Die Kirchen Lübecks, Religion und Patriotismus

Die Kirchen — in sie hat sich der Reichtum der alten Hansestadt geflüchtet, sie stehen als Denkmäler der ehemaligen Pracht jener da, als stattliche Greisgestalten, die sich wunderbar zwischen der Dürftigkeit, ringsum sie, ausnehmen. Aus der Blüte der Hansa sind sie in die jetzige Krämerzeit herübergeschritten, in die kleinliche Zeit, die das tägliche Brot vor Augen hat, und Lübeck als ein verkümmertes Rom hinstellt, das sich ängstlich an das baltische Meer anklammert und demütige Blicke wirft auf den Beherrscher aller Reußen.

Die Zeit des fromm-religiösen Eifers ist teilweise durch die Reformation hinweggeschwemmt worden, teilweise durch den kleinlichen Egoismus, der durch die Umgestaltung der Dinge hervorgerufen worden ist. Lübecks Einwohner konnten in früherer Zeit mehr an den lieben Gott denken; denn sie hatten vollauf zu leben, sie gaben von ihrem Überflusse an die Kirchen, und ließen sich dafür auf den Kirchen-Gemälden, im Vorgrunde derselben, im Portrait anbringen, kniend, mit gefalteten Händen, mit frommen, inbrünstigen, ablassvertrauenden Mienen. Ihre Religiosität wurde nicht durch Nahrungssorgen beeinträchtigt; ihr Egoismus hatte großartige Interessen zum Gegenstande, sie konnten an der Weltgeschichte mit zimmern helfen. Jetzt sind sie auf das Haus beschränkt, auf die Familie; auf das Auskommen sind ihre Blicke gerichtet, und es dankt ihnen Keiner, wenn sie der Kirche eine größere Aufmerksamkeit widmen, als die Gesetze für dieselbe in Anspruch nehmen. Die reichen Handelsherren der alten Hansestadt lassen Dampfschiffe auf Aktien erbauen, aber an die Kirche geben sie höchstens den Schilling der Wohlanständigkeit; großartige Denkmäler der Öffentlichkeit kann Lübeck nicht stiften. Und doch hat man nicht sowohl aus patriotischer als vielmehr aus sozialer Begeisterung einem Fleischer, der von den Franzosen füsiliert wurde, ein Monument am Mühlentore errichtet, das wenigstens den guten Willen der Lübecker bekundet, ihre in der letzteren Zeit so inhaltlos gewordene Geschichte um ein Blatt zu vermehren. Der Arme hatte voreilige Urteile gegen den Usurpator ausgesprochen, oder vielleicht nur auf der Straße geplaudert — was damals verboten war — und man verfuhr mit ihm, nach Standrecht. Von Aufopferung war hier keine Rede, aber Lübeck, statt ihn zu bedauern, nahm die Poesie zu Hilfe und gab dem Manne, durch Errichtung eines Denkmals, einen Anstrich von Patriotismus nicht nur, sondern sogar von Heroismus. Es ist das nur ein Beweis der gemütlichen Denkungsart der Lübecker, die sich für Alles, was Haus und Hof und Familie angeht, interessiert. Dass der Mann gezwungen in den Tod ging, das eben machte ihn ihnen interessant und sie stellten ihn so hoch, wie Alexander von Soltwedel, der das Lübeck'sche Banner in der Schlacht bei Bornhövd trug und von dem man sagt, dass er in der Mühlenstraße gewohnt habe. Die Lübecker sind an die kleinlichen Lebens-Interessen gekettet, und was diese berührt muss sie mehr ansprechen, als alle Großartigkeit der Welt. Bei dem Allen, inmitten des ärmlichen Treibens, in welches sie die Verhältnisse geschleudert haben, haben sie sich mehr zur Humanität emporgerungen, als die Bremer. Dieselbe kann sich, der Lage der Sache nach, freilich nicht über das Haus und den Nachbar erstrecken, aber sie tritt hier kräftig auf, wie ein Ifflandscher Familienvater, einfach und herzlich, im Philisterösen Gewande. Sie schafft wirklich viel Gutes.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten