05. Paradeplatz in Kowno

Die Kirchen und Häuser um den Paradeplatz von Kowno tragen vielfach noch Spuren von Flintenkugeln und Maschinengewehrschüssen. Wie blatternarbige Menschen sehen die also Getroffenen aus. Ich muss mir bei ihrem Anblick immer die ersten unserer Soldaten vorstellen, die hier eingedrungen sind. Nicht diejenigen, die feierlich und geordnet in die eroberte Stadt einzogen. Sondern die, welche vor ihnen zuerst vordrangen. Wie Abenteurer. Das gefällte Gewehr im Arm. Schritt für Schritt. Hinter den fliehenden Russen her. Mit welchen Augen mögen sie dies alles betrachtet haben: Das von ein paar Granatsplittern verbogene Gitter um das blaue gusseiserne Kegeldenkmal, das Mauerwerk der Häuser mit den unheimlich verrammelten Fenstern und verschlossenen Türen, den glockenlosen Turm der ihrer Stimme beraubten litauischen Kirche. Knattert nicht noch ein Maschinengewehr aus dem Turmfenster, wo einst sanfte Glocken hingen? Lauert nicht der Tod hinter jener Straßenecke? Ach, dass vielleicht einer von denen, die es erlebt haben und „dabei" gewesen sind, diese Zeilen lesen und diese Zeichnung sehen möchte! „Das sind ja die Häuser, die du damals anstarrtest, das die Turmfenster, in die du hineinschossest, um dich vor Hinterlist zu schützen!" sagt er sich dann und fragt sich schaudernd: „Auf welchem fremden Stern hast du gelebt in jenen Tagen?" Und ein Glücksgefühl ohnegleichen, dass er jene hinreißende Zeit durchgemacht hat, überströmt ihn.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland