18. Nikolauskirche in Wilna

Wie manche Wandlungen haben die Kirchen durchgemacht! Ich sah welche, darinnen Pferde standen und Heu aus ehemaligen Beichtstühlen fraßen. Ich sah Moscheen, in deren Gebetnische die Schweine wühlten. Ich sah Synagogen, in denen Gefangene eingesperrt waren und sich auf den Betbänken wälzten. Das Allerheiligste war von den Kosaken erbrochen und beraubt Und wo ehedem die Thorarollen lagen, hingen jetzt die Wärter ihre Tabakspfeifen auf. Oben, wo die Frauen gesessen hatten, trocknete die schmutzige und durchschwitzte Wäsche der Russen. Ich sah Kapellen, in denen Mehl aufgespeichert wurde und solche, darinnen herrenlose Hühner herumflatterten.

Am besten ist es noch den Kirchen ergangen, die ihrer Bestimmung erhalten geblieben sind und nur gleichsam ihre Konfession gewechselt haben. Ich meine die Kirchen, die man, ohne etwas an ihrer Ausschmückung und ihrem Zierrat zu ändern, zu Garnisonkirchen für unsere Feldgrauen gemacht hat, wie jene, in der Hindenburg allsonntäglich betet und diese Nikolaus- oder Kasimir-Kathedrale in Wilna, die während der Kriegsdauer zum evangelischen Gottesdienst bestimmt worden ist Sie hat schon einmal ihren Glauben ändern müssen. Damals, anno 1832, als die Russen diese ehrwürdige Barockkirche, in der schon über zweihundert Jahre lang litauisch und polnisch gepredigt worden war, einfach rücksichtslos über Nacht zur griechisch-katholischen Kathedrale erhoben. Statt dem heiligen Kasimir hatte sie fortan dem heiligen Nikolaus zu dienen. Der Ikonostas, die Bilderwand, mit ihren der antiken Theatereinrichtung nachgeahmten drei Türen, wurde vor das Allerheiligste gerückt, der plastische Schmuck entfernt Und wo einst ein einheimischer Priester nach römischer Satzung die Messe gelesen hatte, stand jetzt zwischen dem Glanz hoher Kerzen ein russischer Pope, die hohe zylinderförmige Mütze auf seinem Kopf und segnete seine winzige Gemeinde. Heute predigt dort an Sonntagen in der violetten Feldtracht ein evangelischer Pfarrer zu den Soldaten, die das Gotteshaus füllen. Und seine Stimme hallt erschütternd von den Wänden wieder, wenn er die Worte spricht: „Denn tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag und wie eine Nachtwache."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland