Das Rathaus

Das Rathaus. Wenn Lübeck ein in Stein gehauener Abschnitt der Weltgeschichte genannt werden kann, so ist das Rathaus als das Hauptkapitel dieses Abschnitts, als das Kapitel zu betrachten, welches die Hansa behandelt, welches uns erzählt von jenem mächtigen Bunde, der, von den wendischen und norddeutschen Städten ausgehend, alle anderen, von der Mündung der Schelde bis Estland in seine Allianz zog, der sich aus einem Handelsvereine zu einem politischen Gemeinwesen gestaltete, und über Russland nach Asien, über Flandern nach dem südlichen Europa seinen Szepter erstreckte, der den Herrschern der Welt Gesetze vorschrieb und Skandinavien seiner Politik unterwarf. Und Lübeck war der Konzentrationspunkt dieser Hansa, sein Rathaus umschloss den alten Hansasaal, in welchem sich die Deputierten der verbündeten Städte zu gemeinschaftlichen Beratungen vereinten; es ist dasselbe Rathaus, in welchem der schlaue Nicolaus Bröms, dessen Portrait in der alten Stadtbibliothek so kaltjesuitisch umherschaut, dem versammelten Senat die Frage vorlegte: ob man Dänemark den Krieg erklären und Schweden einem König wieder geben wolle, oder nicht? Das Rathaus in Lübeck ist bei weitem nicht so poetisch, wie der Römer in Frankfurt am Main. Es sieht stattlich aus, stattlicher als der schmucklose Bau, in welchem die Kaiser gewählt wurden; aber auf die Hansa lässt sich kein Epos dichten, wie auf das deutsche Kaiserreich, dessen eherne Füße in Aachen und Frankfurt Boden fassten, dessen Haupt bis nach Rom ragte, dessen Leben und Ende eine große Tragödie war. Die Hansa verdankt dem Materialismus ihren Ursprung, und das reiche üppige Handelsleben, welches sie hervorrief, so weltbedeutend es wurde, es ist zu nüchtern, zu kalt; so großartig es war, es hat doch nur Krämerseelen gebildet. Aber wenn das Lübecker Rathaus auch ohne poetische Erinnerungen ist, es erzählt uns von der Hansa. Eine alte ehrenfeste in deutlicher Prosa geschriebene Chronik derselben, mit silbernen Spangen, in schönem gothischen Einbande, steht es in der Breitenstraße von Lübeck, ein solides Denkmal des Bundes, der an der Auszehrung gestorben und keineswegs den Tod eines Helden, wie das deutsche Kaiserreich.

Das Rathaus hat, als Gebäude betrachtet, allerdings ein buntscheckiges Ansehen, verschiedene Zeiten spiegeln sich in dieser großen Steinmasse, welche längs des Marien-Kirchhofes hinlaufend und eine Strecke der Breitenstraße berührend, sich von der Meng- bis zur Hüxterstraße ausdehnt. Das Hauptgebäude, das eigentliche ursprüngliche Rathaus, liegt in der Mitte, und ist durchaus gotischer Bauart, schwarz und düster, mit vielen Türmchen verziert. Seine Verlängerungen, die der Meng- und Hüxterstraße zulaufen sind zwei ausgedehnte Flügel des alten finsteren Riesen, von denen der nördliche, die Kanzlei genannt, der späteren Zeit seinen Ursprung verdankt. Er verhält sich zu dem Ernste und der stolzen Miene des ursprünglichen Rathauses, wie eine bürgermeisterliche Magnifizenz der jetzigen Zeit zu jenen alten Konsuln Lübecks, die dann und wann ihre Stimme über das baltische Meer hinaus ertönen ließen, an Thronen rüttelten und Gustav Wasa eine Stütze verliehen, als er um Reich und Krone mit dem fanatischen Christiern kämpfte. Ein Bogengewölbe, von vielen Granitsäulen gestützt, trägt den inneren Teil dieser Kanzlei, die fest und ruhig, wie ein solides Handlungshaus dasteht, aber seltsam konstrastiert mit der weltgebietenden Miene ihres Ahnherrn, der die Blüte der Hansa sah und aus dessen schwarzen Auge eine tatkräftige Vorzeit spricht, der nur der epische Charakter aus dem Grunde fehlt, weil sie ihren Ruhm lediglich auf dem Handel baute, auf dem Materialismus, der sich nie und nimmer zur Poesie verklären konnte, wenn er auch hier und da an derselben streifte und hehre Taten erzeugte, die wie Sterne in der Weltgeschichte funkeln würden, wenn sie nicht stets von dem Blei des Alltagslebens in die gewöhnliche irdische Sphäre wären zurückgezogen worden.


Das innere Rathaus ist schlicht und ehrenfest gehalten, ohne Majestät, aber in reichsstädtischer Würde, im weitläuftigen Kanzelei-Stile. Geräumige Hallen treten Einem hier entgegen, breite Treppen und Gänge. Kein ausländischer Schmuck, kein Marmor, keine Kunst, keine Poesie funkeln an den Wänden und den Bogentüren; es sieht hier nach einem sauberen riesigen Holzschnitt aus, nicht einmal nach einem Steindruck. Alles ist steif und altfränkisch, aber licht und verständig gehalten, alles zeugt von der Freiheit und Gleichheit die an das lübeckische Stadtrecht glaubt und Nichts von dem St. Simonismus wissen will, der dem Handel den Weg versperren würde. Und wenn ich sie sah, diese sechzehn Hoch- und Wohlweisheiten eines hochedlen Rats und diese vier Magnifizenzen, diesen Protonotarius, diese Syndici, wenn ich sie sah in diesem stattlichen reichsstädtischen Gebäude in ihrer sauberen, modernen Kleidung, mit ihrem bescheidenen Lübecker Gemüte, das so ganz und gar mit der Hoch- und Wohlweisheit und der Magnifizenz zufrieden ist, und sich im Leben nicht nach höheren Dingen sehnt, als im Senat zu sitzen, wie sonderbar wurde mir das Herz bewegt. Ach! dieser kleine, sechzehnteilige hochedle Rat nimmt sich gar possierlich in dem alten gotischen Gebäude aus, an welches sich vor Zeiten die Hansa lehnte und in welchem ein alter staatskluger Bürgermeister sich von einem vertriebenen Fürsten den Hof machen ließ. In einem oberen Gange des alten Rathauses stehen vier ausgestopfte Löwen, welche die Stadt Campen ihrem Oberhaupte Lübeck 1483 zum Geschenk machte. Sie haben ein harmloses, lammmäßiges Aussehen; aber der hochedle Rat in seinem Audienzzimmer sieht bei weitem leutseliger aus, als die vier ausgestopften Löwen, vor welchen sich kein Kind fürchtet. Die Welt blickte einst auf lebendige Löwen im Rathause zu Lübeck, aber diese Löwen sind an Altersschwäche gestorben, das europäische Gleichgewicht hat sie ausstopfen lassen, und sie kümmern sich jetzt um Nichts mehr, was außerhalb des Weichbildes von Lübeck vorgeht, sondern tuen, was ihnen der deutsche Bundestag befiehlt, richten nach dem lübeckischen Stadtrecht, sorgen für ihre Nachkommen und suchen ihren Angehörigen das Senats-Monopol zu erhalten. Die Wachen präsentieren vor ihnen, die Bürgerschaft glaubt an sie, und sie sorgen für das Gemeinwesen, d. h. für die Stadt und deren Gebiet, für ihr Haus und ihren Hof und insonderheit für ihre Söhne, die unter Berücksichtigung der Verdienste ihrer Väter bei Besetzung öffentlicher Ämter, die wenigstens 6.000 Mrk. Banko einbringen, den Vorzug vor Anderen erhalten, eine eben so verzeihliche, wie echt-hanseatische Schwäche; denn auch Bremen und Hamburg bewahren diese charakteristische Eigentümlichkeit des reichsstädtischen Nepotismus, der gewisse Ämter vom Vater auf den Sohn vererben lässt und eben jenes Senats-Monopol in den freien Hansestädten hervorgerufen hat, welches freilich nicht Vater und Sohn neben einander in der Kirche der patres patriae duldet, aber doch dahin sorgt, dass der Sohn in einer guten Aktuarius-Pfründe Entschädigung, für jenen gesetzlichen Nachteil finde und dem Senate wenigstens so nahe — gebracht werde, dass er, nach des Vaters Tode, mit einem Schritt in die ehrwürdige, bemooste Versammlung eintreten könne.

Trotz dieser und so mancher anderen Schattenseiten des Lübecker Senats kann man doch nicht umhin, demselben einen humanen, populären Charakter zuzugestehen. Es fehlt hier jene starre Abgeschlossenheit, jener Beamten-Rigorismus, der so viel auf die äußere Würde hält und es die Bürgerschaft stets fühlen lässt, dass hier ein Hoheitsverhältnis statt finde. Es waltet wirklich in diesem Kollegium ein väterlicher Ton, der es selten zu Spaltungen kommen lässt. Die Bürgerschaft leiht den Vorschlägen des Senats deshalb meistenteils geneigtes Gehör, und es findet aus dem Grunde, weil diese Vorschläge stets die Interessen des Gemeinwesens bezwecken — eine innige Harmonie zwischen dem Rat und den bürgerlichen Kollegien Statt. Spaßhaft ist die Einteilung des Senats in hoch- und wohlweise Mitglieder, je nachdem die Letzteren Gelehrte oder Kaufleute sind; die Hochweisheit klebt hier an der Jurisprudenz, der Handel muss sich mit der Wohlweisheit begnügen: ein Bocksbeutel, der daran erinnert, dass Lübeck fest an alter verschimmelter Sitte hält. Hochedel, hochweise, wohlweise, aus den drei Worten sprechen eine Untertänigkeit und ein Servilismus , welche die Freiheit und Gleichheit auf das Ergötzlichste parodieren. Diese knechtischen Formen, welche man dem Senate gegenüber beobachten muss, eignen sich nicht für die republikanische Einfachheit. Und dann sollte man auch mit der Weisheit keinen Scherz treiben; das „Hoch“ und „Wohl“, welches man derselben auf den Kopf gestülpt, gibt ihr ein philisteröses Ansehen, das der Göttlichen schlecht steht. Die Weisheit ist eine echte Republikanerin, sie lässt sich durchaus nicht von einer Kaste oder einem Kollegium zu einer Leibeigenen machen, und ob man sie mit Titeln, mit „Hoch“ und „Wohl“ ausstattet, sie lässt sich nicht bestechen, sie kommt zu Keinem, der es nicht ehrlich mit ihr meint, wäre er auch ein Senator der freien Hansestadt Lübeck. Es muss fürchterlich mit dem Lübecker Senat ausgesehen haben, als er den Beschluss gefasst hat, die Hochweisheit in den Staatskalender aufzunehmen. Wahrscheinlich zweifelt man hier und da an diesem Privilegium des Senats, und siehe da! der Senat fasste, als regierende Behörde, den einmütigen Beschluss, sich ein für alle Mal die Weisheit beizulegen und dieselbe von dem verstorbenen Senator auf den neuerwählten vererben zu lassen. Die Weisheit wurde somit zu einem Fidei-Kommissgute des hochedlen Rats gemacht. Die Gläubigen können auf keine Weise an das Eigentum kommen, mag der Fideikommissarius auch noch so viele Schulden auf dasselbe gemacht haben, sie müssen sich lediglich mit den Interessen begnügen. Nun können allerdings Jahre des Misswachses eintreten und diese Interessen kaum zur Sustentation des Eigentümers der Weisheit genügen. Da geht dann der Gläubiger ganz leer aus; der Erbe des Fidei-Kommisgutes aber erhält dasselbe, nach dem Tode seines Vorfahren, steht schuldenfrei, und schreibt sich „Seine Hochweisheit, Herr Senator N. N.“ – Ja man muss den alten Sauerteig des reichsstädtischen Unwesens persiflieren; unsere Zeit glaubt einmal an die Interessen der Menschheit, und die werden durch Alles gefährdet, was an die alte Zeit der Devotion, des Hutabnehmens und des Kniebeugens erinnert. Dass diese alte Zeit einst so einfältig war, die Weisheit zu einem Alltagsorden vierter Klasse zu machen und denselben sechzehn reichststädtischen Senatoren an die Brust zu hegten, die Nichts dafür getan, als dass sie ihre juristischen Studien absolviert haben, oder Chefs eines bedeutenden Handlungshauses sind, solches mag man ihr verzeihen; denn die Menschheit war damals eben so einfältig, wie der Zeitgeist, sie glaubte an jene Weisheit. Dass aber die jetzige Zeit diese Hoch- und Wohlweisheit duldet, diesen unverschämten Hochmut, der jedes Jahr von Neuem in dem Staatskalender abgedruckt wird, diese eines Vizekirchen-Vorstehers und Bürgermeisters Staars, würdige Titulatur, darüber muss man sie zurechtweisen; denn die Menschen glauben heut zu Tage nicht mehr an den Staatskalender, wie an ein Evangelium, sie wollen nicht Worte, sie wollen Taten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus den Hansa-Städten