Der Senat Lübecks

Der Lübecker Senat ist Verwaltungs- und Justiz-Behörde; er dient zweien Herren. Es ist das ein Umstand, der wohl einer Abänderung wert wäre. Aber die freien Hansestädte glauben leider an das Vermächtnis ihrer Vorfahren. Sie sind einmal an diesen Zustand gewöhnt, und Gemeinsinn in dem Grade, dass er ernstlich auf Verbesserung der Verfassung dringen sollte, findet man nirgends vor. Es gibt in allen drei Städten einmal „Recesse“, „Tafel und Buch“, „neue Eintracht“ und dergleichen Vereinbarungen, zwischen Rat und Bürgerschaft, die das ehrwürdige, pergamentene, schweinslederne Ansehen haben, und die Bürger haben zu viel in ihren Geschäftsstuben zu tun, als dass sie es untersuchen können, ob sich dergleichen Dokumente für unsere aufgeklärte, humane Denkweise passen, die man doch heut zu Tage entweder allenthalben an den Tag legt, oder wenigstens an den Tag affektiert. Somit bleibt es denn gewöhnlich beim Alten, und die Senate der drei freien Hansestädte sitzen recht weich und behaglich auf den alten, verschimmelten Verträgen, die sie mit Gottes und des deutschen Kaisers Hilfe den freien Bürgern ihrer respektiven Städte abgetrotzt haben und die häufig von einem Absolutismus strotzen, den man in einer Republik für gar nicht möglich halten sollte. Wer sollte es glauben, weil die Bremer einmal vor einigen hundert Jahren gegen einen hochedlen und hochweisen Magistrat rebelliert haben, so hat man schnell ein Gesetz entworfen, nach welchem in Bremen nur der Rath das Recht hat, Versammlungen der Bürgerschaft anzuordnen, damit keine „Proktiken“ oder „heimliche Zusammenkünfte“ in Zukunft, zum Nachteil des Rats, vielleicht um Aufruhr zu stiften, oder dergleichen, von den Bürgern veranstaltet werden könne. Das Gesetz mochte der Zeit an seinem Orte sein; denn ich glaube wohl, dass die damaligen Bremer nicht so ehrfürchtige Leute waren, wie die heutigen, die schon aus weiter Ferne ihren Hut vor einem Senator ziehen und sich demütig zu seiner Linken halten, wenn sie mit ihm eine Strecke Weges zu gehen, die Ehre haben. Aber in unserer heutigen frommen Zeit, wozu soll da dieser absolutistische Terrorismus dienen? Ja, das Gesetz gilt noch heut zu Tage in Bremen, jeder Bürger muss es vor dem versammelten Senat beschwören, er muss beschwören, dass er dem „Rottenmeister“ gehorsam sein und „die neue Eintracht“ halten wolle. Wenn es einem hochedlen Rat in Bremen beliebt, die ehrliebende Bürgerschaft zu sehen, so lässt er sie zu sich laden, und wenn ein hochedler Rat kein Gelüst nach der ehrliebenden Bürgerschaft hat, so muss die ehrliebende Bürgerschaft zu Hause bleiben. Ist das christlich? Ist das menschlich? Nein, fürwahr! nicht, aber es ist echt Bremisch. Auf diese Weise hat also der Bremer Senat die Regierung so ziemlich ganz in den Händen. Will er keine Vorschläge machen, so kann er es bleiben lassen; denn die Bürgerschaft kann nur durch ihn zu den Regierungsgeschäften, zu den wichtigsten Beratungen über das Gemeinwohl gezogen werden, ohne ihn würde sie keine Zusammenkünfte halten dürfen. Fürchtet man wirklich von den guten, ehrlichen Bremern eine Revolution? fürchtet man, dass sie sich gegen den „Rottenmeister“ empören werden? fürchtet man Barrikaden kämpfe in der „Langen- und Obernstraße.“ O nein! man fürchtet Nichts, die Bremer haben Schwert und Büchse längst bei Seite gelegt, und wenn Herr Johannes Rösing, wie ich vernommen habe auch dann und wann in der Union die Interessen der Humanität verficht, seine Zuhörer werden sich das Alles ruhig beschlafen, was er sie gelehrt hat, und der „Rottenmeister“ wird so wenig durch sie Gefahr laufen, wie der Senat in Bremen, der übrigens bereits auf die Hochweisheit und das „Hochedle“ verzichtet hat, und sich schlechtweg, in einer Stunde der Aufklärung, den Titel „hoher Senat“ beigelegt hat, ein Umstand, der allerdings zu loben ist; denn der Bremer Senat ist sonst so ziemlich der Hartköpfigste unter allen und am wenigsten geneigt, seinen Prärogativen, sie mögen nun in Macht, Geld oder Weisheit bestehen, zu entsagen.

Weil man sich vor beinahe drei Jahrhunderten wegen der Bürgervieh-Weide herumgebalgt hat, weil damals, und zwar nicht in der schlechtesten Absicht, die Hundert und vier Männer das Regiment des Senats gefährdeten, so kann Bremen bis auf diesen Tag keinen Bürgerkonvent sehen, wenn solches dem Senat nicht gefällt. Es ist um des Teufels zu werden.


Wie gesagt — der Lübecker Senat administriert und judiziert, so gut, wie die Senate der beiden Schwesterstädte, aber die Prokuratoren am Lübecker Stadtgericht, dem Forum erster Instanz, bilden denn doch eine Art richterlicher Behörde, in deren Hände die Partei die Sache, zur „Urteils-Findung“ legen kann. Diese Prokuratoren entscheiden also eigentlich in den bedeutenderen Streitsachen, und das Gericht erklärt dann in seinem Dekrete, dass es nach vorhergegangener „Findung“ des Urteils also erkenne, und teilt nun den Bescheid der Prokuratoren mit, die keine Senats-Mitglieder sind. Somit tritt denn doch hier in erster Instanz, eine unabhängige richterliche Behörde auf. Das Obergericht besteht nun freilich lediglich aus Senatoren, und was demnach auf dem Appellationswege weiter betrieben wird, das ist lediglich in die Hände des Senats gegeben, wofern man nicht bis zum Ober - Appellationsgericht der vier freien Städte gelangen kann, das nur für gewisse Sachen kompetent ist und eine bestimmte Appellationssumme in Zivilsachen erfordert.

Übrigens stehen dem Lübecker Senat zwölf bürgerliche Kollegien zur Seite, die die Bürgerschaft repräsentieren, und die sich allerdings ohne Einladung eines hochedlen, hochweisen Rats, versammeln und ohne für revolutionär gehalten zu werden, dahin sorgen können, ne quid respublica detrimenti capiat. Jedes Kolleg hat eine Stimme, und die Mehrheit derselben bekundet den Willen der Bürgerschaft. Bei gleichen Stimmen hat der Senat den Ausschlag zu geben. Machen die Kollegien Vorschläge, welche der Senat verwirft, so können sie dieselben erneuern. Dasselbe findet umgekehrt rücksichtlich des Senats, den Kollegien gegenüber, Statt. Die Verfassung Lübecks ist demnach bei weitem demokratischer, als die Bremens, denn wenn auch der Senat Nichts, ohne Genehmigung der Bürgerschaft, in Regierungssachen verfügen darf, der Letzteren sind dennoch die Mittel benommen , aus eigenem Antriebe und direkt auf die Regierungsgeschäfte einzuwirken; sie muss in dieser Hinsicht die Aufforderung des Senats erwarten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten