Sozialdemokratie und Antisemitismus

Rede auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Berlin Mit zwei Nachträgen. Zweite durchgesehene Auflage
Autor: Bebel, August (1840-1913) sozialistischer deutscher Politiker und Publizist. Einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie und eine ihrer herausragenden historischen Persönlichkeiten, Erscheinungsjahr: 1906

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Antisemitismus, Sozialdemokratie, Juden, Demokraten, Antisemiten, Judenfrage, Wucher, Geldjudentum, Judenhass, Sozialdemokraten, Christen, Mittelalter, Judenverfolgung, Kapitalisten, Kapitalismus, Demagogen, Bauern, Handwerker, Gewerbetreibenden, Industrie, Konkurrent, Mahnung, Judenemanzipation,
Unter dem Titel „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ hielt August Bebel am 27. Oktober 1893 auf dem Kölner Parteitag der Sozialdemokratischen Partei ein Grundsatzreferat zur Stellung der Partei dem Antisemitismus gegenüber. Der Parteitag nahm bei dieser Gelegenheit eine Resolution zum Thema an, die schon auf dem vorherigen Parteitag 1892 in ähnlicher Form verabschiedet worden war. Auf Wunsch verschiedener Delegierter wurde die Rede August Bebels in überarbeiteter Form als Broschüre herausgebracht.

Das Referat stellt die erste offizielle Auseinandersetzung der Sozialdemokraten mit dem seit Mitte der 1870er Jahre wachsenden Antisemitismus dar. Bebel nennt als einen Grund für sein Referat, „dass über die Bedeutung dieser Bewegung in unseren eigenen Kreisen eine gewisse Unklarheit herrscht.“ Er sucht den Antisemitismus aus religiösen, ökonomischen und sozialen sowie rassischen Gründen zu erklären. Auch wenn die Antisemiten reaktionäre Ziele verfolgten, so würden sie zum Sozialismus gedrängt und so wider Willen zu Wegbereitern der Sozialdemokratie.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Antisemitismus_und_Sozialdemokratie
Parteigenossen! Als der Parteivorstand auf die Tagesordnung des damals in Aussicht stehenden Parteitages in Berlin das Thema „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ setzte, war es insbesondere die antisemitische Presse, die von dieser Tatsache mit Genugtuung Kenntnis nahm. Sie wies darauf hin, dass der Umstand, dass auch die Sozialdemokratie sich nunmehr auf ihrem Parteitage offiziell mit dieser Frage beschäftige, beweise, was für einen große Bedeutung die antisemitische Partei und Bewegung in Deutschland erlangt habe.

Gewiss hat die antisemitische Bewegung in Deutschland eine gewisse Bedeutung erlangen müssen, ehe die Sozialdemokratie sich entschließen konnte, dazu Stellung zu nehmen. Wenn aber die Herren Antisemiten mit der Stellungnahme zu dieser Frage bereits im voraus die Meinung bekunden, dass wir dieser Bewegung eine besondere Beachtung schenken, dann dürften sie, und ich hoffe, die heutige Verhandlung wird das beweisen, sich darin geirrt haben. Indem wir diese Frage auf die Tagesordnung setzen, haben wir getan, was wir gegenüber allen neuen Erscheinungen, die auf sozialpolitischem und ökonomischem Gebiete hervortreten und die eine gewisse Bedeutung erlangen, als sozialdemokratische Partei tun müssen. Keine Partei hat weniger als die sozialdemokratische versucht, die Augen zu schließen vor den Dingen, die in die Öffentlichkeit treten; sie hat im Gegenteil zu allen Zeiten, und wird dies auch ferner tun, es für ihre Pflicht und Aufgabe gehalten, an Vorkommnisse, die für das öffentliche Leben eine gewisse Berücksichtigung verdienen, ihre Kritik anzulegen und sie auf ihren Wert zu prüfen.

Wenn nun die Partei sich mit der Frage „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ beschäftigt, so geschieht das noch einem besonderen Grunde. Doch ich muss vorher eine kleine Erläuterung hier geben. Ich sprach von einer neuen Erscheinung, die der Antisemitismus sei. Das ist richtig und nicht richtig. Versteht man unter Antisemitismus Bestrebungen, die darauf hinausgehen, in Judenfeindschaft zu machen, deren Endziel es ist, die Juden zu vernichten, mindestens sie aus dem Lande zu treiben oder in ihrem sozialen Dasein aufzuheben, dann besteht der Antisemitismus seit mehr als anderthalb tausend Jahren. Was wir aber heute unter Antisemitismus verstehen, ist in der Tat eine neue Erscheinung insofern, als die gegen das Judentum als solches gerichteten feindseligen Bestrebungen sich in einer bestimmten politischen Partei verkörpert haben, die am öffentlichen Leben sich beteiligt und deshalb von allen anderen Parteien beachtet werden muss. Dazu kommt noch, und das ist der besondere Grund, warum wir uns mit dieser Frage beschäftigen, dass über die Bedeutung dieser Bewegung innerhalb unserer eigenen Reihen eine gewisse Unklarheit herrscht. Ich habe vor wenigen Tagen, als ich in einer Berliner Parteiversammlung das Referat über die Tagesordnung des hier versammelten Parteitages zu halten hatte, auch auf den uns jetzt beschäftigenden Punkt die Aufmerksamkeit gelenkt und einige Bemerkungen dazu gemacht. In der Debatte, die sich daran knüpfte – es war im VI. Berliner Wahlkreis – trat nun ein Genosse auf, der meinte, man lege dem Antisemitismus einem zu großen Wert bei, er sei in Wahrheit nichts anderes als ein Produkt von Schlagworten. Der Beifall, den jene Ausführungen seitens eines Teiles der Versammlung fanden, die sehr stark besucht war, bewies mir, dass ein gar nicht unbeachtenswerter Teil der Genossen über die Bedeutung dieser Frage im unklaren ist, dass also schon aus diesem Grunde eine offizielle Erörterung, wie wir sie heute vornehmen, eine Notwendigkeit ist. Wäre der Antisemitismus wirklich nur das Produkt von Schlagworten, die ausschließliche Wirkung der Tätigkeit gewisser Agitatoren, dann hätten wir uns nicht mit ihm zu beschäftigen (Zustimmung); und wäre alsdann auch die Bewegung, wie sie tatsächlich vorhanden ist, undenkbar. (Sehr richtig!) Den Antisemitismus mit solchen Urteilen abfertigen zu wollen, steht genau auf derselben Stufe, von der unsere Gegner jahrzehntelang glaubten uns abfertigen zu können. (Sehr richtig!) Da hieß es auch: Die Sozialdemokratie ist nur sein Produkt der agitatorischen Tätigkeit gewisser Leute; kann man diese mundtot machen, dann ist auch die Sozialdemokratie von der Bildfläche verschwunden. Lange genug haben sich unsere Feinde mit dem Glauben getragen, die Sozialdemokratie sei ein vorübergehendes Gebilde oder, wie sie seitdem von einer sehr hohen Stelle bezeichnet wurde, „eine vorübergehende Erscheinung“, bis unsere Gegner endlich, durch die steigende Anhängerschaft und die Ausbreitung unserer Partei und durch ihre sonstigen Erfahrungen belehrt, begriffen, dass ihre Auffassung eine Total irrige war. Und in der Tat, Parteigenossen, treten irgendwo Bestrebungen auf, die allerdings zuerst durch Agitatoren angeregt, größeren Widerhall in den Massen finden, so darf man nicht darüber hinweggehen als über etwas, das ohne Bedeutung sei. Ob vorhandene sich geltend machende Bestrebungen uns gefallen oder missfallen, muss uns, objektiv betrachtet, gleichgültig sein; wir haben zu untersuchen, was die Ursachen sind, die dieselben ins Leben riefen und zur Entfaltung brachten. Haben wir uns mit dieser Frage beschäftigt und dabei erkannt, dass die uns beschäftigende Erscheinung zu beseitigen ist, so haben wir die Mittel zu untersuchen, mit deren Hilfe sie beseitigt werden kann.

Was das letztere betrifft, so ist unser Standpunkt der antisemitischen Bewegung gegenüber ein anderer, als unserer eigenen Bewegung gegenüber. Wir können im voraus erklären, die antisemitische Bewegung wird und muss für immer verschwinden, ohne dass sie eine Spur ihrer Wirksamkeit hinterlässt, in dem Augenblick, wo ihre Ursachen beseitigt werden. Diese werden aber nicht durch den Antisemitismus beseitigt, sondern durch den Sozialismus, indem dieser allein die sozialen Übel aus der Welt schafft, welche die antisemitische Bewegung hervorriefen. (Sehr richtig!)

Ich hatte ausgeführt, dass der Antisemitismus im Sinne des Judenhasses, im Sinne der Feindseligkeit gegen die Juden eine sehr alte Erscheinung in der Geschichte ist. Von dem Augenblicke an, in dem das alte jüdische Reich vernichtet, Jerusalem zerstört war und die wenigen Millionen zählende Bevölkerung auseinandergesprengt und zum Teil zur Auswanderung gezwungen wurde; sobald also die Juden sich über die bekannten Länder der alten Kulturwelt verbreiteten, hat auch eine gewisse antisemitische Strömungen Platz gegriffen. Wir lesen schon in den Annalen des Tacitus, dass dieser römische Schriftsteller sich in der feindseligsten Weise über die Juden äußert. Und wenn seitdem, mit kurzen Unterbrechungen, bis auf den heutigen Tag in der Geschichte immer wieder dieselben Strömungen gegen die Juden zutage treten, so muss dies einen tieferen Grund haben, über den man nicht einfach hinweggehen kann.

Die Juden waren in ihrem Heimatlande bis zu ihrer Vernichtung als selbständiges Volk im wesentlichen ein ackerbau- und gewerbetreibendes Volk. Der Ackerbau bildete die Hauptgrundlage ihrer Existenz, daneben hatte sich in den wenigen, verhältnismäßig unbedeutenden Städten eine Reihe von Gewerben entwickelt, wie in allen Ländern bei Völkern auf gleicher Kulturstufe. Als eigentlich handeltreibendes Volk sind die Juden im Gegensatz zu ihren Stammesverwandten, den Phöniziern, Tyrern und Karthagern, in der Zeit ihrer Selbständigkeit nicht aufgetreten. Dazu war schon die geographische Lage des Landes nicht geeignet, es lag nicht am Meere und war von dieser Seite dem Handelsverkehr schwer zugänglich. Aber charakteristisch ist, dass von dem Augenblicke an, wo die Juden, auseinandergesprengt, sich über die anderen Länder verbreiteten, der größte Teil von ihnen sich dem Handel zuwandte. Allerdings war in der alten Kulturwelt die Sklavenarbeit die Grundlage der Produktionsweise. Diese Produktionsweise erschwerte es außerhalb der Gesellschaft eines Staatswesens stehenden Elementen, eine entsprechende Existenz zu finden. Die Juden mussten also, wollten sie unter fremden Völkern leben können, einer Beschäftigung sich zuwenden, die ihnen die Existenzmöglichkeit gewährte. Das war in erster Linie der Handel. Unbestreitbar ist, dass in der semitischen Rasse der Handelsgeist – wie ihn Fourier nennt -, wie das namentlich auch die Phönizier und Karthager bewiesen, in hohem Maße entwickelt ist. Es erklärt sich also aus dieser natürlichen Anlage leicht, dass das Judentum, wo immer es unter fremden Völkern auftritt, und besonders wenn es in der Vereinzelung, beziehentlich in kleinen Gruppen auftritt, vorzugsweise als handeltreibendes Element erscheint. Andererseits zeigt sich auch in der Gegenwart, dass dort, wo die Juden in geschlossenen Massen beieinander wohnen, sie sich nicht hauptsächlich mit Handel, sondern als Gewerbetreibende und mit Ackerbau beschäftigen und dass auch eine große Zahl von Lohnarbeitern – Landarbeiter und gewerbliche Arbeiter – unter ihnen ist.*) Das sehen wir bis zu dieser Stunde in jenen Ländern Europas, in denen sie massenhaft beisammen wohnen; in Polen, Galizien, Ungarn, Teilen Russlands, mit einem Wort in den osteuropäischen Ländern. Dort wohnen sie zu Tausenden und Zehntausenden in den Städten und bilden einen wesentlichen Bruchteil der Bevölkerung. Dort bilden auch die Handeltreibenden nur einen kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung, die anderen Teile sind Handwerker und Arbeiter. Und die jüdischen Kapitalisten und Unternehmer beuten ihre jüdischen Rassen- und Religionsgenossen genau in derselben und oft noch schamloserer Weise aus, als das die christlichen Kapitalisten mit christlichen Arbeitern tun. Anders ist es, wo die Juden mehr sporadisch unter Völkern leben, wie z. B. in Deutschland, in dem unter nahezu fünfzig Millionen Einwohnern etwa 500.000 Juden sind, also nicht ein Prozent. Hier tritt die Erscheinung auf, dass ihre wesentlichste Beschäftigung der Handel ist.

*) Bei dem Arbeitermangel, der z. B. infolge der Sachsengängerei auf den Gütern Oberschlesiens herrscht, greift man dort zu russisch-polnischen Arbeitern, und auf einzelnen Gütern sollen ausschließlich – jüdisch-polnische Arbeiter beschäftigt sein, wogegen die antisemitisch gesinnten ostelbischen Grundbesitzer durchaus nichts einzuwenden haben.

Bebel, August (1840-1913) deutscher sozialistischer Politiker, einer der bedeutendsten Begründer der Sozialdemokratie

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Der Geldwechsler

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Europäische Kaufleute in Smyrna. 14. Jahrhundert

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Frankfurt a. Main im 17. Jahrhundert. Nach Merian

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