Fünfte Fortsetzung

Sehen wir uns zunächst einmal die Sache in der Bukowina genauer an, die wir zuletzt betreten haben. Hier kann man in einzelnen Fällen die Fälschung der Wahrheit sozusagen handgreiflich nachweisen, besonders dort, wo sie geradezu gewaltsam und unverschämt ist. So z. B. hat im Dorfe Cahor, Bezirk Czernowitz, die Volkszählung von 1890 auf 2.070 Seelen 1.070 (51,7%) Ukrainer und 916 (43,6%) Rumänen ausgewiesen und die Volkszählung von 1900 auf 2.328 Seelen 1.086 Ukrainer und 1.099 Rumänen, also beide Völker i in ungefähr gleicher Zahl; im Jahre 1910 hingegen wurden auf 2.496 Seelen schon nur mehr 786 (31,5%) Ukrainer und 1.540 (61,7%) Rumänen eingetragen. Der mit den Verhältnissen nicht vertraute Fremde müsste da glauben, dass im Verlauf des letzten Jahrzehnts in Cahor eine regelrechte Völkerwanderung stattgefunden hat: eine massenhafte Auswanderung der Ukrainer und ein riesiger Zustrom der Rumänen. Wir, die wir die Verhältnisse in jenem Dorfe durch Augenschein kennen, können versichern, dass nichts dergleichen dort geschehen ist, dass dieselbe Bevölkerung, dieselben Familien, welche dort im Jahre 1890 und 1900 lebten, auch im Jahre 1910 geblieben sind, dass sich hingegen eines geändert hat, nämlich die Zuverlässigkeit der volkszählenden Behörde, die ohne viel Umstände die Wahrheit gefälscht hat. Noch greller tritt dies in Ober-Milesivci im Bezirk Radautz zutage, wo im Jahre 1890 1697 Ukrainer und 566 Rumänen verzeichnet wurden, im Jahre 1900 2.246 Ukrainer und 168 Rumänen und im Jahre 1910 457 Ukrainer und 2.096 Rumänen. Am rücksichtslosesten sind die Volkszählungskommissionen im Suczawer Bezirk verfahren, wo mit einem Federstrich eine ganze Reihe rein ukrainischer Dörfer in rumänische verwandelt wurden. So z. B. hatte Mereceji im Jahre 1890: 1.452 Ukrainer und 16 Rumänen, 1900: 1.500 Ukrainer und 6 Rumänen und 1910: 447 Ukrainer und 1.217 Rumänen; Danila im Jahre 1890: 564 Ukrainer und 100 Rumänen, 1900: 543 Ukrainer und 290 Rumänen, 1910: 1 Ukrainer und 866 Rumänen; Ipotesti im Jahre 1890: 1.491 Ukrainer und 10 Rumänen, 1900: 1.552 Ukrainer und 51 Rumänen, 1910: 143 Ukrainer und 1.637 Rumänen u. ä. Selbstverständlich kann man mit diesen Angaben aus dem Jahre 1910, welche so offenkundig allen früheren Angaben und der Wirklichkeit widersprechen, nicht ernst rechnen und daher können wir jene Dörfer mit vollem Recht dem ukrainischen Sprachgebiet zuzählen. Eine solche Korrektur ist aber nur bei den krassesten Fällen von Missbrauch bei der Volkszählung möglich. Wo die Volkszählungsbeamten weniger unverschämt in der Fälschung waren, dort ist es schwer, die Wahrheit vom Gegenteil zu unterscheiden. Die Statistik der Glaubensbekenntnisse kann hier kein Korrektiv der nationalen Statistik bilden, wie z. B. in Galizien, da sowohl die Ukrainer als auch die Rumänen in der Bukowina zu derselben griechisch-orientalischen Kirche gehören. Daher geben wir zum Zwecke vergleichender Beurteilung in unseren Tabellen das Ergebnis der zwei letzten Volkszählungen an und bemerken, dass die von uns errechnete Zahl der Ukrainer nur als ein Minimum und nicht als Tatsache anzusehen ist.

Eine zweite Eigenheit der österreichisch-ungarischen nationalen Statistik ist die, dass sie die jüdische Nationalität nicht anerkennt und sie auf die anderen aufteilt, wobei der Hauptanteil auf die herrschenden Völker entfällt. In der Bukowina werden die Juden zu den Deutschen gezählt. Im Jahre 1900 gab es da 93.015 Juden: davon wurden 91.907 als Deutsche, 491 als Ukrainer, 446 als Rumänen und 171 als Polen gezählt. Bei der Volkszählung von 1910 verlangten die jüdischen Nationalisten (Zionisten) die Anerkennung einer eigenen jüdischen Nationalität und, als die Regierung dies ablehnte, begannen sie sich absichtlich als Ukrainer, Rumänen, Polen einzutragen, wodurch die Zahl der nicht deutschen Juden etwas zugenommen hat. Auf insgesamt 100.071 Juden bekannten sich damals zu den Deutschen 95.706, zu den Ukrainern 2.102, zu den Rumänen 1.086, zu den Polen 1.187. Wir scheiden die Juden in eine eigene Gruppe aus, nicht nur deshalb, um die statistischen Angaben auf österreichisch-ungarischem Gebiet auf die gleiche Basis mit den Angaben der russischen Statistik zu bringen, sondern auch mit Rücksicht auf die prinzipielle Seite der Sache und die tatsächlichen Verhältnisse. Aus eben demselben Grunde scheiden wir die Lipowaner aus der Rubrik „Ukrainer“ aus, wohin sie durch die offizielle Volkszählung einbezogen sind, und rechnen sie zu den Großrussen, die sie ja tatsächlich sind.


Die ethnographische Zusammensetzung der Bevölkerung Bukowinas ist ziemlich bunt, denn außer den schon genannten Völkern leben da noch Deutsche und Magyaren. Dazu sind sie noch untereinander stark vermischt. Die ukrainischen Ansiedlungen reichen bis Suczawa, die rumänischen bis zu den Toren von Czernowitz. Die einen greifen in die anderen über, wodurch sich ethnographische Inseln bilden. Die größte ukrainische Insel liegt an der Grenze des Radautzer, Serether und Suczawer Bezirkes; und da sie von dem rein ukrainischen Gebiet nur durch einen schmalen, aus zwei Dörfern bestehenden rumänischen Keil abgetrennt ist, lässt sie sich unschwer mit dem Hauptkörper vereinigen. Andere kleinere und entferntere ukrainische Inseln, wie Ostra und Dzemine im Kimpolunger, Kacyka und Glit im Gurahumorer Bezirk, lassen wir beiseite, um die Sache nicht zu verwickeln, umso mehr, als die Auffindung ethnographischer Splitter und Inseln über den Rahmen unserer Aufgabe hinausginge. Nach Überschreitung der österreichisch-ungarischen Reichsgrenze bei Novoselica biegt die südliche Grenze des ukrainischen ethnographischen Territoriums in einem kleinen Bogen nördlich des Pruth ab, durchschneidet den Pruth knapp vor Czernowitz und windet sich in krummer Linie auf dem Südufer des Pruth wieder gegen Osten zur rumänischen Grenze. Von hier ziehen sich längs der rumänisch-österreichischen Grenze die ukrainischen Ansiedlungen in schmalen Streifen bis an den Suczawafluss und greifen bei Ober-Milesivci sogar auf dessen rechtes Ufer über. Von hier springt die ethnographische Grenze plötzlich wieder nach Norden um bis zur Wasserscheide zwischen Pruth und Sereth. Hier beim Dorfe Kabivci biegt sie gleich wieder nach Süden ab, durch schneidet den großen Sereth oberhalb Storozynec, den kleinen Sereth unterhalb Mold.-Banilla und läuft mit den Bergkämmen fast geradlinig nach Süden in der Richtung auf Kimpolung. Auf der Wasserscheide zwischen der Moldavica und Moldava wendet sie sich beim Berge Pausa nach Südwesten, durchschneidet die Moldavä unterhalb Brjaza und erreicht unterhalb Ivirlibaba die Goldene Bistriz, die hier die Grenze gegen Ungarn bildet. Außerhalb der Grenzen des hier bezeichneten ukrainischen Territoriums, in den drei ethnographischen Inseln und vermischt mit anderen Völkern lebten in der Bukowina im Jahre 1900: 16.740 Ukrainer; die Volkszählung von 1910 weist ihrer nur mehr 11.134 aus.

Es mit magyarischen statistischen Veröffentlichungen zu tun zu haben, gehört durchaus nicht zu den großen Annehmlichkeiten. Wir übergehen die Schwierigkeiten der magyarischen Sprache, aber selbst für einen Kenner derselben ist die Benützung der statistischen Ausweise mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Die ungarische Regierung beseitigt mit einem Eifer, der einer besseren Sache wert wäre, die ursprünglichen Ortsbenennungen, welche von der einheimischen Bevölkerung gebraucht werden, und ersetzt sie durch willkürliche magyarische, die den ursprünglichen durchaus unähnlich sind. So z. B. wurde das Dorf Ploske offiziell Dombostelek benannt, Nelypyna — Harsfalva, Dovhe — Hosszümezö usw., ohne dass die ukrainische Benennung wenigstens in Klammern angegeben wäre. Doch das ist noch nicht alles. Wie absichtlich — um eine noch größere Verwirrung hervorzurufen — gefällt sich die ungarische Regierung darin, die schon einmal aufgezwungenen Namen noch öfters zu ändern. Ebendasselbe Dorf, das bei der einen Volkszählung unter dem einen Namen angeführt ist, erscheint bei der nächsten Volkszählung unter einem ganz anderen, wobei nicht der geringste Hinweis oder eine Anmerkung uns den früheren Namen verrät. So heißt z. B. das Dorf Solocyn im Jahre 1900 Solocsina,, im Jahre 1910 bereits Kirälyfiszällas; Zvirska Huta im Jahre 1900 Izvorhuta, im Jahre 1910 Forräs; Linci im Jahre 1900 Inglicz, im Jahre 1910 Unggesztenyes; Cholmec im Jahre 1900 Putkahelmecz, im Jahre 1910 Korläthelmeez usw.; man könnte Dutzende von Beispielen anführen. Wenn man dazu noch die häufigen administrativen Veränderungen nimmt: die Teilung größerer Bezirke in zwei kleinere, die Änderungen in der Abgrenzung benachbarter Bezirke, die Vereinigung verschiedener Dörfer zu Gemeinden, so ist es leicht verständlich, dass jegliche Erforschung der Entwicklung ethnographischer Verhältnisse, jede Vergleichung der Ergebnisse zweier aufeinanderfolgender Volkszählungen den Forscher in ein Chaos führt, in dem man sich erst nach ungeheurem Aufwand an Zeit und Mühe zurechtfinden kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine