06. Litauischer Knabe

Er hat lange Zeit „auf der Straße gelegen", wie man sagt. Man sieht es ihm noch an, es lässt sich nicht leugnen. Monatelang hat er sich mit seiner Schar Freunde frei wie die Spatzen in Kowno herumgetrieben. Bald auf dem Nicolajewski-Prospekt, der jetzigen Kaiser Wilhelm-Straße, wo es stets etwas zu gaffen gibt. Bald an dem Memelufer auf den Flößen oder Kähnen, die da herumliegen. Auch die Einnahme von Kowno hat er mitgemacht. Das heißt, als die deutschen Kanonen zu heftig schössen, ist er in einen Keller gekrochen, in dem schon zehn Menschen, drei Hunde und fünf Hühner waren.

Doch nun hat das Karl Maysche Indianerleben für ihn aufgehört. Die Deutsche Verwaltung hat sich auch seiner angenommen. „Liaudes mokykla Litauische Volksschule" steht vor einem Haus, in das er nun täglich hineinspazieren muss. Anfangs war er ganz wütend darüber, richtig fuchsteufelswild, und hat mehrfach zu schwänzen versucht. Aber als er eingesehen hat, dass er dadurch das Versäumte doppelt nachholen muss und sich zudem noch vor den Fleißigeren blamiert, hat er sich auf seine Hosen gesetzt. Er kann jetzt schon besser lesen und schreiben als sein Vater, der ihn voll Stolz wie einen Gelehrten anschaut, wenn er ihm die „Dabartis" so geläufig vorbuchstabiert wie der Pfarrer. Und seine Mutter träumt zuweilen davon, dass ihr Sohn vielleicht selber einmal Geistlicher werden könnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland