Die Marienkirche

Die Marienkirche. Dieselbe liegt in der Mitte der Stadt, auf dem Rücken des Hügels, der Lübeck als Basis dient, und ist eines der schönsten Denkmäler gotischer Baukunst. In dem einfachsten Stile dieser kann man sie, was die äußere Ausschmückung betrifft, weder mit dem Kölner Dom, noch mit dem zu Straßburg, noch endlich mit der Stephanskirche in Wien vergleichen, die insgesamt eine künstlerisch-glänzendere, wenn auch schwerlich poetischere Außenseite bieten; indes was die Grandiosität, die kirchliche Majestät angeht, da möchte sie nicht leicht einer deutschen Kirche weichen. Ihr Gewand ist echtklösterlich, aus Backsteinen bestehend; ihre Form, ist die des Kreuzes, mit kurzen Armen, ihre Taille ist schlank gewölbt, ihr Wuchs groß und hehr, und ihre beiden riesigen Türme steigen so zart und behend in die Wolken empor, wie die christliche Religion zum Himmel, obschon mehr protestantisch gerade, als katholisch - geschlängelt sich zum Lichte erhebend. Unnennbare Anmut ist über das mächtige, schlanke in allen seinen Verhältnissen symmetrisch geordnete Gebäude ergossen. Die Jungfräulichkeit des Katholizismus, die Keuschheit und Reinheit seines Wesens, die die Klöster hervorrief und Mariens Niederkunft so dichterisch hinstellte, spiegelt sich in dieser Kirche, die wie die heilige Jungfrau, der sie gewidmet, in einfacher religiöser Glorie vor unsere Blicke tritt und mit eindringlichen Worten an die Zeit jener fromm-poetischen Schwärmerei mahnt, die die Menschheit im himmlischen Abendrotschein dahin leben ließ, auf dem Ozean der Gefühle, welche bald, orkangepeitscht, sich zum Fanatismus erhoben, bald mild und sanft einherfluteten, wie die Sphärengesänge der sixtinischen Kapelle, welche Rom von Neuem zur Beherrscherin der Welt erhoben, Petrus von Amiens so mächtig machten, und Gottfried von Bouillon über Blut und Leichen zum Thron von Jerusalem trugen; welche Poesie und Kunst auf den Zenith der Romantik führten, und Tetzeln zum Stellvertreter Gottes machten.

Schon von Außen lässt sich das hohe Mittelgewölbe der Kirche unterscheiden. Es ragt mit seinen Fenstern hehr und stolz über die Seitengänge hervor, und wird, selbst aus weiter Ferne, den Augen bemerkbar. Am besten übersieht man das Gebäude von Marly aus; in der Nähe wird es von mancherlei Anhängseln beengt. Das Dach ist mit Kupfer belegt und wird durch freistehende Bögen gestützt, die, besonders am östlichen Ende angebracht sind. Den westlichen Teil der Kirche begrenzen die beiden oben erwähnten Türme, davon einer das herrliche Geläute der mächtigen großen Glocken enthält. In der Mitte des Dachs befindet sich ein kleinerer Turm, mit den Stundenglocken. Er umschließt zugleich ein harmonisches Glockenspiel, welches allstündlich über die ganze Stadt ertönt, die Melodie eines Chorals anstimmend.


Die Kirche gehört der Frühzeit des von Graf Adolph II, von Holstein, 1140 oder 1143 neu gegründeten Lübeck an. Bereits im Jahre 1164 geschieht ihrer Erwähnung. Der Bau, wie er jetzt dasteht, wurde freilich erst nach und nach vollendet, aber die Harmonie des Ganzen zeugt dafür, dass er in einer und derselben Periode zur Reife gedieh.

Das Innere der Kirche steht dem Äußeren nicht nach. Die drei schlanken Gewölbe der Mitte und der beiden Seiten wirken imposant auf den Eintretenden; reicher kirchlicher Schmuck glänzt einem von allen Seiten entgegen, er erhöhet in seiner einfachen Pracht die stille Majestät des Heiligtums, welches durchaus Nichts durch den Protestantismus gelitten hat, sondern alle Kunstschätze, mit welchen der Katholizismus es versah, mit hinüber nahm in die lichte lutherische Zeit.

Die Kirche erhielt ihre innere Zierde aus der frommen Hand einzelner angesehener Familien, die Religiosität war in den Hansestädten zu Hause. Waren nicht Lübecker und Bremer Kaufleute die Stifter des deutschen Ordens? Beide Hansestädte steuerten bei, zu Bouillons Kreuzzug, und Garbert von der Weihe, Lüder von Bucken, Alard von Wunstorp, die den Reigen der bremischen Ratsmänner — deren Namen auf die Nachwelt gekommen sind — eröffnen, zogen mit einer großen Anzahl bremenscher Bürger in den heiligen Krieg. Aber Bremen war der Zeit nicht reich, wie Lübeck, und seine Kirchen stehen schmucklos und dürftig da, obwohl der Sitz des Erzbistums daselbst war. Was ihnen vielleicht hier und da verehrt wurde, das entzog ihnen später der strenge Kalvinismus. Lübeck aber verewigte seinen alten Reichtum in den Kirchen und man ließ ihnen die Pracht. Wie hat sich das Alles, im Laufe der Zeit, geändert! Lübeck lebt jetzt in der Erinnerung an eine alte, glorreiche Vergangenheit; Bremen lebt in der tabak- und zigarrenblühenden Gegenwart. Es hat keine Monumente, als den alten mumieneingepökelten Bleikeller und den langen Roland, es ist arm an Ruhm, aber reich an Geld. Lübeck ist reich an verwitterter Majestät und Hoheit, ein herrliches Mausoleum der Hansa, aber es schleicht demütig durch die Gegenwart, und der Küster der Marienkirche lebt von der Pracht Gottes, die er den Fremden für ein mäßiges Trinkgeld zeigt.

Die Marienkirche enthält Gemälde von Holbein, Altdorfer, Perugino, van Dyk, Williges und Overbeck. Sie sind zur Genüge besprochen worden, und ich begnüge mich auf jenes merkwürdige Bild hinzuweisen, das man den „Totentanz“ benannt hat. Der Tod eröffnet hier den Reigen mit dem Papst und schließt ihn mit dem Bauern. Der Maler hat die Rangordnung nicht außer Acht gelassen; wie die Menschheit im Leben geordnet war, so führt er sie zum Grabe. Eine sinnreiche Ironie auf den Unterschied der Stände, deren keiner ihm entrinnen kann. Der Ausdruck in den Mienen der Tanzenden ist wahrhaft charakteristisch. Hier spiegelt sich die Furcht im Antlitz, dort die Ruhe. Was das freie Wort nicht auszusprechen wagte, das erkühnte sich in der Zeit der Hierarchie die bildende Kunst in Gemälden und Bildhauer-Arbeiten anzudeuten, und das Pfaffentum kam bei dem Allen am schlimmsten weg. Die Reformation wurde durch die Kunst vorbereitet, die besonders was die deutsche Schule betrifft, nach dem Lichte strebte.

Der Hochaltar, ein Geschenk des Ratsherrn Thomas Friedenhagen, ist in Marmor von Quellinus, aus Antwerpen errichtet. Der Grund desselben besteht aus schwarzem Marmor, die Verzierungen aus weißem. Mannigfaltige Grabmonumente patriotischer Familien erheben sich aller Orten, ausgezeichnet durch einfache Pracht und künstlerische Ausführung.

Ich gedenke hier nicht der kostbaren Metall-Arbeiten und der berühmten astronomischen Uhr, hinter dem Altare, der großen Orgel, die den ersten Deutschlands beizuzählen ist, der mancherlei Trophäen aus Lübecks Vorzeit, sie sind insgesamt weitläuftig besprochen in Zietzs „Ansichten von Lübeck“, (Frankfurt am Main im Verlag bei Friedrich Wilmans). Ich will mehr das jetzige Lübeck schildern, als jenes alte, welches längst im Grabe liegt und der Nachwelt nur das Andenken seines Ruhms vermacht hat, eines Ruhms, an welchem sie sich kräftigen und erheben kann, der aber in seinen toten Werken mehr der Kunst-Geschichte, als einer Skizze des neuesten Lübecks angehört.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten