Vierte Fortsetzung

Auf Grund des Gesagten kann man nun die südöstliche Grenze des geschlossenen ukrainischen ethnographichen Territoriums bestimmen. Sie folgt dem Flüsschen Kugu-Jeja stromaufwärts bis zu den Quellen, übergeht dann in das Quellgebiet des mittleren Jahorlek, läuft hierauf geradlinig nach Süden bis zu den Quellen des Flusses Jeja und, indem sie weiter längs der Grenze zwischen dem Kubangebiet und dem Gouvernement Stavropil in südöstlicher Richtung verläuft, durchschneidet sie das Flüsschen Kalala, einen linken Nebenfluss des Jahorlek. Von da biegt sie nach Westen um, springt auf den Kubanfluss oberhalb der Bezirksstadt Kavkask über und geht den Kuban stromabwärts bis zur Mündung des Flusses Bila, seines linken Nebenflusses. Dann nimmt sie wieder südliche Richtung, läuft mit den Flüssen Bila und Psisa bis zum Hauptkamm des westlichen Kaukasus, d. h. bis zur Grenze zwischen Kubanien und dem Gouvernement des Schwarzen Meeres. Auf diesem Kamme und auf dieser Grenze kehrt sie in nordwestlicher Richtung um und erreicht westlich von Novorossijsk das Meer. Etwa 120 km östlich des eben umgrenzten ukrainischen Teiles Kubaniens befindet sich eine große ukrainische ethnographische Insel, welche zwei Bezirke des Gouvernements Stavropil, Blahodarne und Svjatohochresta, umfasst und fast 17.400 km 2 Fläche bedeckt. Diese Insel ist vom geschlossenen ukrainischen Territorium durch den Bezirk Labinsk des Kubahgebietes und durch die Bezirke Stavropil und Medvizensk des Gouvernements Stavropil getrennt, in denen nach der Volkszählung von 1897 die Ukrainer die Minderheit der Bevölkerung bilden. Sie er streckt sich vom Fluss Kalaus zu beiden Seiten des Flüsschens Bujvol, eines linken Nebenflusses der Kuma, bis über Kuma hinaus. Sonst haben sich die Ukrainer noch in größeren oder kleineren Gruppen auch in anderen Teilen des Kaukasusgebietes angesiedelt. Am meisten sind ihrer in den an rein ukrainische grenzenden Bezirken des Kubangebietes und des 11 Gouvernements Stavropil im Kubangebiet. Bezirke: Majkop 31,3% (gegen 58,2 Großrussen), Baltapasynsk 27,1% (Großrussen 42,3%) und Labinsk 18,9%; im Stavropilscken — Bezirke Medvizensk 45,5% (Großrussen 53,2%), Oleksandrivsk 38,3% (Großrussen 56,4%) und Stavropil 10,3%. In den sogenannten Gebieten der Nomadenvölker im östlichen Teile des Gouvernements Stavropil hat die Volkszählung 5,5% Ukrainer und 6,3% Großrussen ausgewiesen. Im Cornomorje (Schwarzen Meergebiet) gibt es 16,1% Ukrainer, 42,8% Großrussen, am meisten im Bezirk Tuapse 24% gegen 31% Großrussen, Im Terekgebiet finden wir eine nennenswerte ukrainische Kolonisation im Bezirk Pjatihorsk (13,8%). In Transkaukasien gibt es wenig Ukrainer, am meisten noch im Bezirk Karsk des gleichnamigen Gouvernements: 2,5% gegen 12,7% Großrussen. Insgesamt lebten jenseits der Grenzen des geschlossenen ukrainischen Territoriums (die ethnographische Insel im Stavropilschen mit eingerechnet) im ganzen Kaukasusgebiet im Jahre 1897 mehr als 470.000 Ukrainer.

Die südliche Grenze des geschlossenen ukrainischen Territoriums umfasst die Ufer des Azovschen Meeres von der Enge von Kerc bis zum Isthmus von Perekop. Von den acht Bezirken des Gouvernements Taurien haben bloß drei: Berdjansk, Dniprovsk und Melitopil eine ukrainische Mehrheit. Die fünf südlichen Bezirke und die zwei Stadthauptmannschaften, welche auf der Halbinsel Krim selbst liegen, zeigen nach der Volkszählung von 1897 nur größere oder kleinere ukrainische Minderheiten unter der großrussisch tatarischen Bevölkerung. Zwei von ihnen, welche näher dem Festlande gelegen sind, haben ein großes Gemisch von Völkern, unter denen die Ukrainer eine ziemlich bedeutende Stelle einnehmen; im Bezirk Eupatoria übertreffen die Ukrainer die Großrussen (21,1% gegen 17,8%), aber die relative Mehrheit gehört den Tataren (42,6%); im Bezirk Perekop sind sogar vier Völker ziemlich gleichmäßig vertreten (Tataren 23,7%, Großrussen 23,2%, Deutsche 22,8% und Ukrainer 22%); allerdings haben auch hier die Tataren eine, wenn auch nur sehr geringe Mehrheit. Daher wird man die ukrainische ethnographische Grenze quer durch den Isthmus von Perekop führen, wobei 65.000 krimsche Ukrainer außerhalb derselben bleiben. Die weitere südliche Grenze der Ukraine bildet das Schwarze Meer. Freilich wies der Bezirk Odessa des Gouvernements Cherson bei der Volkszählung eine relative großrussische Mehrheit auf (37,7% gegen 21,9% Ukrainer), jedoch nur infolge des Übergewichtes der Großstadt Odessa, wo zwei Drittel der Bevölkerung des ganzen Bezirkes zusammengedrängt sind; auf den Dörfern haben die Ukrainer die Mehrheit. Daher sind wir, wie wir es schon mit dem Bezirk Rostov des Dongebietes getan haben, und aus eben denselben Gründen, berechtigt, ihn dem ukrainischen Territorium zuzuzählen. Zur ethnographischen Ukraine gehören auch zwei Bezirke des Gouvernements Bessarabien: einer im Süden, Akerman, der andere im Norden, Chotin. Im Bezirk Akerman, wo wir ein großes Völkergemisch finden, haben die Ukrainer die relative Mehrheit, 26,7% (neben ihnen leben 21,3% Bulgaren, 16,4% Rumänen, 16 3% Deutsche, 9,7% Großrussen u.a.); im Bezirk Chotin verfügen sie über die absolute Mehrheit, 53,3%. Darüber hinaus finden wir eine ansehnlichere ukrainische Kolonisation in den Bezirken Ismail (19,6%), Soroka (16,3%), Belce (11,4%) und Bendery (10,8%). Die Grenze der ethnographischen Ukraine geht also längs des Schwarzen Meeres über den Dnisterliman hinaus bis zur Mündung des Flüsschens Ikala, von hier geradlinig nach Westen bis zum nördlichen Ende des Sees Jalpuch, unterwegs die obere Spitze der Seen Kunduk und Kitaj berührend. Nachdem sie 25 km stromaufwärts des Flüsschens Jalpuch gegangen ist, biegt sie in nordöstlicher Richtung ab, zunächst längs des Flüßchens Lunga, eines lin ken Nebenflusses des Jalpuch, verlaufend, dann durchschnei det sie den Fluß Kunduk in der Nähe der deutschen Ansied lung Leipzig und erreicht den Dnister unterhalb Tiraspil. Von da an hält sie sich an den Dnister bis über Mohyliv Podolskyj hinaus und geht dann, an dem Eisenbahnknoten punkt Oknica vorbei, zum Pruth über (bei Karpac). Mit dem Pruth erreicht sie die österreichische Grenze bei Novoselica. Außerhalb dieser ukrainischen ethnographischen Grenze lebten in Bessarabien im Jahre 1897 145.163 Ukranier.


Bei Novoselica betritt die südliche Grenze des ukrainischen ethnographischen Territoriums das Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Erforschung der ethnographischen Verhältnisse in Österreich-Ungarn wird bedeutend erleichtert dadurch, dass wir hier ein verhältnismäßig reiches statistisches Material zur Verfügung haben. Die ethnographische Statistik wird hier schon seit langem geführt und seit 1880 wird regelmäßig alle zehn Jahre eine allgemeine Volkszählung vorgenommen; die statistischen Veröffentlichungen bieten Angaben über die ethnographische Zusammensetzung der Bevölkerung nicht nur nach politischen und Gerichtsbezirken, welche der Fläche nach bedeutend kleiner als die russischen Bezirke sind, sondern auch nach einzelnen Gemeinden, ja sogar Teilen der Gemeinden, Dörfern und Attinenzen. Daher haben wir auch die Möglichkeit, ganz genaue ethnographische Grenzen zu ziehen mit voller Berücksichtigung aller ukrainischen und fremden Enklaven. Doch andererseits muss man bemerken, dass auch in Österreich-Ungarn, und zwar stellenweise sogar in höherem Grade als in Russland, die Angaben nicht immer zuverlässig sind und nicht überall die tatsächlichen Verhältnisse wiedergeben. Seitdem der nationale Streit entbrannt ist, besonders aber seitdem die Bevölkerungszahl der einzelnen Nationen ein gewichtiges Argument bei den Forderungen nach Befriedigung kultureller Bedürfnisse und Zuerkennung politischer Rechte geworden ist, hat bei der nationalen Volkszählung eine leidenschaftliche Agitation platzgegriffen, haben sich da grobe Vergewaltigungen und Betrügereien eingeschlichen. Die Durchführung der Volkszählung liegt in den Händen der politischen Macht, daher haben auch auf ihr Ergebnis einen entscheidenden Einfluss die „Mächtigen dieser Welt“, die herrschenden Völker. Da aber das ukrainische Volk auch in Österreich-Ungarn nicht zu den herrschenden gehört, so wird — besonders in seinen ethnographischen Grenz gebieten und in den Städten — seine Zahl immer mehr zugeschnitten. Selbstverständlich geschieht dies nur fiktiv auf dem Papier; denn in Wirklichkeit geht glücklicherweise weder die Polonisierung, noch die Magyarisierung, noch die Romanisierung der ukrainischen Bevölkerung so rasch vor sich, wie sich dies aus den statistischen Daten ergeben würde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine