Der sittlichen Geist der Bevölkerung Lübecks

Was den sittlichen Geist der Bevölkerung Lübecks im Allgemeinen betrifft, die eigentliche Moral, so ist er gerade nicht mehr in jungfräulicher Blüte. Man soll sehr viel im Stillen lieben und so ziemlich in jener humanen Weise, die hier keinen Unterschied der Stände beachtet, sondern auch für die untere Klasse ein gefühlvolles Herz hat.

Man erzählt sich in dieser Hinsicht viel von den Notabilitäten, und die Salons haben manche böse Nachrede in den tabakeingequalmten Wirtsstuben der niederen Stände auszuhalten, die, wie allenthalben, auch hier gern die Satiriker des Lebens der feinen Welt abgeben. Aber auch die Mittelklasse hält es mit einem freien Leben, welches die Grenzen des sozialen Verkehrs nicht zu eng zieht. Es soll solider in den Familien des lüsternen Hamburgs zugehen, als in denen des bescheidenen Lübecks, welches kein Wasser zu trüben scheint und in seinem Stadtrecht auf die Verletzung der ehelichen Treue Todesstrafe setzte. Übrigens wird die eheliche Treue in Lübeck in Wahrheit selten verletzt; denn man scheint hier häufig die Ehe für einen Konsensual-Kontrakt zu halten, der durch gegenseitige Vereinbarung suspendiert werden könne.


Aber was man in dieser Hinsicht auch behaupten mag, so viel ist gewiss, es geht Alles ohne Eklat zu; nicht einmal der Hausfriede wird dadurch gestört, und wenn es auch hier und da zum Äußersten kommt, so hat die mildernde Gerichts-Praxis schon dafür Sorge getragen dass mit dem Schuldigen nicht mehr, nach der Strenge der Gesetze, verfahren werden kann. Aber die Lübecker, so häufig sie auch in der Feiertagsruhe ihrer Häuser, unter vier Augen, höchstens von den Dienstboten bespöttelt, sonst von Keinem deshalb geringer geachtet, gegen das sechste Gebot sündigen, man muss es zugeben, sie gehen dabei nicht scheinheilig zu Werke. Man sieht es, es geschieht nur des Anstandes wegen, dass sie ihre Schwäche nicht offen bekennen, sie geben sich wenigstens keine Mühe, sie zu verheimlichen.

Die Haus- und Familiengenossen reden davon, wie von längst bekannten Dingen, ohne Erstaunen zu bekunden; und wenn sie einmal die Nase rümpfen, so ist daran lediglich die dem Menschen angeborene Schadenfreude Schuld, die sich so gern zum Spott versteht. Ich bin fest überzeugt, würde dieser, oder jener Senator seine Beischläferin auf einem Kirchengemälde anbringen lassen, er machte sie im Leben nicht zur Madonna, sondern gäbe sie als das, was sie ist; höchstens würde er sagen: es ist eine Freundin von mir, der ich dadurch meine Achtung zu erkennen geben will.

Es ist ein gutes Zeichen der Lübecker, die öffentliche Meinung stiehlt sich nie in Haus und Hof hinein; sie lässt den Leuten ihre Privat-Vergnügungen, wenn sie nur im öffentlichen Leben, in Handel und Wandel, kein Ärgernis geben, und begnügt sich, den Schalk zu spielen. Es fehlt hier jene klatschsüchtige Kleinstädtischkeit, die sich in alle Dinge mischt und stets bereit ist, über den Nächsten Gericht zu halten. In der Tat, Lübeck trägt ganz das Gepräge einer heruntergekommenen großen Stadt, sie gleicht einem invaliden Helden, der sich in die Stille des Lebens zurückgezogen, auf ein Landgut in Hinter-Pommern; aber der Sinn für Krähwinkelei hat deshalb nicht in ihr um sich gegriffen, weil sie noch hie und da von dem alten Ansehen zehrt, oder unbewusst einen stolzeren, gewissermaßen ererbten großstädtischen Air bewahrt, als andere Städte, die mit ihr auf einer Stufe stehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten