04. Alte Litauerin im Gebet

Nirgends in der Welt wird mehr gebetet als in Litauen. Wer nach der Arbeit oder zwischen ihr ein freies Viertelstündchen hat, der tritt in die Kirche, sinkt auf die Knie und spricht mit seinem Herrgott. Und am Sonntag hört die Kirchzeit kaum auf. Bis ein Uhr und länger dauert das Hochamt, und gleich nach drei Uhr fängt schon die neue Andacht wieder an. Bet' nur ruhig weiter, Marijona, altes Mütterchen! Brauchst nicht vor uns Feldgrauen zu erschrecken, die wir in Deine Kirche hereintreten und unsere Augen ehrfürchtig an den bunt gemalten hölzernen Heiligenbildern vorüberstreifen lassen. Dies ist Dein Himmel auf Erden, die farbige Herrlichkeit Deiner Pfarrkirche mit der ewigen Lampe, deren Licht zu Dir herüberzittert und auch in Deiner dumpfen Seele nachleuchtet. Hier hast Du gekniet, selbst in den fürchterlichen Stunden, da die Kugeln draußen in die Kirchenmauern klatschten und dann und wann eine durch die farbigen Fenster hineinpfiff und die Luft, die voll Weihrauch und Gebeten hing, wie ein Lachen des Satans durchschnitt.

Bet' nur ruhig weiter, Marijona, altes Mütterchen! Wer will Dir Deinen Himmel rauben, der heller als Dein weißes Kopftuch über Dir schwebt! In Deiner eigenen Sprache darfst Du beten, die Dein Herrgott versteht. Wir Deutschen werden Dir Dein Gebet nicht vorschreiben und Dir keine griechische Kapelle neben Deine Kirche setzen mit einem Popen, der sich mästen darf, um Sonntags dem russischen Gendarmen und dem Amtmann und den leeren Bänken etwas vorzusingen. Wir Deutsche haben eine einzige gute Eigenschaft: Wir achten fremde Sprachen. Aber man schenkt uns keinen Dank dafür. Bet' nur ruhig weiter, Marijona, altes Mütterchen! Die Welt ist schlecht. Man muss sich durchbeten oder durchbeißen. Und selig sind die, denen beides wohl gelingt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Skizzen aus Litauen, Weißrussland und Kurland