19. Die verschwundenen Denkmäler in Wilna

Das Standbild Puschkins naht sich suchend dem Sockel des Murawieff-Denkmals: Verfluchte Finsternis! Ich muss mich verlaufen haben. Ich finde meinen Sockel nicht mehr. Dank der verwünschten Sparsamkeit mit dem Licht, die diese Deutschen in Wilna eingeführt haben. Ach! Da steht er. Endlich!

Murawieff (vom Sockel herab): Was fällt ihnen ein, an mir emporzuklettern! Sie Bummelant! Scheren sie sich weg von hier, sie Dichter! An den Platz, wo sie hingehören! Drüben unter die Bäume am Park! Zwischen die Blumenbeete und die Nachtigallen und den anderen Klamauk! Mein Sockel ist viel zu groß für sie. Sehen sie das nicht selber, sie Träumer?


Puschkin (deklamiert):

O heil'ges Russland, meine stumme Mutter,
Lass mich dir Zunge sein und hör' mich an!

Das Standbild der Kaiserin Katharina (kommt herzu): Quel bruit dans la nuit! Auh, meine Kurzsichtigkeit! Ich hätte mir längst ein Lorgnon aus Paris senden lassen, wenn es mir gestanden hätte. Aber Frauenzimmer mit Brillen sind affreuses. (Suchend.) Hier muss es sein. Enfin! Da ist mein Sockel.

Murawieff (von dem seinigen): Majestät irren! Majestät stehen drüben vor der Kathedrale und nicht hier vor der großen Bibliothek, nach der es Majestät hinzieht. Ich bedaure sehr, ich habe Majestät den Platz nicht angewiesen.

Puschkin: Vernunft, such' dir ein anderes Reich wie Russland!

Die Kaiserin Katharina: Hinunter da oben! Man hat mir auf s Wort zu parieren. Oder man riskiert seinen Kopf. Selbst der meines Gemahls war mir nicht zu hoch, um ihn hinunterzuholen. Weg da, sag' ich!

Murawieff: Es tut mir leid, unhöflich sein zu müssen, Majestät. Majestät hätten früher kommen müssen. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Man hat mich oft genug hier wegekeln wollen, mich, den Bezwinger Litauens. Aber ich habe eine eherne Stirn, Madame. Selbst vor Zarinnen.

Puschkin: Schämst du dich nicht, deine erhabene Monarchin so anzubellen, du Bulldoggenkopf! Mach' Platz da! Oder ich nehme dir den Stock aus der Hand. Verstanden?

Die Kaiserin Katharina: Merci, mon poète!

Murawieff: Suchen wir wieder Duelle? Sie Skandalmacher! Haben wir nicht genug Unfug angerichtet unter der jeunesse doreée in Petersburg! Man hätte ihn nach Sibirien verbannen sollen.

Die Kaiserin Katharina: Grâce aux poètes! Wir haben ohnedies allzuwenig Singvögel bei uns.

Murawieff: Einen hübschen Kumpan haben sich Majestät an dem Reimdrechsler da ausgesucht. Potemkin war mir lieber an eurer Seite.

Puschkin: Unverschämter! Meinst du, du könntest mit mir wie mit einem Polen umspringen? Ich bin ein Moskowiter. Mach' Platz für deine Kaiserin, du Büttel (Er zerrt hinten an seinen Umformschößen.)

Murawieff: Die Hände weg! Keine Vertraulichkeit! Ich pflege mich nicht mit betrogenen Ehemännern zu duzen.

Puschkin: Du hast lange genug deinen Fuß auf Litauen gesetzt. Ich werde der Brutus dieses Landes sein. (Er zieht ihn vom Sockel herunter.)

Murawieff: Meine Nagaika her! Wo ist meine Nagaika? Man hätte sie mir auf mein Denkmal mitgeben sollen. Ich werde ihn prügeln wie einen Ruthenen.

Puschkin: In den Staub mit dir! Ein neues Russland, ein revolutionäres dämmert herauf. Aus deinem Moder wächst der Freiheitsbaum. (Sie schlagen sich aufeinander losprügelnd nach Russland.)

Die Kaiserin Katharina (hinter ihnen her): Helas! Welch' eine Verwirrung herrscht in meinen Landen!

Die drei Sockel bleiben leer und kopflos.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland