26. Kopf eines jüdischen Fuhrmanns

Und das ist Leibe, der Bruder unseres Josche. Auch ein Fuhrmann. In Polen und Litauen mit seinen wenigen Eisenbahnen und seinen schlechten Straßen spielt der Fuhrmann eine viel größere Rolle als bei uns Er besorgt die Post. Er vermittelt tausenderlei Geschäfte. Der hier ist lange nicht so schlau wie Bruder Josche. Größere Sachen hält er sich gern vom Leibe. „Sogt dos zu main Bruder! Main Bruder hat a Kopp wie a Rabbiner!" versichert er dann und kratzt sich ein Läuschen unter seiner Arbeitskappe fort. Allmählich hat sich das rundgesprochen, dass er sich nichts wichtiges und gewagtes zutraut, und man betrachtet ihn im Gegensatz zu dem gerissenen Josche, der alles macht, mehr als Kaufmann zweiter Gilde. Dies hat ihn wiederum verbittert und mit einer stillen Eifersucht gegen den Bruder erfüllt, der ihm im Lichte steht. Sein Gesicht hat etwas Griesgrämiges bekommen. Sein Mund hat den Ausdruck eines, der sich ständig zurückgesetzt fühlt, angenommen. Äußerlich vertragen sich die beiden Brüder ganz leidlich. Sie helfen einander beim Aufladen. Sie gehen zusammen am Freitag Abend in das Betharnidrasch, das Lehrhaus, wie die Synagoge heißt. Aber Gott bürgt nicht dafür, dass nicht einmal eines Abends im dunklen Hof oder auf einer finstern Treppe an einer Galerie, die um ihre Hinterhäuser führt, Leibe plötzlich den klügeren angeseheneren und reicheren Bruder mit einem echten Wilnaer Fluch vorn am Rockkragen packt und einmal durcheinanderschüttelt: „Sollst haben a schwarz Johr, Du Rosche!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland