Zweite Fortsetzung

Im Mittelalter war der Wucher von der Kirche auf das Strengste verpönt. Unter Wucher verstand man aber nicht, was man heute darunter versteht, das Nehmen ungewöhnlich hohen Zinses, sondern Zinseinnahmen überhaupt. Zinsen zu nehmen war also verboten; es war unchristlich. Nach kirchlicher Auffassung tat der Schuldner seine Pflicht, wenn er allmählich das Kapital im Zins zurückzahlte. Das Zinsverbot steht aber mit der Natur des Kapitals im schroffsten Widerspruch, und so hatte das Verbot wenig Wirkung, so große Mühe sich auch in dieser Beziehung geistliche und weltliche Herren gaben. Als aber die Kirche schließlich selbst in den Besitz großer Güter und Geldmittel kam und begann, für Verpachtung und Ausleihung Pacht und Zins zu fordern, trat sie selbst in die Reihen derer, die Wucher trieben. Sie handelte also gegen ihre eigenen Gebote. Sie verbot jetzt nicht mehr das Zinszahlen an sich, sondern sie ließ es zu, das ein Maximalsatz für Zinsen festgesetzt wurde. Es sollte über einen bestimmten Prozentsatz hinaus niemand Zinsen nehmen, erst dann wurde der Übertreter straffällig. Diese damals eingeführten Zinsbeschränkungen haben bis in die neueste Zeit bestanden. Erst im Jahre 1868 wurde im Norddeutschen Reichstage ein Antrag auf Aufhebung derselben gestellt und angenommen und heute sind es die Antisemiten, die von neuem die Forderung aufstellen, die alten Zinsbeschränkungen wieder einzuführen und damit dem sogenannten Wuchertum entgegenzutreten. Im Mittelalter erließen z. B. die Kaiser mehrfach Verordnungen, nach denen z. B. der Christ sich mit 6 Prozent Zins begnügen müsse, während dem Juden gestattet wurde, bis 12 Prozent zu nehmen. Dementsprechend wurde das Schutzgeld der Juden festgesetzt. Die christlichen Kaiser begünstigten also damit selbst den Wucher der Juden.

Um diesen historischen Teil meiner Schilderungen, so weit er das Mittelalter betrifft, abzuschließen, sei angeführt, das damals in der Hauptsache die Juden unter folgenden Ausnahmebestimmungen, die vielfach bis in die Neuzeit Geltung hatten, zu leben hatten:


1. Sie durften keinen Grundbesitz erwerben noch besitzen. Sie waren also zu einer Zeit, in welcher der Besitz von Grund und Boden das hauptsächlichste Produktionsmittel war, von diesem ausgeschlossen.
2. Sie durften kein Handwerk betreiben; es verblieb ihnen also nur der Handel als Feld ihrer Tätigkeit.
3. Sie waren für unfähig erklärt zur Ausübung politischer Rechte.
4. Sie waren mit besonderen Abgaben belastet.
5. Es bestand für sie der Zwang, in bestimmten Stadtteilen oder Dörfern zu wohnen – das bekannte Ghetto, wie es bis vor wenigen Jahrzehnten noch im christlichen Rom, der Hauptstadt des päpstlichen Kirchenstaates, bestand.
6. Sie waren gezwungen, äußere Kennzeichen zu tragen, die charakteristische Nase genügte nicht. (Heiterkeit.) Sie mussten besondere Kennzeichen an ihren Kleidern anbringen, damit man sie schon von weitem als Juden erkennen konnte,
7. Sie durften keine Christen ehelichen. Der Jude war also, wenn er nicht Christ werden wollte, gezwungen, innerhalb des Judentums zu bleiben. Eine Annäherung an die christliche Welt ohne Glaubenswechsel war unmöglich.
8. Christen durften bei Strafe keine jüdischen Ärzte nehmen – und gerade auf dem medizinischen Gebiete haben Juden von jeher Ausgezeichnetes geleistet.
9. Christlichen Hebammen war es verboten, jüdischen Wöchnerinnen Beistand zu leisten. Allen diesen Bestimmungen lag also das Bestreben zugrunde, die Juden als Juden abgeschlossen von der ganzen übrigen Welt zu erhalten. Es wurde ihnen also schon von Staats wegen das Stigma als Geächtete aufgedrückt, das die Bevölkerung nur zu leicht geneigt war, ihnen aufzudrücken.

Diese Beschränkungen haben, hier und dort verschieden, im Wesentlichen übereinstimmend bestanden bis in die neueste Zeit. So wurde erst 1812 in Preußen infolge der neuen Ära Stein-Hardenberg-Scharnhorst, die nach den Niederlagen Preußens von 1806/7 sich Bahn brach, eine Verordnung erlassen, die bestimmte, dass von jetzt ab die Juden zugelassen werden sollten a( zur Ausübung bürgerlicher Gewerbe, b) zum höheren Lehramt, c) zur Ausübung des Kriegsdienstes mit dem Anspruch auf Beförderung. Auch wurde ihre Zulassung zum Landbau und Grunderwerb und die Aufhebung der besonderen Juden-Abgaben ausgesprochen. Aber obgleich diese Verordnung Gesetzeskraft erlangte, war der tatsächliche Zustand der Juden noch nach Jahrzehnten kein anderer. 1833 sah sich die preußische Regierung veranlasst, bei den Provinzial-Ständen anzufragen, welche Wirkung der Erlass von 1812 auf die Stellung der Juden gehabt habe. Aus den Gutachten, die damals bei der Zentralstelle in Berlin aus den acht alten Provinzen eingingen, ist zu ersehen, das darin die Stände übereinstimmten, dass trotz der Verordnung in der Stellung der Juden seit 1812 keine wesentliche Veränderung eingetreten war. Gleichzeitig sprachen sich die Provinzialvertretungen gemäß ihrem durchaus konservativen Charakter im wesentlichen übereinstimmend für die Einführung neuer Beschränkungen aus. Man verlangte unter anderem, das die Juden nicht zum Hausierhandel zugelassen würden; dass sie keine christlichen Dienstboten beschäftigen dürften: dass ihnen die Niederlassung aufs äußerste erschwert und insbesondere das Verbot der Erwerbung von Häusern und Landbesitz aufs neue auferlegt werden müsste, desgleichen das Verbot, Ehrenämter zu bekleiden. Einzelne Stände verlangten, dass ihnen die Erwerbung des Staats- und Gemeindebürgerrechts überhaupt verweigert werde. Auch sollte ihnen die Ausübung des Gastwirts- und Schankgewerbes verboten werden, beziehentlich es sollte sich diese Ausübung auf die eigenen Glaubensgenossen beschränkt bleiben. Charakteristisch für die damalige Verhältnisse ist, dass in Berlin in den 22 Jahren, von 1812 bis 1833, kein einziger Jude in der Stadtvertretung oder im Stadtrat saß, ein Zustand, den bekanntlich unsere Antisemiten auch heute noch als ihr Ideal ansehen. Aber damit waren die Versuche, die Juden unter neue Ausnahmebestimmungen zu bringen, keineswegs erschöpft. Zwar hatte das Jahr 1848, das in ganz Deutschland große Umwälzungen hervorbrachte, auch große Verbesserungen für die Juden in Bezug auf ihre soziale und politische Stellung im Gefolge. Es war auch natürlich, dass nicht allein an den Reformbestrebungen, sondern auch in den Revolutionsjahren jüdische Schriftsteller und Juden überhaupt sich hervorragend an der Bewegung beteiligten. Das ging aus der unterdrückten Stellung, die sie als Juden, als unterdrückte Rasse im Staat einnahmen, hervor. Kaum war aber die Revolution niedergeschlagen und waren die konservativen Mächte wieder im Besitz der Gewalt, so wurde auch bereits 1851 im preußischen Herrenhause der Antrag gestellt, den Artikel 12 der Verfassung, der die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährleistete und den Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis unabhängig erklärte, in der Art abzuändern, dass die Mitgliedschaft in einer der beiden Kammern, sowie der Zutritt zu den richterlichen und zu allen mit exekutiver Gewalt bekleideten Ämtern, auch wenn es Ehrenämter seien, nur den Angehörigen einer der anerkannten christlichen Kirchen zustehen solle. Ein solcher Antrag wurde in der preußischen ersten Kammer zu einer Zeit gestellt und verhandelt, in der das eigentliche Haupt der Feudalpartei, Stahl, ein Mann war, der selbst aus dem Judentum stammte, nur hatte er sich taufen lassen. (Heiterkeit.) Der Antrag fand aber nicht einmal im Herrenhause Zustimmung, er fiel ins Wasser. Schließlich sind durch die soziale und gewerblich Gesetzgebung, die nach der Begründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches ins Leben trat, alle damals noch vorhandenen Beschränkungen der Juden aufgehoben worden. So wurden z. B. noch in den fünfziger Jahren im Königreich Sachsen Juden nur in Dresden und Leipzig geduldet, im übrigen Lande zu wohnen, war ihnen verboten. Die Verfolgung und Unterdrückung der Juden durch Ausnahmegesetze hat also bis in unsere Zeit gewährt. Wenn aber alle die Unterdrückungsmaßregeln, die, wie erwähnt, in abwechselnder Gestalt durch fast anderthalb Jahrtausende dauerten, nicht erreichten, was sie erreichen sollten, so müsste dies allein schon für die Judenfeinde ein Beweis sein, dass ihre Bestrebungen nicht durchführbar sind, auch dann nicht durchzuführen sind, wenn sie selbst einmal, woran gar nicht zu denken ist, zur Macht gelangen sollten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratie und Antisemitismus