9. Die Freunde. - In der ersten Zeit, als Ivo ins Kloster zurückgekehrt war, überfiel ihn wieder das alte Heimweh. ...
9. Die Freunde. - In der ersten Zeit, als Ivo ins Kloster zurückgekehrt war, überfiel ihn wieder das alte Heimweh. Er machte sich Vorwürfe, daß er die Vakanz nicht recht genossen habe, daß er sich von Dingen verstimmen lassen, die nicht einmal so arg waren, wie sie schienen; aber er hatte sich vorgenommen, es dem Aloys nachzuthun und seine Mutter mit kläglichen Briefen nicht noch mehr zu betrüben.
Dadurch, daß Ivo früher in Gedanken immer zu Haus war, hatte er sich gar nicht in seine neuen Verhältnisse und in das Zusammensein mit den Kameraden eingelebt, das sollte jetzt anders werden.
„Man kann alles, wenn man nur recht will, hat meine Mutter gesagt; das soll mein Wahlspruch sein.“
Ivo und Klemens hatten sich herzlich bewillkommt, die andern Kameraden waren dabei, ein jeder hatte viel zu erzählen. Mittags auf dem Spaziergange blieben Ivo und Klemens wie auf eine geheime Verabredung zurück, und hinter einer blühenden Schlehdornhecke, wo es niemand sah, fielen sie, ohne ein Wort zu reden, sich um den Hals und küßten und herzten sich inniglich. Die Lerchen jubelten hoch in den Lüften, und die Schlehblüten regten sich von einem sanften Winde. Freudeverklärten Antlitzes, ein jeder seinen Arm um den Nacken des andern geschlungen, so kehrten sie wieder auf die Straße zu den vorausgegangenen Kameraden zurück. Ivo sagte nur, aus einer langen innerlichen Rede heraus, laut die Worte: „still und heilig!“ und schaute dabei in das hellleuchtende Auge seines Klemens, sie reichten sich schweigend die Rechte und hielten sie fest, dann schlug Klemens den Ivo und sprang von ihm fort zu den andern. Ivo verstand wohl, daß sie ihren geheimen Liebesbund ja recht sicher vor den andern verbergen sollten. Sie gingen dann mit den andern, aber bald faßten sie sich wieder und schlugen sich neckend, nun suchte der eine dem andern zu entrinnen, dieser ihn wieder einzuholen, so waren sie abermals eine Weile allein, und in scheinbarem Ringen drückten sie einander innig ans Herz und „lieber Ivo“, „lieber Klemens“ hieß es immer.
So erfinderisch war schon diese junge, plötzlich wie eine Knospe aufgebrochene Freundschaft.
In den Herzen der beiden Knaben war von nun an ein neues, wonneseliges Leben. Ivo hatte noch nie einen „Herzbruder“ aus seinem Alter gehabt, Klemens hatte sich bei den vielen Wanderungen seiner Familie nur an seine ältere Schwester angeschlossen.
Jetzt, wenn Ivo erwachte, schaute er freudig um sich und sagte: „Guten Morgen, Klemens,“ obgleich dieser in einem andern Zimmer lag. Er war in der Fremde nicht mehr fremd, das Kloster war kein Ort des Zwanges und des unerbittlichen Gesetzes mehr, er that alles willig, denn sein Klemens war ja bei ihm. Nun brauchte er sich nicht mehr vorzunehmen, fröhliche Briefe nach Hause zu schreiben, sein ganzes Leben war nur noch ein hochgestimmter Freudenklang, und die Mutter Christine schüttelte oft den Kopf, wenn sie seine hohen Redensarten las. Klemens, der zu Hause eine große Menge Ritterbücher und Märchen gelesen hatte, eröffnete unserm Freunde einen ganzen Zaubergarten voll Wunder; er machte sich und Ivo zu zwei verwünschten Prinzen, den Direktor zu dem Riesen Goggolo, und eine Zeitlang redeten sich die beiden Freunde immer in den gegebenen Rollen an.
Die Welt der Wunder und der Märchen, die das Rätsel des Daseins durch neue, selbstgeschaffene Abenteuerlichkeiten zu überbieten und so gewissermaßen die alltägliche Welt zu erklären strebt, der ganze selbstvergessene Taumel einer kindlich spielenden Phantasie, war Ivo bisher fern geblieben; das, was ihm Nazi erzählt hatte, lehnte sich noch zu sehr an das rohe Feld- und Waldleben, wußte nichts von unterirdischen Schlössern aus lauter Gold und Edelsteinen; die Wundergeschichten der Religion hatte Ivo mit kindlich gläubigem Gemüte hingenommen, sie waren schlicht und ernst: – nun aber eröffnete ihm sein Freund die goldenen Thore der Phantasie, und sie lustwandelten behaglich in den Zaubergärten und in den Palästen unter dem Meere.
Die Schlehdornhecke ward von unsern Freunden als der heilige Freundschaftsbaum betrachtet, nie gingen sie vorüber, ohne einander anzusehen und dann nach der Hecke zu schauen. Ivo, den wir schon als bibelfest kennen, sagte einmal: „Uns ist es grad gegangen wie dem Moses, dem ist Jehovah im Dornbusch erschienen, der hat gebrannt: und ist doch nicht verbrannt. Jehovah, weißt du auch noch, was Jehovah heißt – Ich bin, der ich sein werde, das ist das Futurum von Hava. Gelt! auch im Futurum werden wir Freunde sein, wie wir sind?“
„Ich will dir einmal was erzählen,“ erwiderte Klemens. „Es ist einmal eine Prinzessin auf einer Insel gewesen, die hat aber nicht, wie die alt’ Bas in der Bibel, Lea geheißen, sondern Schleha, die hat auch keine roten Augen gehabt wie jene, sondern ganz schöne dunkel dunkelblaue; die hat aber gar keinen Dorn leiden können, das kleinst’ Dörnle war ihr ein Dorn im Auge, und wenn sie eins gesehen hat, da hat sie gleich gottsjämmerlich geschrieen: ›O weh, das sticht mich, ich spür’s schon in meinen schönen dunkel dunkelblauen Augen‹; und da hat man auf der ganzen Insel alles, was Dornen gehabt hat, plutt abschneiden und bis aufs kleinste Würzele ‘naus ausgraben müssen, und wie die Prinzessin gestorben ist, da hat man sie begraben, und zur Straf’, weil sie hat keine Dornen leiden können, sind aus ihren zwei Augen ‘raus zwei Dornhecken gewachsen, die tragen aber auch ganz schöne dunkel dunkelblaue Augen, wie die Prinzessin gehabt hat, und man heißt’s auch Schlehe.“
So beendigte Klemens mit triumphierendem Lächeln seine Erzählung.
Ivo betrachtete ihn mit heiterer Miene. Ach, es war gar zu schön, was Klemens erzählte. Wie eine glänzende Perlschnur reihten sich seine lieben Worte aneinander; alles, was doch der Clemens that und sagte, war so schön, wie sonst gar nichts auf der weiten Welt.
Auf Veranlassung Ivos hatten sich’s die Freunde gelobt, recht große Männer zu werden, und sie eiferten sich nun gegenseitig zu dem ausdauerndsten Fleiße an. Alles wurde ihnen leicht, da ein jedes dem andern zu lieb handelte. Ivo ward sogar von dieser Zeit an über ein Jahr lang Primus, mit Klemens aber ging oft seine Phantasie durch. Alles, was er sah, regte ihn an, er vergaß dann das nächste; von den Lehrern gefragt, erwachte er oft wie aus einem Traume und gab zerstreute Antworten.
Der geheime Bund konnte indes den andern Mitschülern nicht lange verborgen bleiben; denn wie Liebende sich oft lange für unbemerkt halten, während sie sich die offenkundigsten Zeichen der Zuneigung gehen, so erging es auch unsern Freunden. Die hohe Stellung Ivos machte, daß die hieraus entstehenden Spöttereien und Neckereien nicht lange dauerten, ja es drängten sich alsbald noch mehrere in den Freundschaftsbund; aber die Pforten waren streng geschlossen, besonders Klemens wachte sorgsam, und die Fremden zogen sich bald zurück. Nur als Bartel sich mit großer Untertänigkeit zu den beiden gesellte und offen um ihre Freundschaft bat, da nahm ihn Ivo auf. Er durfte sich nun auf den Spaziergängen zu ihnen halten, auch in Hof und Garten bei ihnen sein. Der Bartel war, wenn er vollauf gegessen hatte, ein gar eifriger und wißbegieriger Knabe, er that gern alles, um nur auch recht geschickt zu werden und auch obenan zu sitzen; so lieb er daher Ivo und Klemens hatte, so war ihre hohe Stellung doch auch mit ein Grund seiner Annäherung; in das innerste Heiligtum ihrer Freundschaft, das hatte sich Klemens vorausbedungen, wurde jedoch Bartel nicht zugelassen.
Von ihren phantastischen Spielereien gelangten unsre Freunde auf ein andres Gebiet, das sich mehr der Wirklichkeit näherte; in dem hohen Schwunge ihres Strebens suchten sie sich nämlich erhabene Vorbilder, Ideale.
Man hatte einst einen größern Spaziergang Blaubeuren zu unternommen; dort, auf einem hohen Berge, auf einem Felsenvorsprung, wo man das liebliche Thal der Blau überschaut und fernher das Ulmer Münster und die Donau erblickt, dort, hatte Klemens angeordnet, sollten sie sich ihren Fund offenbaren.
Auf dem Vorsprunge des Berges saßen nun die drei Knaben und schauten hinaus in die endlose Ferne.
„Wer ist dein Ideal, Ivo?“ fragte Klemens
„Sixtus. Meine gute Mutter, die sagt immer: man kann alles erreichen, wenn man rechtschaffen will, das hat Sixtus auch gezeigt.“
„Du willst also auch Papst werden?“
„Wenn’s geht, warum nicht – Ich will jetzt einmal.“
„Und ich,“ sagte Klemens, „ich habe mir einen viel Unheiligern gewählt, mein Ideal ist Alexander der Große.“ Er erklärte nicht, inwiefern er ihm nacheifern wolle, denn Bartel fragte in weinerlichem Tone:
„Wen soll ich mir denn zum Ideal nehmen?“
„Frag den Direktor,“ erwiderte Klemens ernsthaft, Ivo Schweigen zuwinkend.
Bartel merkte sich die Rede des Klemens, und als man heimgekehrt war, ging er zum Direktor, klopfte an, und auf das „Herein“ trat er in die Stube und sagte zitternd und stockend:
„Herr Direktor, verzeihen Euer Hochwürden, ich hab’ Sie bitten wollen, ich möcht’ mir gern ein Ideal wählen, ich weiß nicht, wen soll ich mir denn nehmen?“
Der Direktor stand eine Weile still, dann sagte er, den Finger nach oben erhebend: „Gott.“
„Ich dank’ vielmal, Herr Direktor,“ sagte Bartel, sich verbeugend und die Stube verlassend. Er sprang schnell zu seinen Freunden und rief frohlockend: „Ich hab’ eins, ich hab’ jetzt auch ein Ideal.“
„Wen denn?“
„Gott,“ sagte Bartel, ebenfalls den Finger nach oben erhebend.
„Wer hat dir denn das verraten?“ fragte Klemens neckisch und zupfte dabei den Ivo.
„Der Direktor.“
Ivo kehrte sich aber nicht an die stille Ermahnung seines Freundes, sondern setzte dem Bartel auseinander, wie man sich nur figürlich Gott zum Ideal nehmen könne, da man ja nie allmächtig oder allwissend werde; freilich bleibe Gott das höchste Endziel, aber dazwischen seien die Heiligen da, die stünden uns näher, bei denen könnten wir leichter mit unserm Gebet ankommen, und wenn’s geht, könnten wir auch werden wie sie.
„Heiliger Ivo, ich will nichts von dir,“ sagte Klemens und ging zornig davon; ihn ärgerte, daß Ivo jeden Spaß verdarb, und er redete den ganzen Abend und den andern Morgen kein Wort mit ihm.
Auch sonst war der Bartel vielfach Veranlassung zu Zerwürfnissen zwischen den Freunden. Klemens hatte sich in den Kopf gesetzt, die ganze volle Freundschaft seines Ivo sei ihm durch den Eindringling geschmälert. Er nahm nun allerlei Gelegenheiten wahr, um seiner Eifersucht Nahrung zu geben. Einst sprach er deshalb mit Ivo acht Tage lang kein Wort, nur seine Blicke verfolgten ihn überall, wie mit einer wahnsinnigen Leidenschaft; am letzten Abende warf er Ivo ein Zettelchen auf sein Buch, worauf die Worte standen: „Heute nacht, Schlag zwölf Uhr, kommst du auf den Kirchturm, oder wir sind auf ewig geschieden.“
Von den grausamsten Qualen gemartert, wälzte sich Ivo auf dem Lager, er fürchtete, die Frist zu verschlafen, und zählte jede langsame Viertelstunde. Als der erste Schlag von Zwölf ertönte, huschte er aus seinem Zimmer; aus dem andern, worin Klemens war, kam dieser ebenfalls. Schweigend gingen sie miteinander den Turm hinan, der letzte Ton hatte ausgeklungen, da begann Klemens:
„Gib mir deine Hand darauf, daß du von dem Bartel ganz lassen willst, wo nicht, so stürz’ ich mich da grad hinab.“
Ivo stand schaudernd und faßte die Hand seines Freundes.
„Kein Wort! Ja oder Nein!“ knirschte Klemens.
„Nun ja, ja! Der arme Kerl dauert mich, aber du bist ganz verwildert in den acht Tagen.“
Klemens umarmte und küßte Ivo, dann stieg er schweigend die Treppe hinab und verschwand in seinem Zimmer.
Andern Tages war Klemens wie zuvor, heiter und innig. Ivo durfte beim Tageslicht nie von jenem nächtlichen Begebnis sprechen, der Bartel tröstete sich auch bald über seine Verabschiedung.
Während der unruhige Geist des Klemens in allerlei Seltsamkeiten abenteuerte, fühlte Ivo eine andre Unruhe. Das Wachstum seinem Körpers war fast noch rascher vorgeschritten als das seines Geistes, er war lang und breitschulterig; aber wenn er so an dem Pulte vor den Büchern saß, da raste alles Blut wild in ihm, und er stand oft auf, sich gewaltsam bäumend und reckend. Er hätte gern irgend eine gewaltige Last frei in die Höhe gehoben, aber es bot sich ihm nichts als eine schwere Periode irgend eines klassischen Autors. An dem Turnen, das nur sehr mangelhaft betrieben wurde, hatte Ivo keine rechte Freude; er wollte etwas thun, eine wirkliche Arbeit vollbringen. Wenn er dann mit seinem Freunde draußen spazieren ging, klagte er oft, daß er nicht pflügen und nicht schneiden dürfe. Er war von Kindheit auf an Körperthätigkeit gewöhnt, später hatte der Gang nach der lateinischen Schule die Bewegung in der Arbeit ersetzt; nun aber war es ihm wie einem Riesen, dem man statt der Keule eine Nähnadel in die Hand gegeben.
Einst sagte er zu Klemens: „Guck, das ist mir so arg, daß ich mit der Bibel nicht recht einig bin; da ist die höchste Straf’ für die Erbsünd’: ›daß der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein Brot essen soll‹. Daß man recht schaffen muß, das ist ja grad das größte Vergnügen.“
„O du!“ erwiderte Clemens, „was geht dich das Alte Testament an? das ist für die Juden, und für die paßt’s, denen ist Schaffen das ärgste Kreuz.“
Es ist wunderbar, wie Klemens diesen bekannten Kniff der Theologen, wenn sie sich mit dem Alten Testament nicht mehr helfen können, aus sich selber fand. Klemens blieb aber nicht bei derlei Erörterungen, er vertraute vielmehr auch seinerseits seinem Freunde, wie es ihn dränge, mit Gefahren zu kämpfen, fremde Länder und Gebiete zu durchstreifen. Die beiden Freunde redeten sogar viel von einer Flucht aus dem Kloster. Sie malten sich’s gar schön aus, wie sie auf einer unbewohnten Insel ankämen, wo sie mit den wilden Tieren kämpften und den Boden zum erstenmal umpflügten. Es blieh indes bei dieser Gedankenflucht; die Gesetze des Klosters und die Familienbande hielten sie in der Heimat fest.
Die Innigkeit der beiden Freunde nahm fast mit jedem Tage zu, und so verschieden auch ihre Charaktere waren, sie fanden sich doch einig in der Liebe.
Ivo ließ es ohne Trübsal geschehen, daß er seinen ersten Platz verlor und sogar so weit hinunterrückte, daß der Bartel über ihn kam; diese äußerliche Hintansetzung freute ihn fast, sie bekundete seine Unlust an dem Studium. Das Bewußtsein, daß er mehr war, als es schien, that ihm wohl, es gab ihm eine gewisse Selbständigkeit, eine gewisse Abgeschlossenheit der Außenwelt gegenüber. Mit den untersten Dienern des Klosters, mit den Holzhackern, schloß Ivo einen geheimen Bund. Mit einem Eifer, als gälte es, die ganze Erdkugel zu zerspalten, führte er im geheimen die Axt, bis endlich ein Professor diese Ausschweifungen gewahr wurde und Ivo dafür im Karzer büßen mußte.
So war Ivo von dem ersten und fleißigsten der Schüler zu einem der letzten und widerspenstigsten herabgesunken.
Wenn die Vakanz kam, trennten sich die beiden Freunde mit fieberhafter Wehmut; sie trösteten sich mit dem Wiedersehen und wünschten doch, nie mehr in das Kloster zurückzukehren. Auf dem Wege erschien dann Ivo die Welt nicht mehr so schön, die Leute nicht mehr so gut; denn die Welt in ihm hatte eine andre Gestalt angenommen.
Zu Hause zog sich Ivo nicht mehr so streng von Konstantin zurück, das Leben in seinem elterlichen Hause erschien ihm nicht mehr so gedrückt; er sah, daß fast kein Mensch auf Erden, für sich allein betrachtet, ganz glücklich ist, daß also eine Gemeinschaft des Lebens, in der Ehe, in der Familie, auch manches Unvollkommene und Unglückliche haben muß.
Die Welt der Ideale war ihm eingesunken. Nur manchmal erhob er sich noch in innigem Gebete über alle Mißlichkeiten und Herbheiten des Daseins, aber auch selbst in die himmlischen Heiligtümer verfolgte ihn bisweilen der Gedanke der Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit. Er war sehr unglücklich. Die Leute hielten sein verstörtes Aussehen für eine Folge des Studiums. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wenn ihn seine Mutter bat, sich nicht so übermäßig beim Studieren anzustrengen; er konnte der guten Frau nicht klar machen, was ihn bedrückte; war es ja ihm selber nicht klar.
So, in der Fülle der Lebenskraft stehend, fühlte er sich doch lebensmatt und kampfesmüde; er hatte das Rätsel des Daseins noch nicht überwunden und glaubte, daß nur der Tod es löse.
In der vorletzten Vakanz, vor dem Abgange nach Tübingen, erfuhr Ivo einen herben Verlust; er traf seinen Nazi nicht mehr im Hause. Das Gretle hatte sich mit Xaver verheiratet, der Widerspruch des Vaters war endlich besiegt worden, und sie war mit nach Amerika gezogen; jetzt fehlte es an weiblicher Hilfe im Hause, die Söhne Valentins konnten das Feldgeschäft schon allein besorgen, und so wurde der Nazi verabschiedet; er war fortgegangen, ohne zu sagen, wohin. Der Taubenschlag war leer, und die Tiere im Stalle schienen mit Ivo um den fernen Freund zu trauern.
Freilich war Emmerenz dafür als Magd ins Haus gekommen. Sie war ein starkes, munteres Mädchen geworden, etwas kurz und untersetzt, so was man „mockig“ nennt, man konnte sie wohl zu den Hübscheren im Dorfe zählen; aber Ivo widmete ihr längst keine Aufmerksamkeit mehr, die Liebe zu seinem Klemens hatte sein ganzes Herz erfüllt. Es waren Vakanzen vorübergegangen, in denen er Emmerenz nicht einmal angesprochen. Jetzt betrachtete er sie bisweilen verstohlen, schnell aber wendete er dann, wenn er dessen inne wurde, den Blick. Nur einmal, als er sie im Stalle so freundlich walten sah, sagte er: „Das ist brav, Emmerenz, daß du das Vieh gut versorgst; gib nur auf den Falb und die Algäuerin recht acht.“
„Ich weiß wohl,“ erwiderte die Angeredete, „das sind deine alten Lieblinge; guck, das gefällt mir jetzt, daß du sie so gern hast,“ und gleichsam um einen alten Klang aus seiner Kindheit in ihm zu wecken, sang sie, während sie der Algäuerin Futter aufsteckte:
Da droben auf’m Bergle,
Da steht e weißer Schimmel,
Und die brave Büeble
Kommet alle in Himmel.
Und die brave Büeble
Kommet et allein drein,
Und die brave Mädle
Müsset au dabei sein.
Ivo ging still davon, hinaus in das Veigelesthäle, wo er einst einen ganzen Tag mit dem Nazi „gezackert“ hatte; er meinte fast, er müsse hier eine Kunde von ihm finden. Er beneidete seine Brüder, die hier arbeiteten, die am elterlichen Tische mit den Ihrigen Freud’ und Leid teilten, die niemand als ihren natürlichen Obern zu gehorsamen hatten.
Mit erneuter Innigkeit schloß sich Ivo nach der Rückkehr ins Kloster an seinen Klemens an; er mußte ihm jetzt auch den verlorenen Nazi ersetzen.
Der letzte Sommer, der nun in Ehingen zu verleben war, bracht auch mannigfache Abwechselung. Klemens war aus einer großenteils protestantischen Stadt; er kannte daher mehrere von den Klösterlingen in Blaubeuren, die etwas mehr Freiheit hatten; sie kamen nun bisweilen nach Ehingen, gingen zum Direktor; einer sagte, daß er ein Landsmann von Klemens, der andre, daß er desgleichen von Ivo sei, und so andre von andern. Die Landsleute erhielten nun einen Mittag frei, und im nahen Dorfe, unter fröhlichen Liedern, das volle Glas in der Hand, trank Ivo manchen Schmollis mit den protestantischen Klösterlingen. Sie waren beiderseits nicht frei, wenn auch die Blaubeurer einzelne Freiheiten mehr hatten.
Die Studentenzeit stand wie ein lichtglänzender, von Süßigkeiten behangener Weihnachtsbaum vor der Seele aller dieser Jünglinge, und sie rüttelten gewaltsam an den Pforten vor der künftigen Bescherung; sie genossen im voraus die Freude des Burschenlebens, die ihnen doch nicht vollauf werden sollte.
So kam endlich der Herbst. Am Abend vor dem Abschiede gingen Ivo und Klemens nach der Freundschaftshecke, ein jeder brach sich einen Zweig und steckte ihn auf die Mütze, dann reichten sie sich die Hände und schwuren sich nochmals ewige Freundschaft. Ivo versprach noch, seinen Klemens während der Vakanz in Crailsheim zu besuchen.
Das Verlassen eines Ortes, so wenig glücklich man auch in demselben gelebt hat, erregt doch stets eine Wehmut; das Vergangene wird zu einer abgeworfenen Hülle, man kehrt nie mehr als derselbe zu ihr zurück: diese Häuser, diese Gärten und Straßen sind die Geburtsstätten eines ganzen Schicksals. Hier hatten sich die Freunde gefunden, hier hatte sich ihr Geist zu ungeahnter Höhe entfaltet, und mit tiefem Schmerze trennten sich die Freunde von dem Kloster und der Stadt. Sie gelobten, einst, in altersgrauen Tagen, wieder miteinander dahin zu wallfahrten, um die stillen Spielplätze ihrer jugendlichen Gedanken als Männer aufzusuchen.
Dadurch, daß Ivo früher in Gedanken immer zu Haus war, hatte er sich gar nicht in seine neuen Verhältnisse und in das Zusammensein mit den Kameraden eingelebt, das sollte jetzt anders werden.
„Man kann alles, wenn man nur recht will, hat meine Mutter gesagt; das soll mein Wahlspruch sein.“
Ivo und Klemens hatten sich herzlich bewillkommt, die andern Kameraden waren dabei, ein jeder hatte viel zu erzählen. Mittags auf dem Spaziergange blieben Ivo und Klemens wie auf eine geheime Verabredung zurück, und hinter einer blühenden Schlehdornhecke, wo es niemand sah, fielen sie, ohne ein Wort zu reden, sich um den Hals und küßten und herzten sich inniglich. Die Lerchen jubelten hoch in den Lüften, und die Schlehblüten regten sich von einem sanften Winde. Freudeverklärten Antlitzes, ein jeder seinen Arm um den Nacken des andern geschlungen, so kehrten sie wieder auf die Straße zu den vorausgegangenen Kameraden zurück. Ivo sagte nur, aus einer langen innerlichen Rede heraus, laut die Worte: „still und heilig!“ und schaute dabei in das hellleuchtende Auge seines Klemens, sie reichten sich schweigend die Rechte und hielten sie fest, dann schlug Klemens den Ivo und sprang von ihm fort zu den andern. Ivo verstand wohl, daß sie ihren geheimen Liebesbund ja recht sicher vor den andern verbergen sollten. Sie gingen dann mit den andern, aber bald faßten sie sich wieder und schlugen sich neckend, nun suchte der eine dem andern zu entrinnen, dieser ihn wieder einzuholen, so waren sie abermals eine Weile allein, und in scheinbarem Ringen drückten sie einander innig ans Herz und „lieber Ivo“, „lieber Klemens“ hieß es immer.
So erfinderisch war schon diese junge, plötzlich wie eine Knospe aufgebrochene Freundschaft.
In den Herzen der beiden Knaben war von nun an ein neues, wonneseliges Leben. Ivo hatte noch nie einen „Herzbruder“ aus seinem Alter gehabt, Klemens hatte sich bei den vielen Wanderungen seiner Familie nur an seine ältere Schwester angeschlossen.
Jetzt, wenn Ivo erwachte, schaute er freudig um sich und sagte: „Guten Morgen, Klemens,“ obgleich dieser in einem andern Zimmer lag. Er war in der Fremde nicht mehr fremd, das Kloster war kein Ort des Zwanges und des unerbittlichen Gesetzes mehr, er that alles willig, denn sein Klemens war ja bei ihm. Nun brauchte er sich nicht mehr vorzunehmen, fröhliche Briefe nach Hause zu schreiben, sein ganzes Leben war nur noch ein hochgestimmter Freudenklang, und die Mutter Christine schüttelte oft den Kopf, wenn sie seine hohen Redensarten las. Klemens, der zu Hause eine große Menge Ritterbücher und Märchen gelesen hatte, eröffnete unserm Freunde einen ganzen Zaubergarten voll Wunder; er machte sich und Ivo zu zwei verwünschten Prinzen, den Direktor zu dem Riesen Goggolo, und eine Zeitlang redeten sich die beiden Freunde immer in den gegebenen Rollen an.
Die Welt der Wunder und der Märchen, die das Rätsel des Daseins durch neue, selbstgeschaffene Abenteuerlichkeiten zu überbieten und so gewissermaßen die alltägliche Welt zu erklären strebt, der ganze selbstvergessene Taumel einer kindlich spielenden Phantasie, war Ivo bisher fern geblieben; das, was ihm Nazi erzählt hatte, lehnte sich noch zu sehr an das rohe Feld- und Waldleben, wußte nichts von unterirdischen Schlössern aus lauter Gold und Edelsteinen; die Wundergeschichten der Religion hatte Ivo mit kindlich gläubigem Gemüte hingenommen, sie waren schlicht und ernst: – nun aber eröffnete ihm sein Freund die goldenen Thore der Phantasie, und sie lustwandelten behaglich in den Zaubergärten und in den Palästen unter dem Meere.
Die Schlehdornhecke ward von unsern Freunden als der heilige Freundschaftsbaum betrachtet, nie gingen sie vorüber, ohne einander anzusehen und dann nach der Hecke zu schauen. Ivo, den wir schon als bibelfest kennen, sagte einmal: „Uns ist es grad gegangen wie dem Moses, dem ist Jehovah im Dornbusch erschienen, der hat gebrannt: und ist doch nicht verbrannt. Jehovah, weißt du auch noch, was Jehovah heißt – Ich bin, der ich sein werde, das ist das Futurum von Hava. Gelt! auch im Futurum werden wir Freunde sein, wie wir sind?“
„Ich will dir einmal was erzählen,“ erwiderte Klemens. „Es ist einmal eine Prinzessin auf einer Insel gewesen, die hat aber nicht, wie die alt’ Bas in der Bibel, Lea geheißen, sondern Schleha, die hat auch keine roten Augen gehabt wie jene, sondern ganz schöne dunkel dunkelblaue; die hat aber gar keinen Dorn leiden können, das kleinst’ Dörnle war ihr ein Dorn im Auge, und wenn sie eins gesehen hat, da hat sie gleich gottsjämmerlich geschrieen: ›O weh, das sticht mich, ich spür’s schon in meinen schönen dunkel dunkelblauen Augen‹; und da hat man auf der ganzen Insel alles, was Dornen gehabt hat, plutt abschneiden und bis aufs kleinste Würzele ‘naus ausgraben müssen, und wie die Prinzessin gestorben ist, da hat man sie begraben, und zur Straf’, weil sie hat keine Dornen leiden können, sind aus ihren zwei Augen ‘raus zwei Dornhecken gewachsen, die tragen aber auch ganz schöne dunkel dunkelblaue Augen, wie die Prinzessin gehabt hat, und man heißt’s auch Schlehe.“
So beendigte Klemens mit triumphierendem Lächeln seine Erzählung.
Ivo betrachtete ihn mit heiterer Miene. Ach, es war gar zu schön, was Klemens erzählte. Wie eine glänzende Perlschnur reihten sich seine lieben Worte aneinander; alles, was doch der Clemens that und sagte, war so schön, wie sonst gar nichts auf der weiten Welt.
Auf Veranlassung Ivos hatten sich’s die Freunde gelobt, recht große Männer zu werden, und sie eiferten sich nun gegenseitig zu dem ausdauerndsten Fleiße an. Alles wurde ihnen leicht, da ein jedes dem andern zu lieb handelte. Ivo ward sogar von dieser Zeit an über ein Jahr lang Primus, mit Klemens aber ging oft seine Phantasie durch. Alles, was er sah, regte ihn an, er vergaß dann das nächste; von den Lehrern gefragt, erwachte er oft wie aus einem Traume und gab zerstreute Antworten.
Der geheime Bund konnte indes den andern Mitschülern nicht lange verborgen bleiben; denn wie Liebende sich oft lange für unbemerkt halten, während sie sich die offenkundigsten Zeichen der Zuneigung gehen, so erging es auch unsern Freunden. Die hohe Stellung Ivos machte, daß die hieraus entstehenden Spöttereien und Neckereien nicht lange dauerten, ja es drängten sich alsbald noch mehrere in den Freundschaftsbund; aber die Pforten waren streng geschlossen, besonders Klemens wachte sorgsam, und die Fremden zogen sich bald zurück. Nur als Bartel sich mit großer Untertänigkeit zu den beiden gesellte und offen um ihre Freundschaft bat, da nahm ihn Ivo auf. Er durfte sich nun auf den Spaziergängen zu ihnen halten, auch in Hof und Garten bei ihnen sein. Der Bartel war, wenn er vollauf gegessen hatte, ein gar eifriger und wißbegieriger Knabe, er that gern alles, um nur auch recht geschickt zu werden und auch obenan zu sitzen; so lieb er daher Ivo und Klemens hatte, so war ihre hohe Stellung doch auch mit ein Grund seiner Annäherung; in das innerste Heiligtum ihrer Freundschaft, das hatte sich Klemens vorausbedungen, wurde jedoch Bartel nicht zugelassen.
Von ihren phantastischen Spielereien gelangten unsre Freunde auf ein andres Gebiet, das sich mehr der Wirklichkeit näherte; in dem hohen Schwunge ihres Strebens suchten sie sich nämlich erhabene Vorbilder, Ideale.
Man hatte einst einen größern Spaziergang Blaubeuren zu unternommen; dort, auf einem hohen Berge, auf einem Felsenvorsprung, wo man das liebliche Thal der Blau überschaut und fernher das Ulmer Münster und die Donau erblickt, dort, hatte Klemens angeordnet, sollten sie sich ihren Fund offenbaren.
Auf dem Vorsprunge des Berges saßen nun die drei Knaben und schauten hinaus in die endlose Ferne.
„Wer ist dein Ideal, Ivo?“ fragte Klemens
„Sixtus. Meine gute Mutter, die sagt immer: man kann alles erreichen, wenn man rechtschaffen will, das hat Sixtus auch gezeigt.“
„Du willst also auch Papst werden?“
„Wenn’s geht, warum nicht – Ich will jetzt einmal.“
„Und ich,“ sagte Klemens, „ich habe mir einen viel Unheiligern gewählt, mein Ideal ist Alexander der Große.“ Er erklärte nicht, inwiefern er ihm nacheifern wolle, denn Bartel fragte in weinerlichem Tone:
„Wen soll ich mir denn zum Ideal nehmen?“
„Frag den Direktor,“ erwiderte Klemens ernsthaft, Ivo Schweigen zuwinkend.
Bartel merkte sich die Rede des Klemens, und als man heimgekehrt war, ging er zum Direktor, klopfte an, und auf das „Herein“ trat er in die Stube und sagte zitternd und stockend:
„Herr Direktor, verzeihen Euer Hochwürden, ich hab’ Sie bitten wollen, ich möcht’ mir gern ein Ideal wählen, ich weiß nicht, wen soll ich mir denn nehmen?“
Der Direktor stand eine Weile still, dann sagte er, den Finger nach oben erhebend: „Gott.“
„Ich dank’ vielmal, Herr Direktor,“ sagte Bartel, sich verbeugend und die Stube verlassend. Er sprang schnell zu seinen Freunden und rief frohlockend: „Ich hab’ eins, ich hab’ jetzt auch ein Ideal.“
„Wen denn?“
„Gott,“ sagte Bartel, ebenfalls den Finger nach oben erhebend.
„Wer hat dir denn das verraten?“ fragte Klemens neckisch und zupfte dabei den Ivo.
„Der Direktor.“
Ivo kehrte sich aber nicht an die stille Ermahnung seines Freundes, sondern setzte dem Bartel auseinander, wie man sich nur figürlich Gott zum Ideal nehmen könne, da man ja nie allmächtig oder allwissend werde; freilich bleibe Gott das höchste Endziel, aber dazwischen seien die Heiligen da, die stünden uns näher, bei denen könnten wir leichter mit unserm Gebet ankommen, und wenn’s geht, könnten wir auch werden wie sie.
„Heiliger Ivo, ich will nichts von dir,“ sagte Klemens und ging zornig davon; ihn ärgerte, daß Ivo jeden Spaß verdarb, und er redete den ganzen Abend und den andern Morgen kein Wort mit ihm.
Auch sonst war der Bartel vielfach Veranlassung zu Zerwürfnissen zwischen den Freunden. Klemens hatte sich in den Kopf gesetzt, die ganze volle Freundschaft seines Ivo sei ihm durch den Eindringling geschmälert. Er nahm nun allerlei Gelegenheiten wahr, um seiner Eifersucht Nahrung zu geben. Einst sprach er deshalb mit Ivo acht Tage lang kein Wort, nur seine Blicke verfolgten ihn überall, wie mit einer wahnsinnigen Leidenschaft; am letzten Abende warf er Ivo ein Zettelchen auf sein Buch, worauf die Worte standen: „Heute nacht, Schlag zwölf Uhr, kommst du auf den Kirchturm, oder wir sind auf ewig geschieden.“
Von den grausamsten Qualen gemartert, wälzte sich Ivo auf dem Lager, er fürchtete, die Frist zu verschlafen, und zählte jede langsame Viertelstunde. Als der erste Schlag von Zwölf ertönte, huschte er aus seinem Zimmer; aus dem andern, worin Klemens war, kam dieser ebenfalls. Schweigend gingen sie miteinander den Turm hinan, der letzte Ton hatte ausgeklungen, da begann Klemens:
„Gib mir deine Hand darauf, daß du von dem Bartel ganz lassen willst, wo nicht, so stürz’ ich mich da grad hinab.“
Ivo stand schaudernd und faßte die Hand seines Freundes.
„Kein Wort! Ja oder Nein!“ knirschte Klemens.
„Nun ja, ja! Der arme Kerl dauert mich, aber du bist ganz verwildert in den acht Tagen.“
Klemens umarmte und küßte Ivo, dann stieg er schweigend die Treppe hinab und verschwand in seinem Zimmer.
Andern Tages war Klemens wie zuvor, heiter und innig. Ivo durfte beim Tageslicht nie von jenem nächtlichen Begebnis sprechen, der Bartel tröstete sich auch bald über seine Verabschiedung.
Während der unruhige Geist des Klemens in allerlei Seltsamkeiten abenteuerte, fühlte Ivo eine andre Unruhe. Das Wachstum seinem Körpers war fast noch rascher vorgeschritten als das seines Geistes, er war lang und breitschulterig; aber wenn er so an dem Pulte vor den Büchern saß, da raste alles Blut wild in ihm, und er stand oft auf, sich gewaltsam bäumend und reckend. Er hätte gern irgend eine gewaltige Last frei in die Höhe gehoben, aber es bot sich ihm nichts als eine schwere Periode irgend eines klassischen Autors. An dem Turnen, das nur sehr mangelhaft betrieben wurde, hatte Ivo keine rechte Freude; er wollte etwas thun, eine wirkliche Arbeit vollbringen. Wenn er dann mit seinem Freunde draußen spazieren ging, klagte er oft, daß er nicht pflügen und nicht schneiden dürfe. Er war von Kindheit auf an Körperthätigkeit gewöhnt, später hatte der Gang nach der lateinischen Schule die Bewegung in der Arbeit ersetzt; nun aber war es ihm wie einem Riesen, dem man statt der Keule eine Nähnadel in die Hand gegeben.
Einst sagte er zu Klemens: „Guck, das ist mir so arg, daß ich mit der Bibel nicht recht einig bin; da ist die höchste Straf’ für die Erbsünd’: ›daß der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein Brot essen soll‹. Daß man recht schaffen muß, das ist ja grad das größte Vergnügen.“
„O du!“ erwiderte Clemens, „was geht dich das Alte Testament an? das ist für die Juden, und für die paßt’s, denen ist Schaffen das ärgste Kreuz.“
Es ist wunderbar, wie Klemens diesen bekannten Kniff der Theologen, wenn sie sich mit dem Alten Testament nicht mehr helfen können, aus sich selber fand. Klemens blieb aber nicht bei derlei Erörterungen, er vertraute vielmehr auch seinerseits seinem Freunde, wie es ihn dränge, mit Gefahren zu kämpfen, fremde Länder und Gebiete zu durchstreifen. Die beiden Freunde redeten sogar viel von einer Flucht aus dem Kloster. Sie malten sich’s gar schön aus, wie sie auf einer unbewohnten Insel ankämen, wo sie mit den wilden Tieren kämpften und den Boden zum erstenmal umpflügten. Es blieh indes bei dieser Gedankenflucht; die Gesetze des Klosters und die Familienbande hielten sie in der Heimat fest.
Die Innigkeit der beiden Freunde nahm fast mit jedem Tage zu, und so verschieden auch ihre Charaktere waren, sie fanden sich doch einig in der Liebe.
Ivo ließ es ohne Trübsal geschehen, daß er seinen ersten Platz verlor und sogar so weit hinunterrückte, daß der Bartel über ihn kam; diese äußerliche Hintansetzung freute ihn fast, sie bekundete seine Unlust an dem Studium. Das Bewußtsein, daß er mehr war, als es schien, that ihm wohl, es gab ihm eine gewisse Selbständigkeit, eine gewisse Abgeschlossenheit der Außenwelt gegenüber. Mit den untersten Dienern des Klosters, mit den Holzhackern, schloß Ivo einen geheimen Bund. Mit einem Eifer, als gälte es, die ganze Erdkugel zu zerspalten, führte er im geheimen die Axt, bis endlich ein Professor diese Ausschweifungen gewahr wurde und Ivo dafür im Karzer büßen mußte.
So war Ivo von dem ersten und fleißigsten der Schüler zu einem der letzten und widerspenstigsten herabgesunken.
Wenn die Vakanz kam, trennten sich die beiden Freunde mit fieberhafter Wehmut; sie trösteten sich mit dem Wiedersehen und wünschten doch, nie mehr in das Kloster zurückzukehren. Auf dem Wege erschien dann Ivo die Welt nicht mehr so schön, die Leute nicht mehr so gut; denn die Welt in ihm hatte eine andre Gestalt angenommen.
Zu Hause zog sich Ivo nicht mehr so streng von Konstantin zurück, das Leben in seinem elterlichen Hause erschien ihm nicht mehr so gedrückt; er sah, daß fast kein Mensch auf Erden, für sich allein betrachtet, ganz glücklich ist, daß also eine Gemeinschaft des Lebens, in der Ehe, in der Familie, auch manches Unvollkommene und Unglückliche haben muß.
Die Welt der Ideale war ihm eingesunken. Nur manchmal erhob er sich noch in innigem Gebete über alle Mißlichkeiten und Herbheiten des Daseins, aber auch selbst in die himmlischen Heiligtümer verfolgte ihn bisweilen der Gedanke der Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit. Er war sehr unglücklich. Die Leute hielten sein verstörtes Aussehen für eine Folge des Studiums. Es schnitt ihm tief durch die Seele, wenn ihn seine Mutter bat, sich nicht so übermäßig beim Studieren anzustrengen; er konnte der guten Frau nicht klar machen, was ihn bedrückte; war es ja ihm selber nicht klar.
So, in der Fülle der Lebenskraft stehend, fühlte er sich doch lebensmatt und kampfesmüde; er hatte das Rätsel des Daseins noch nicht überwunden und glaubte, daß nur der Tod es löse.
In der vorletzten Vakanz, vor dem Abgange nach Tübingen, erfuhr Ivo einen herben Verlust; er traf seinen Nazi nicht mehr im Hause. Das Gretle hatte sich mit Xaver verheiratet, der Widerspruch des Vaters war endlich besiegt worden, und sie war mit nach Amerika gezogen; jetzt fehlte es an weiblicher Hilfe im Hause, die Söhne Valentins konnten das Feldgeschäft schon allein besorgen, und so wurde der Nazi verabschiedet; er war fortgegangen, ohne zu sagen, wohin. Der Taubenschlag war leer, und die Tiere im Stalle schienen mit Ivo um den fernen Freund zu trauern.
Freilich war Emmerenz dafür als Magd ins Haus gekommen. Sie war ein starkes, munteres Mädchen geworden, etwas kurz und untersetzt, so was man „mockig“ nennt, man konnte sie wohl zu den Hübscheren im Dorfe zählen; aber Ivo widmete ihr längst keine Aufmerksamkeit mehr, die Liebe zu seinem Klemens hatte sein ganzes Herz erfüllt. Es waren Vakanzen vorübergegangen, in denen er Emmerenz nicht einmal angesprochen. Jetzt betrachtete er sie bisweilen verstohlen, schnell aber wendete er dann, wenn er dessen inne wurde, den Blick. Nur einmal, als er sie im Stalle so freundlich walten sah, sagte er: „Das ist brav, Emmerenz, daß du das Vieh gut versorgst; gib nur auf den Falb und die Algäuerin recht acht.“
„Ich weiß wohl,“ erwiderte die Angeredete, „das sind deine alten Lieblinge; guck, das gefällt mir jetzt, daß du sie so gern hast,“ und gleichsam um einen alten Klang aus seiner Kindheit in ihm zu wecken, sang sie, während sie der Algäuerin Futter aufsteckte:
Da droben auf’m Bergle,
Da steht e weißer Schimmel,
Und die brave Büeble
Kommet alle in Himmel.
Und die brave Büeble
Kommet et allein drein,
Und die brave Mädle
Müsset au dabei sein.
Ivo ging still davon, hinaus in das Veigelesthäle, wo er einst einen ganzen Tag mit dem Nazi „gezackert“ hatte; er meinte fast, er müsse hier eine Kunde von ihm finden. Er beneidete seine Brüder, die hier arbeiteten, die am elterlichen Tische mit den Ihrigen Freud’ und Leid teilten, die niemand als ihren natürlichen Obern zu gehorsamen hatten.
Mit erneuter Innigkeit schloß sich Ivo nach der Rückkehr ins Kloster an seinen Klemens an; er mußte ihm jetzt auch den verlorenen Nazi ersetzen.
Der letzte Sommer, der nun in Ehingen zu verleben war, bracht auch mannigfache Abwechselung. Klemens war aus einer großenteils protestantischen Stadt; er kannte daher mehrere von den Klösterlingen in Blaubeuren, die etwas mehr Freiheit hatten; sie kamen nun bisweilen nach Ehingen, gingen zum Direktor; einer sagte, daß er ein Landsmann von Klemens, der andre, daß er desgleichen von Ivo sei, und so andre von andern. Die Landsleute erhielten nun einen Mittag frei, und im nahen Dorfe, unter fröhlichen Liedern, das volle Glas in der Hand, trank Ivo manchen Schmollis mit den protestantischen Klösterlingen. Sie waren beiderseits nicht frei, wenn auch die Blaubeurer einzelne Freiheiten mehr hatten.
Die Studentenzeit stand wie ein lichtglänzender, von Süßigkeiten behangener Weihnachtsbaum vor der Seele aller dieser Jünglinge, und sie rüttelten gewaltsam an den Pforten vor der künftigen Bescherung; sie genossen im voraus die Freude des Burschenlebens, die ihnen doch nicht vollauf werden sollte.
So kam endlich der Herbst. Am Abend vor dem Abschiede gingen Ivo und Klemens nach der Freundschaftshecke, ein jeder brach sich einen Zweig und steckte ihn auf die Mütze, dann reichten sie sich die Hände und schwuren sich nochmals ewige Freundschaft. Ivo versprach noch, seinen Klemens während der Vakanz in Crailsheim zu besuchen.
Das Verlassen eines Ortes, so wenig glücklich man auch in demselben gelebt hat, erregt doch stets eine Wehmut; das Vergangene wird zu einer abgeworfenen Hülle, man kehrt nie mehr als derselbe zu ihr zurück: diese Häuser, diese Gärten und Straßen sind die Geburtsstätten eines ganzen Schicksals. Hier hatten sich die Freunde gefunden, hier hatte sich ihr Geist zu ungeahnter Höhe entfaltet, und mit tiefem Schmerze trennten sich die Freunde von dem Kloster und der Stadt. Sie gelobten, einst, in altersgrauen Tagen, wieder miteinander dahin zu wallfahrten, um die stillen Spielplätze ihrer jugendlichen Gedanken als Männer aufzusuchen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1