16. Rachel

Sie ist weich und verträumt und ein wenig zur wehmütigen Schwärmerei geneigt. Sie versteht nichts von Politik, gar nichts. Das ist ihr viel zu langweilig. Sie spricht und versteht auch keinen Jargon. Chass wescholem! Gott behüte, wollt' ich sagen. Sie hasst, jiddisch zu sprechen. Sie unterhält sich nur russisch oder auch französisch. Sie liest Heine im Deutschen und weiß, was Nietzsche sich unter dem Übermenschen gedacht hat. Natürlich weiß sie das. Und sie ärgert sich darüber, dass wir uns wundem, dass sie dies weiß. Auf die Frage: „Kennen Sie Therese Raquin?" lächelt sie bloß mitleidig sanft oder bemerkt ironisch: „Nicht nur aus dem Kino wie Sie!" Ihre großen schwarzen Augen haben so viel gelesen. Sie schauen ganz erwartungsvoll in die Welt und das Leben, ob und wann es nun endlich romanhaft zu werden beginnt. Und auch ihr Mund möchte gern etwas davon wissen. Aber es ist ja alles so traurig, so traurig auf der Erde. Da geht sie ans Klavier und spielt: Einen schwermütigen Tanz von Chopin, dem armen Flüchtling, dem vaterlandslosen Polen, dem größten des armen Volkes, unter dem sie als Juden hier leben wie Schatten zwischen Schatten. Finster zieht sie die orientalischen Brauen in die Höhe und ein paar Tränen fallen auf die Tasten des Klaviers. Eine Anverwandte kommt herzu, schaut sie an und fragt neugierig: „Hast Du geweint, Rachel?" Gleich hört sie auf zu spielen und klappt den Deckel zu. „Du bist wohl meschugge? Ich denke nicht dran. Das Leben ist in Prosa geschrieben."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland