15. Litauischer Friedhof

Nirgends in der Welt, außer vielleicht noch in Tirol, sieht man so viele Kreuze wie in Litauen. Es ist, als müssten die Kreuze sich hier, wo das Christentum verhältnismäßig am spätesten im Abendlande eingezogen ist, noch besonders hervortun. Gleich hohen Masten stehen sie einzeln an der Dorfstraße, an Feldrainen und Kreuzwegen. Zusammengeschart findet man sie auf den Friedhöfen Litauens, wo sie aus den Gräbern aufwachsen wie große düstere Lilien. Oft sind die Arme des Kreuzes mit zackigem Schnitzwerk verziert, das blau, rot oder grün bemalt ist, und leuchtet wie ein bunter Bauernblumenstrauß. In der Mitte an dem Kreuzpunkt der beiden Arme sieht man häufig unter einem Schutzdach eine kleinere Darstellung der Kreuzigung. Auch findet man hier und da auf einem glatten hohen Pfahl einen pausbäckigen Engel oder einen Heiligen unter einer Umdachung stehen, die oft geradezu einem Regenschirm ähnelt. Doch sind dies Erzeugnisse einer späteren Zeit und stammen gewöhnlich aus dem Barock. Die echten alten litauischen Grab- und Wegkreuze tragen fast ausnahmslos auf ihrer Spitze noch ein kleines eisernes Kreuz, das sie gleichsam ins Quadrat erhebt. Diese kleinen Kreuze sind die für Litauen höchst eigentümlichen Strahlenkreuze, die schon zur Heidenzeit dort als Sinnbilder der Sonne und des Feuers bekannt waren. Die Strahlen sind stachelig oder zickzackförmig gewunden oder verzweigt und enden nicht selten in Sternchen, die an ihrer Spitze zu knistern scheinen. Schief von der Zeit geneigt, grüßen diese hohen Grabkreuze als Wahrzeichen der Toten, mit denen das litauische Volk wie kein anderes in beständiger ängstlicher oder freundlicher Berührung lebt, den vorüber Wandernden oder Fahrenden. Besonders im Winter wirkt es oft unheimlich, wenn aus der weißen Schneefläche, die das ganze Land zudeckt, die schwarzen hohen Kreuze herausragen und einem mit ernstem Finger zu winken scheinen. Und unvergesslich wird jedem der Anblick eines litauischen Friedhofs im Winter in Erinnerung haften geblieben sein, wenn gegen das blutende Abendrot sich die düsteren Umrisse einer solchen Kreuzgruppe abhoben wie die Schatten von Golgatha.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland