: aufschwingen wollen wir uns zu einer höheren Stufe der Gesittung, Wohlfahrt verbreiten, dem Verkehre der Völker neue Straßen bauen, und für die soziale Gerechtigkeit einen Durchbruch suchen. Und gleichwie unser lieber Dichter aus seinen Schmerzen Lieder schuf, so bereiten wir aus unseren Leiden einen Fortschritt der Menschheit, der wir dienen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften