Dritte Fortsetzung

Es ist zu beachten, dass im ersten Jahrzehnt des Bestandes des Deutschen Reiches von einer antisemitischen Strömung im größerem Umfange nichts zu bemerken war. Dass es stets Leute gab, die den Juden nicht grün waren, die aus irgendwelchen Ursachen einen Hass gegen sie hatten, ist unbestreitbar, aber diese feindselige Stimmung in einer greifbaren judenfeindlichen Organisation ihren Ausdruck fand, kann nicht behauptet werden. Das geschah erst gegen Ende der siebziger Jahre. Erst mit dem Jahre 1877 trat diese Bewegung als politische Erscheinung in die Öffentlichkeit. Insbesondere war es der sogenannte christliche Hofprediger Stöcker, der sich zum Wortführer dieser Bewegung aufwarf, der sie organisierte und der noch heute auf diese seine Tat stolz ist und sich ihrer bei jeder Gelegenheit rühmt. Wie kam das? Es war die natürliche Wirkung und Folge der ökonomischen Zustände, in die wir in Deutschland durch den großen Krach von 1874 gelangten (Sehr richtig!) Der große Krach hatte eine allgemeine Depression, eine vollständige Niederwerfung des von 1871 bis 1874 währenden großartigen ökonomischen Aufschwunges herbeigeführt. Die Großunternehmungen aller Art, die in der Zeit des Aufschwunges auf den verschiedenste industriellen Gebieten ins Lebe gerufen worden waren, machten durch die Massenhaftigkeit ihrer Produktion insbesondere dem Handwerkerstande starke Konkurrenz. Jetzt zum ersten Male wurden innerhalb des mittleren und kleineren Gewerbestandes das Gefühl allgemein, dass es mit ihnen abwärts gehe. Die ersten Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches, in der jene Prosperitätsepoche erstand, wie wir sie niemals vorher hatten und kaum wieder bekommen werden, verbarg der Gesellschaft die wahre Natur der Dinge. Aber als mit dem Zusammenbruch dieser Epoche die große Krise hereinbrach, der vielfach selbst die großen Unternehmungen unterlagen, als die Konkurrenz so drückend, namentlich auf den Mittelschichten der Gesellschaft lastete, kam diesen nicht nur zum Bewusstsein, dass sie in eine bedenkliche ökonomische Lage geraten seien, sondern es entstand bei ihnen auch die Frage: Wem ist das geschuldet und woher kommt das? Nun haben die Juden – ich bemerke, dass, wenn ich von Juden spreche, ich hierbei immer die Mehrheit von ihnen im Auge habe – ganz unbestreitbar im Vordergrunde unserer wirtschaftlichen Entwicklung gestanden, seitdem sie die volle Gleichberechtigung nach allen Richtungen hin erlangt hatten, und nachdem durch unsere Sozialgesetzgebung: die Gewerbeordnung, die Freizügigkeits- und Niederlassungsgesetze, die Handels- und Zollgesetzgebung, wie sie durch den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich geschaffen worden war, sich der kapitalistischen Entwicklung neue Bahnen mit ungeahntem Erfolge eröffneten. Bei der nicht geringen Zahl großer Geldleute (Bankiers und Leiter von Bankinstituten), die sie in ihrer Mitte zählen, standen sie überall mit im Vordergrunde der zahllosen Gründungen oft sehr bedenklicher Art, die in den Jahren 1871-1874 ins Leben gerufen wurden. Ebenso standen und stehen sie an der Spitze der Handelsunternehmungen auf den verschiedensten Gebieten. Der Handel wird auch von den sogenannten Christen als lukratives Unternehmen angesehen, weshalb alles sich nach dem Handel drängt. Wer nicht weiß, wie er sich eine selbständige Existenz gründen kann, beginnt irgend einen Handel. Die Juden aber sind, aus den schon angeführten Ursachen, ihrer Zahl nach überwiegend Handeltreibende und sie sprechen hier als die Kapitalkräftigeren und die Geübteren und Getriebeneren ein sehr bedeutendes Wort mit. Die Tatsache, dass die Juden ungewöhnlich stark im Handel vertreten sind und sich hier den sogenannten Christen gegenüber meist überlegen zeigen, hat Feindschaft und Neid gegen sie hervorgerufen. Ihre Konkurrenz ist eine gefährliche und sie wenden vielfach Praktiken an, denen der minder gewandte Gegner unterliegt. Marx spricht sich in einer Schrift aus den vierziger Jahren „Über die Judenfrage“ folgendermaßen aus:

„Was ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher.
Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit . . .
Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“


Marx sagt also: unsere ganzen Gesellschaft ist Schacher und Streben nach Geld und damit eine verjudete Gesellschaft; das, was man dem Juden, weil er Jude ist, zuschreibt, ist in Wahrheit die Natur unserer bürgerlichen Gesellschaft. Wollen wir also den Juden von den diesen eigentümlichen Charaktereigenschaften befreien, so kann das nur geschehen, indem wir die Gesellschaft davon befreien. Mit der bürgerlichen Gesellschaft fällt auch das dem Juden eigentümliche Wesen.

Kein Zweifel, dass das, was man Schacher nennt, einen großen Teil der Juden besonders auszeichnet. Unter Schacher versteht man bekanntlich etwas mehr oder auch etwas weniger als Handel, das heißt, man versteht darunter den Handel um den kleinsten Profit, den Handel mit Dingen, die anderen unscheinbar, oder wertlos, oder gar verächtlich erscheinen. Der Schacherer nimmt dabei mit dem geringsten Gewinn vorlieb. Mit dem bescheidensten Vorteil sich zu begnügen, wenn es sein muss, dadurch zeichnet sich ein großer Teil der jüdischen Händler aus, und das beweist, dass sie besser wie andere zu rechnen verstehen. Sie haben längst erkannt, dass das „Die Masse muss es bringen“ auch ein Weg zur Kapitalbildung ist. Viele Juden, die an der Spitze der Kapitalmacht stehen, sind durch den Schacher entweder persönlich oder durch ihre Vorfahren letzter Ordnung zu dieser Stufe emporgekommen. Nun sind die Juden zwar in ihrer Gesamtheit der germanischen oder arischen Bewohnerzahl gegenüber gering an Zahl, aber sie bilden als hauptsächlich Handelstreibende gegenüber den übrigen Handeltreibenden einen verhältnismäßig hohen Prozentsatz und sind daher eine unangenehme Konkurrenz. Deshalb hat der Antisemitismus besonders in den handelstreibenden Kreisen starken Anhang gefunden. Die Handelsgebiete, auf welchen das Judentum in hohem Grade als entscheidender Faktor auftritt, sind sowohl der Zahl als der Art nach von großer Bedeutung für die Gesellschaft. So ist für den Handel mit Manufakturwaren im weiteten Sinne das Judentum maßgebend; für den Handel mit Agrarprodukten ist es unbestreitbar ausschlaggebend. In weiten Gegenden Deutschlands, so in den beiden Hessen. In Nassau, der Pfalz, Elsass-Lothringen, Baden und Württemberg, in den meisten Provinzen Bayerns, in Thüringen usw. sind es Juden, die ausschließlich oder nahezu ausschließlich den gesamten Handel in Agrarprodukten in der Hand haben. Seinerzeit hat ein Genosse im „Vorwärts“ einen Artikel veröffentlicht „Über die Ursachen des Antisemitismus“, in dem er in Bezug auf Hessen den Ausspruch tat, den ich schon früher wiederholt getan: „Überall tritt der Jude dem Bauern als Käufer und Verkäufer gegenüber, dem Bauern gegenüber ist der Kapitalist der Jude, Jude und Kapitalist sind für den Bauern identische Begriffe.“ Nun zeigt aber die Entwicklung auf agrarischem Gebiet, insbesondere durch die Zufuhren an Getreide, Fleisch usw. aus fernen Weltteilen, dass die angeblich zum Schutz des Bauernstandes ins Leben gerufene Schutzzölle ihm fast nichts nützten. Er sieht, wie die Ansprüche an ihn immer größer, die Konkurrenz immer drückender wird, so kommt er zur Einsicht, dass die schönen Versprechungen, die ihm die Konservativen, Ultramontanen und Nationalliberalen jahrzehntelang machten, ihn nicht geholfen haben. Wohl aber wurde seine materielle Lage schlechter. So wirft er sich denen in die Arme, die auftreten und ihm predigen: „Alles was Euch bisher versprochen wurde, ist falsch; schafft den Juden aus der Welt, der Euch aussaugt! Bringt Ihr das fertig, dann ist für Euch die Periode des Friedens und des Glücks wieder vorhanden.“ Es ist ein sehr einfaches Rezept, das der Antisemitismus bereit hält und mit dem seine Anhänger als Demagogen schlimmster Art auf den Bauernfang gehen. (Sehr richtig!) Der kleine Bauer, der kleine Handel- und Gewerbetreibende, hat erklärlicherweise keine Neigung, ohne Widerstand und ohne dass er nach Hilfe sich umsieht, in diesem Entwicklungskampf unterzugehen. Er greift nach einem Strohhalm. Was ist es, dass uns die Agitation in diesen Kreisen so erschwert? Dass wir als ehrliche Leute diesen Klassen sagen müssen: Wir haben keine Heilmittel, die Euch als Handwerker, als Kleinbauern, als Kleinhändler auf die Dauer innerhalb der heutigen Gesellschaft retten können! (Sehr richtig!) Wenn wir mit Engelszungen reden könnten, unser Anhang wird unter diesen Umständen zunächst ein verhältnismäßig schwacher sein. Genosse Katzenstein tat den Ausspruch: wir haben noch keinen einzigen Bauern für unsere Partei gewonnen. Dieser Ausspruch ist nicht richtig, wir haben solche allerdings gewonnen. Wir haben sogar wirkliche und wahrhaftige Bauern aus der Nähe Kölns in diesen Tagen hier unter uns gehabt und sind an mich herangetreten. Es waren echte Bauern, die erklärten, zu uns zu gehören. Und wir haben auch anderwärts solche Menge. Ich erinnere an Mecklenburg, an Holstein usw. Wir haben sogar, wie uns die Vertretung auf dem Parteitag in Hannover zeigte, eine kleine Anzahl Großgrundbesitzer in unseren Reihen, und zwar vornehmlich in Ostpreußen, woselbst sogar die liberalen Großgrundbesitzer fast ausgestorben sind. Viele Bauern sind auch nicht so dumm, als man sie schätzt. Kommt ein geschickter Agitator, der den Bauern zu sagen weiß, wo sie der Schuh drückt, und ihnen zugleich beweisen kann – und nichts lässt sich nach meiner Auffassung leichter beweisen -, dass erst unter der Herrschaft des Sozialismus die Grund- und Bodenverhältnisse so organisiert werden können, dass der Bauer ein wirklich freier Mensch, ein voller Kulturmensch, wird, dann ist auch der einsichtige Bauer zu gewinnen. Wir müssen unser Augenmerk darauf richten, dass neben der Kritik der Übelstände auch die positiven Heilmittel erörtert werden, die unser Standpunkt erfordert, die sich aber nicht von heute auf morgen verwirklichten lassen. Aus diesem Grunde ist unser Standpunkt kein leichter, denn das erfordert Nachdenken und einen gewissen Idealismus. Das ist bei den Antisemiten anders. Die fragen sich nicht, ob die Heilmittel, die sie vorschlagen, auch in Wirklichkeit so beschaffen sind, dass sie durchgeführt werden können. Diese Frage können sie nicht an sich richten, sonst könnten sie eine Reihe ihrer Forderungen gar nicht aufstellen. (Sehr wahr!) Es ist für sie auch nebensächlich, ob ihre Forderungen durchführbar sind und helfen, sie wissen, dass sie nie ein Machtfaktor werden, der entscheidend mitwirken kann. Haben Sie aber wirklich einmal, wie im Juli 1893 im Reichstage, ihre zwölf Vertreter die Entscheidung in der Hand, so erklären sie sich stets für die Reaktion. Dieses Mal stimmten sie für die große Militärvorlage, ein anderes Mal werden sie für eine verderbliche Maßregel stimmen, sie werden stets nach ihrer Natur, die durch und durch reaktionär ist, für die Reaktion eintreten. (Sehr richtig!) Täuschen wir uns also nicht: Wir können nicht, wenn wir nicht Demagogen der gemeinsten Art sein wollen, dem Bauern-, dem kleinen Gewerbe- und Handelsstand gegenübertreten und Forderungen entwickeln, von denen wir uns sagen müssen, dass sie den Nöten dieser Klassen nicht abhelfen. Das werden wir nicht tun, weil wir nichts tun können, nichts tun dürfen, nichts tun werden, was unserer inneren Überzeugung nach entweder undurchführbar ist oder ein Scheinmittel ist, was nicht hilft. (Lebhafte Zustimmung)
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratie und Antisemitismus