Der Lübecker Liebe zur Musik und ihre Musiker

Die Lübecker lieben die Musik, und es finden sich daselbst viele Dilettanten-Vereine zu solchem Zwecke. Ein Beweis, dass sie sich gern den Gefühlen hingeben, was in einer Handelsstadt immer zu bewundern ist, wo die Natur der meisten Menschen ausgetrockneter und praktisch eingesalzener ist, als in Residenzen und anderen Orten.

Es gibt in Lübeck enthusiastische Verehrer Euterpes, und die an der Spitze der Dilettanten-Vereine Stehenden sind meistens Männer, die sich sonst so ziemlich den ganzen Tag hindurch im Geschäfts - Verkehr umhertreiben und von denen man es kaum vermuten sollte, dass sie für etwas Anderes, als Wolle, Wein oder Getreide, die vorzüglichsten Handels-Artikel Lübecks, Sinn hätten. Und doch leben sie der Tonkunst, nach vollbrachter Tagesarbeit, mit Leib und Seele und veranstalten in ihren Häusern musikalische Soirves, denen man es nicht ansieht, dass sie nur dazu dienen sollen, einen Tag angenehm zu beschließen, so eifrig wird die Sache betrieben. Habe ich doch ein ehrwürdiges Mitglied des Ober-Appellationsgerichts, einen geborenen Lübecker, den Engel Gabriel in der „Schöpfung“ mit einem Feuer singen hören, das in dem Falle, wenn die Stimme nur etwas mehr zum Anhören geeignet gewesen wäre, sicherlich zur Begeisterung hingerissen hätte. Konzerte erfreuen sich in Lübeck einer größeren Teilnahme, als irgendwo, um so mehr, da man nicht sowohl die einzelnen musikalischen Kräfte, als die Musik selbst vor Augen hat und zufrieden ist, wenn das Ensemble übereinstimmt.


Seltsam ist es, das die Musiker von Profession hier eine Zunft bilden, die in verschiedene Klassen geteilt ist, und deren man sich bei allen Gelegenheiten bedienen muss. Eigentliche tonkünstlerische Weihe kann unter solchen Verhältnissen nicht wohl statt finden, da die handwerksmäßige Gestaltung des Musikwesens nur eine bestimmte Anzahl Mitglieder duldet, die heute zum Tanz aufspielen und morgen das Requiem Mozarts, oder Bachs und Händels Kompositionen verarbeiten. Man kann daraus entnehmen, wie sehr Lübeck der alten Sitte huldigt; denn dieser Zunftzwang ist offenbar aus dem Mittelalter, aus der Zeit, in welcher sich die Poesie den Meistersängern unterwarf, in unsere zivilisierte Periode herübergeschlichen. Man kann es sich leicht denken, welch ein ehrenfestes, spießbürgerliches Ansehen insonderheit die leichte, humorsprudelnde Musik eines Rossini im Orchester des Theaters zu Lübeck erhält, welches von der sogenannten „ersten Klasse“ der Musiker bedient wird.

Ein Deutscher in der Pierot-Maske kann sich nicht behaglicher und phlegmatischer dehnen, als solch' eine Komposition im Theater-Orchester. Es kann hier überhaupt nie von einem Geiste der Musik die Rede sein; denn es ist der tägliche Verdienst, welcher diese Leute für die Kunst beseelt. Alles geht in jener Totenstille vor sich, die sich, im Schweiße ihres Angesichts, das Brot verdient. Aber die republikanische Einfachheit tritt auch wieder bei dieser Sache hervor. Es ist einmal ein wohlerworbenes Recht, dessen sich die Musiker erfreuen, und man wagt es nicht, sie in demselben zu beschränken, obschon das vornehme Lübeck Euterpen huldigt. „Es lässt sich einmal nicht ändern, wir dürfen diese Zunft-Ordnung nicht aufheben; denn die Leute sind Bürger und leben davon.“

Also sprechend, wagt man es nicht, hier eine Abänderung zu treffen, und die Kunst muss sich der einmal eingeführten Ordnung unterwerfen, die schwerlich je aufgehoben werden wird, wenn nicht alle dabei Interessierten auf einmal Todes sterben. Man hätte in dieser Hinsicht Etwas von der Cholera hoffen können, aber die Musiker Lübecks haben keine reizbaren Nerven, und selbst die Cholera wandte sich ängstlich von ihnen ab und wollte Rat und Bürgerschaft nicht vorgreifen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten