Fünfte Fortsetzung

Aber es sind nicht nur die Schichten der Bauern, Gewerbetreibenden und Handelstreibenden, in welchen der Antisemitismus zahlreich Anhang hat. Die Feindschaft gegen die Juden geht weiter. Zahlreiche Kreise unserer Beamtenwelt sind ebenfalls antisemitisch. Wie erklärt sich das? Scheinbar haben diese keinen Grund, denn ihnen tritt der Jude doch nicht als Konkurrent gegenüber. Sicher nicht. Aber ein großer Teil unserer Beamten ist schlecht bezahlt, und infolge dieser schlechten Bezahlung und der sogenannten standesgemäßen Lebensweise, oder was er dafür hält, macht er Schulden. Da er nichts besitzt, womit er bei Darlehen Garantie zu leisten vermag, muss er zum Wucherer, zum Halsabschneider gehen. Wer wird dem Beamten etwas borgen und das Risiko eingehen, nichts wiederzuerhalten, da das Gesetz für Beträge bis zu einer gewissen Höhe des Gehaltes die Einklagung unmöglich macht? Der Darleiher ist also auf das Vertrauen angewiesen, das er zu dem Beamten hat. In nicht wenigen Fällen lässt der Beamte den Gläubiger hineinfallen, oder richtiger gesagt, er muss ihn hineinfallen lassen, weil er nicht zahlen kann. Es werden also nach dem herrschenden ökonomischen Gesetz: „einem großen Risiko muss auch ein großer Gewinn gegenüberstehen“ Wucherzinsen genommen. Der Nutzen auf der einen Seite soll nicht nur den Schaden auf der anderen ausgleichen, sondern es muss auch mit dem steigenden Risiko die Risikoprämie wachsen. Diese Theorie hat nicht ein Jude aufgestellt, sondern es ist, den französischen und englischen Ökonomen folgend, der verstorbene Hermann Schulze Delitzsch, der sie in Deutschland predigte. Wer sind wieder zum größten Teil die Wucherer? Unleugbar Juden. Man sagt den Juden nach, sie seien feig. Ich bin der gegenteiligen Ansicht. Niemand riskiert mehr als der Jude, er riskiert jedenfalls mehr als die meisten seiner arischen Mitkonkurrenten, und daher betreibt er diese Art von Geschäften mit Vorliebe. In Hannover sehen wir gegenwärtig ein ähnliches Schauspiel sich entwickeln, in welchem Juden die Hauptangeklagten sind - allerdings Individuen der verkommensten Art, wie denn diejenigen, die solche Geschäfte betreiben, keine edlen Charaktere genannt werden können. Es ist also begreiflich, dass auch innerhalb der Beamtenschaft, die vielfach bis über die Ohren verschuldet ist, der Antisemitismus Boden hat. Ein anderes kommt hinzu: Unter der Fahne des Antisemitismus können die Beamten, was sie sonst nicht dürfen, Politik treiben, und die können unter Umständen sogar ein wenig Opposition gegen die Regierung machen; es ist die polizeistaalich erlaubte Opposition, die sonst für den Beamten unmöglich ist. (Sehr richtig!) Die Beamten dürfen sonst nur konservative Versammlungen besuchen und dort als Redner auftreten: aber da es in diesen Versammlungen meist entsetzlich langweilig zugeht, während in den antisemitischen Versammlungen häufig Radau und Aufregung herrscht, ein Genuss, den die ans Gehorchen und Mundhalten gewöhnten Beamten selten haben, so gehen sie lieber in diese letzteren, namentlich da auch ihrer Loyalität und Königstreue, die sie zur Schau tragen müssen, kein Zwang angetan wird. (Heiterkeit.) Ferner hat der Antisemitismus Anhang in den Beamtenkreisen. Antisemitisch ist auch ein großer Teil des Feudaladels. Unser Junkertum ist zum Teil aus Verschwendungssucht, zum Teil wegen der Ausgaben, die es aus Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung machen muss, dem Wucherer in die Hände zu fallen gezwungen. Seine Söhne, die meist Offiziere werden, erfordern große Zuschüsse, um „standesgemäß“ auftreten zu können. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Da ist meist der Jude der Retter. Der Jude ist der Darleiher von Geld und Hypotheken und tritt nachher als Käufer der Rittergüter auf. Er wird also sogar Rittergutsbesitzer. Das sind Gründe genug, weshalb der Feudaladel sich im antisemitischen Lager befindet. Das hält freilich einen Teil unserer Hochedelgeborenen nicht an, nach einem jüdischen Goldfisch zu angeln, um mit dessen Geld das altadelige Wappen aufs neue zu vergolden und die brüchig gewordene Existenz zu retten. (Heiterkeit.) Wer die Memoiren von Busch: „Fürste Bismarck und seine Leute“ gelesen hat, wird sich eines drastischen Wortes erinnern, das Bismarck über die eheliche Verbindung von Christen und Juden ausgesprochen hat. Aus Anstandsrücksichten kann ich das Wort hier nicht wiederholen. (Heiterkeit und Sehr gut!)

Zu den erwähnten kommt noch ein antisemitisches Element, das ebenfalls erwähnt werden muss, und sogar innerhalb der antisemitischen Bewegung einen gewissen Einfluss hat: Das sind die Studenten. Der größte Teil derselben ist heute antisemitisch. Aber diese können doch nicht aus materiellen Ursachen gegen die Juden gestimmt sein? Und doch ist dieses der Fall. Der Konkurrenzkampf, der gegenwärtig auf allen Gebieten der materiellen Produktion sich täglich schärfer zuspitzt und die Vernichtung der Schwächeren herbeiführt, spielt auch innerhalb der Gelehrtenkreise, innerhalb der mit höherer Bildung ausgestatteten Kreise, eine entscheidende Rolle. Ich habe schon in der ersten Auflage meines Buches „Die Frau“ ausgeführt: Wir leiden nicht nur an einer Überproduktion an Waren, sondern auch an einer solchen an Intelligenz. Je mehr die jetzige Entwicklung fortschreitet, desto unmöglicher wird es den Eltern des Mittelstandes, ihre Söhne materiell so auszustatten, das sie als Gewerbetreibende, als Bauern usw. ihre Existenz aufrecht erhalten können. Diese Verhältnisse zwingen zahlreiche Familien, ihre Söhne den Hochschulen zuzuweisen und mit dem letzten Aufwand ihrer Kräfte ihnen das Studium auf denselben zu ermöglichen, damit sie die Staats- oder Gemeindeverwaltungskarriere kommen und dort versorgt werden. Sehen sie sich doch in unseren gewerblichen Kreisen um! Unseren Gewerbetreibenden fällt es kaum noch ein, ihre Söhne Handwerker werden zu lassen: sie wissen genau, dass dabei nichts mehr herauskommt, dass ihre Söhne verloren sind, wenn sie auf das Handwerk oder den Kleinhandel ihre Existenz gründen sollen. Sie lassen dieselben als Einjährige dienen und schicken sie auf die Universität. Hat der junge Mann seine Studien absolviert, so sucht er in irgend eine Beamtenstellung zu kommen, oder er wird höherer Lehrer, oder Jurist, oder Arzt, oder er geht als Architekt oder Ingenieur oder Chemiker oder Elektriker oder dergleichen in ein großes industrielles Unternehmen, kurz, in eine Stellung, welche ihm ohne Kapital eine entsprechende Existenz gewährt. Aber auch auf diesen Gebieten ist durch den übermäßigen Zudrang ein solches Überangebot von Kräften entstanden, dass heute kein Zweig höherer geistiger Tätigkeit mehr vorhanden ist, in dem das Angebot von Kräften nicht zu der Nachfrage im stärksten Missverhältnis steht. Für diese Entwicklung ist eine Erscheinung besonders charakteristisch. In den siebziger Jahren, als der sogenannte Kulturkampf in höchster Blüte stand, wuchs mit dem Kampf gegen die Kirche auch die Abneigung der Söhne der sogenannten höheren Schichten, Geistliche zu werden. Die Neigung, das theologische Studium zu ergreifen, ließ nicht nur bei den Protestanten, sondern auch den Katholiken nach, und es blieben deshalb viele selbst gut dotierte Pfarrstellen jahrelang unbesetzt. Erst in den achtziger Jahren, als auf allen übrigen Gebieten, auf dem juristischen, dem medizinischen, im Berg- und Forstwesen, im höheren Schulwesen usw. usw. die Konkurrenz der Kräfte so überhand nahm, dass die jungen Leute Jahre warten mussten, ehe sie eine feste Anstellung erhalten konnten, und darum Staats- und Gemeindebehörden öffentlich vor dem Ergreifen der verschiedensten Karrieren warnen mussten, hat man sich, „der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, dem Studium der Theologie wieder zugewandt, und so sind heute alle Pfarrstellen besetzt. Das ist, nebenbei bemerkt, wieder ein Beweis, wie materiell auch die Religion sogar von ihren Vertretern aufgefasst wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratie und Antisemitismus