Vierte Fortsetzung

Die Demagogie ist es, die dem Antisemitismus bei den Bauern aufgeholfen hat. Zahlreiche Erscheinungen, wie die Wahl Fusangels gegen das offizielle Zentrum in einem bäuerlichen Wahlkreise, die Opposition der sogenannten Bauernbündler gegen das Zentrum in Bayern und anderwärts, trotz aller Frömmigkeit und allem Katholizismus, was beweist das anders als die Erkenntnis der Bauern, dass es so nicht weiter geht, und zugleich, dass das Zentrum die erwartete Schuldigkeit auf ökonomischem Gebiete nicht getan hat. Das Zentrum ist seiner Geschichte nach eine Partei, die in erster Linie die Interessen der katholischen Kirche gegenüber dem protestantischen Kaiserreich zu vertreten hat. Das war der Ursprung seiner Gründung im Jahre 1870. Aber das Zentrum musste, sollte es zu einer großen Partei werden, auch die materiellen Interessen der von ihm vertretenen Volksschichten wahrnehmen. In erster Linie diejenige der Bauern, aber auch die der Arbeiter, die sehr oft mit denen der Bauern im Widerspruch stehen. Daher sein doppelzüngiges Wesen und die Eiertänze, die es unausgesetzt aufführen muss. Wie steht nun in den verschiedensten Gegenden Deutschlands der Bauer zum Junker? Verkauft der Bauer seine Kartoffeln, sein Getreide, seinen Wein, seinen Hopfen, seinen Raps, wer sind in der Regel die Käufer? Mit verschwindenden Ausnahmen Juden. Wer sind diejenigen, die ihm Kapitalien leihen, die sein Vieh kaufen oder verkaufen? Fast ohne Ausnahme Juden. Auf dem Berliner Viehmarkt sind alle Händler Juden. Der ganze Viehhandel, auch der Engros-Handel, liegt überall in den Händen der Juden. Es ist also nur zu erklärlich, dass alle diese Umstände, und was ich sonst über Entwicklung und Charakter der Juden anführte, den Antisemitismus hervorgerufen haben.

Besonders leidet unter den heutigen Verhältnissen auch der kleine Gewerbestand, der verloren ist unter der großartigen kapitalistischen Entwicklung, die sich seit 1871 in Deutschland in einem Maßstabe vollzog, wie sie ähnlich in so kurzer Zeit nur noch in den Vereinigten Staaten Nordamerikas erfolgt ist. Ich will hier nicht darauf eingehen, wie diese ungemein rasche Entwicklung Deutschlands die notwendige Folge war der langen künstlichen Zurückhaltung und der vorhandenen Kräfte durch die Kleinstaaterei, durch eine veraltete und verrottete Sozialgesetzgebung usw. Das Großkapital tritt immer mehr in Konkurrenz mit sich selbst, es schlägt nicht allein den Gewerbetreibenden und Handwerker tot, sondern auch bereits den mittleren Kapitalisten und frisst ihn auf. Je rascher nun diese kapitalistische Entwicklung sich vollzieht, desto mehr häuft sich das Kapital in den Händen einer Minderheit. Immer neue groß-industrielle Verkehrsunternehmungen treten ins Leben. Die Schutzzölle, die zuerst im Jahre 1879 angeblich zur Rettung von Handwerker- und Bauernstand eingeführt wurden, haben die Entwicklung des Großkapitals besonders begünstigt; sie gerade beförderten die Ansammlung riesenhafter Kapitalien in wenigen Händen. Durch sie wesentlich ist möglich geworden, dass unsere Kapitalistenklasse, bestehend aus einigen Hunderttausend Köpfe, jährlich tausende Millionen Mark aufgehäuft, um diese in neuen industriellen Unternehmungen anzulegen oder zur Bildung eines landwirtschaftlichen Latifundienbesitzes zu verwenden. Das Judentum ist hierbei stark beteiligt.


Insbesondere tritt auf Gebieten, die vor kurzem fast ausschließlich dem Kleingewerbe angehörten, der jüdische Kapitalist immer mehr als Konkurrent auf. So in der Schuhmacherei, der Schneiderei, der Wäschefabrikation usw. Wer hat den Handel mit Kleidern, sowohl mit neuen wie mit alten, in Händen? Juden. Die Haupthändler für Schuhwaren sind Juden; die Besitzer der Schuhwarenfabriken sind zu einem großen Teil Juden. Der Jude, der überall als Handeltreibender, als Kapitalist en gros, also als Ausbeuter der Arbeitskraft auftritt, der als Unternehmer in der Hausindustrie eine Menge von Kleinen Gewerbetreibenden, wie Schuhmacher, Schneider, Weber, Tischler, Kleineisenwarenproduzenten usw. beschäftigt, er ruft auch in den Kreisen der Kleingewerbetreibenden den Antisemitismus hervor. Auch hier deckt sich vielfach der Begriff Kapitalist mit Jude. Ruft man diesen wie den Bauern zu: Schafft den Juden weg, dann wird Eure Lage eine andere sein! So fallen diese kleinen Gewerbetreibenden in Scharen dem Antisemitismus zu. Unsere Kleingewerbetreibenden in Scharen dem Antisemitismus zu. Unsere Kleingewerbetreibenden, unsere Bauern sind sehr unwissend in allem, was das wirtschaftliche und politische Leben betrifft; sie haben in ihrer engen sozialen Stellung keinen Überblick. Ihr Ideal liegt in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Und so unterstützen sie alles, was nach ihrer kurzsichtigen Auffassung dieses Ideal aus der Vergangenheit in die Zukunft zurückführen könnten. Stellt man den antisemitischen Demagogen offen die Frage: Glaubt Ihr, dass es möglich wäre, die Zustände des fünfzehnten, des sechszehnten Jahrhunderts wieder herbeizuführen, jene Zeit, in der das Handwerk seinen „goldenen Boden“ hatte? Dann müssen sie allerdings mit Nein antworten, aber alle ihre Bestrebungen sind nur unter Zuständen, wie sie jenes Zeitalter hatte, zu verwirklichen. Aber sie klären ihre Anhänger darüber nicht auf, das dürfen sie nicht. Diese folgen in ihrem Drange, um jeden Preis gerettet zu werden, blindlinks den Schlagworten derer, die ihnen sagen: „Tretet nur für uns ein, wählt uns, dann wird es anders.“ In der Tat, wenn irgendwer mit Unverschämtheit und Unverfrorenheit vor die Wähler tritt und ihnen zuruft: Wählt nur mich und Ihr werdet sehen, dass, bin ich erst im Reichstage, es anders wird, so ist das bei den antisemitischen Agitatoren der Fall. (Lebhafte Zustimmung.) Ein Sozialdemokrat kann und darf so sprechen, er würde mit dem Besen von seinen eigenen Parteigenossen aus der Versammlung gefegt, täte er das. (Große Heiterkeit.) Weiter. Das Reich, der Staat, die Kommune vergeben große Lieferungen für ihre Zwecke; selbstverständlich sehen sie darauf, dass sie diese Lieferungen billig bekommen. Wer kann billig, wer massenhaft liefern? Nur der, der das Rohmaterial im Großen und darum billig einkauft, der die Vorteile der Massenproduktion ausnutzen kann, weil er das Kapital zur Verfügung hat! Das sind sehr häufig wieder die Juden. Daher kommen die Militär-, die Staats-, die Gemeindelieferungen so oft in die Hände von Juden. Drückt dann der Jude wieder die Handwerker, weil er die Lieferungen zu niedrigen Preisen übernahm, so ist diese Tatsache im Zusammenwirken mit der Abneigung gegen einen durch Rasse und Religion verschiedenen Volksstamm nur zu geeignet, den Hass und die Feindschaft gegen die Juden im allgemeinen auf ihrem Höhepunkt zu treiben. Der sogenannte christliche Kapitalist macht es meist nicht anders, aber von ihm duldet der „germanische“ Handwerker, was ihn bei dem Juden empört.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratie und Antisemitismus